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09.12.2014 | Industrie 4.0 | Schwerpunkt | Online-Artikel

Aktuelle Trends in der industriellen Produktion

5:30 Min. Lesedauer

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Viele sehen in der Industrie 4.0 den Beginn einer neuen Technologie, die eine vierte industrielle Revolution auslösen kann. Aber: Was ist eigentlich das Neue, fragt Springer-Autor Engelbert Westkämper.

Die aktuelle Diskussion über die Thematik Industrie 4.0, die durch das BMBF, Acatec und viele Fachleute aus der Wirtschaft und Forschung beflügelt wird, ist noch eine Scheindiskussion über einen prognostizierten Paradigmenwechsel mit strukturverändernder Wirkung. Tatsache ist längst, dass es nahezu keinen Arbeitsplatz in der verarbeitenden Industrie gibt, der nicht unmittelbar mit Rechnerunterstützung betrieben wird. Ferner sind die Arbeitsplätze in den Unternehmen durchweg über interne Netzwerke verknüpft. Das Internet mit seinen vielfältigen Möglichkeiten ist für viele zur Selbstverständlichkeit geworden. Die Ängste um einen Missbrauch und um den Schutz persönlicher Bereiche oder dem Schutz vor Ausspähung schützenswerten Know-hows der Unternehmen sind in der Gesellschaft und in der Wirtschaft weit verbreitet. Was also soll eine industrielle Revolution herbeiführen?

Zunächst einmal erleben wir eine permanente, technische Leistungssteigerung der Kommunikationstechniken, die sich auch in der Zukunft fortsetzen wird. Fragt man jedoch nach der Verfügbarkeit von flächendeckender Hochleistungs-Kommunikationstechnik, so stellen wir eine Diskrepanz von möglicher Leistung zu nutzbarer Leistung fest. Hier kann die öffentliche Hand sicher mit Investitionen in die Infrastruktur einen entscheidenden Beitrag für die sogenannten Wettbewerbsvorteile liefern und damit die Effizienz der heutigen Anwendungsbereiche der Informationstechniken fördern. Die Potenziale bekannter IC-Technologien sind bei Weitem nicht ausgeschöpft.

Verknüpfung der virtuellen mit der realen Welt

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Der Grundgedanke des Postulats Industrie 4.0, nämlich einer Verknüpfung von virtueller Welt und realer Welt, ist ein sinnvoller Migrationsweg, der wesentliche Impulse auf die Produktivität der Wirtschaft haben wird. IT-Systeme nutzen Informationen, die nicht unbedingt der Realität entsprechen. Computer verarbeiten Informationen, die generell nicht „wahr“ sein müssen. In den Datenbanken der Unternehmen liegt der Aktualitätsgrad weit außerhalb der von der mit Rechnern in den Prozessen erreichbaren Genauigkeit. Dies erzeugt in den industriellen Prozessen Fehlleistungen und hohe Folgekosten. In einzelnen Untersuchungen konnten wir bei Ressourcendaten und bei Auftragsdaten Abweichungen von bis zu 30 Prozent feststellen. Simulationssysteme weichen durch die Unschärfe der Modelle und der Daten weit von der Realität ab, erzeugen aber ein Bild des Verhaltens von sozio-technischen Systemen, das eine scheinbare Übereinstimmung erzeugt. Vielfach werden Scheinwelten vorgespielt, deren Realität nicht gegeben ist. Hier hat die Forschung noch ein vielfältiges Gebiet mit der Modellierung von Prozessen und Systemen zu beschreiten.

Ein weiterer Aspekt der Industrie 4.0 betrifft die Nutzung von Clouds als Informationsspeicher, um den Anwendern an jedem Ort und zu jedem Zeitpunkt die von ihm im speziellen Anwendungsfall benötigten Informationen bereitzustellen. Dazu ist zunächst einmal festzustellen, dass gespeicherte Informationen einen monetären Wert haben. Die Erzeugung von Informationen kann als ein Produktionsprozess verstanden werden, der Kosten verursacht hat. In den Datenspeichern der Cloud sind also Werte und Kapital gebunden (immaterielle Bestände), deren Dimension im Bereich der Produktionsdaten erheblich ist. Würde ein Unternehmen sämtliche Produkt- und Ressourcendaten mit ihrem Erstellungswert bewerten, so ergäbe sich hieraus die Forderungen nach einer Bestandsreduzierung, nach häufigem Umschlag und kurzen Durchlaufzeiten. Auch wenn wir heute von vergleichsweise niedrigen Verwaltungskosten und ausreichenden Speicherkapazitäten ausgehen, sollten die Bestandskosten für Daten in den Bilanzen transparent sein. Die Euphorie bei der Einrichtung zentraler Datenspeicher würde auf diese Weise durch Rationalität ersetzt. Tendenz: weniger Informationen in zentralen Clouds und höhere Wiederverwendungshäufigkeiten.

Know-how-Sicherung mit dezentralen Clouds

Die Informations- und Visualisierungstechniken erlauben uns heute eine Skalierung der Modelle. Es ist möglich, technische Objekte ganzheitlich abzubilden und bei Bedarf bis in seine elementaren Bereiche zu zoomen. Der Speicherbedarf ist direkt proportional zur Auflösungsgenauigkeit. Für die Techniker und Ingenieure ist ein hoher Detaillierungsgrad notwendig. Mit zunehmender Detaillierung wird allerdings auch das Know-how sichtbar. Allein dies führt zu der Überlegung, dass große, zentrale Clouds wohl keine Perspektive in einer auf Know-how-Sicherung ausgerichteten Industrie haben. Dezentralisierung der Clouds und dezentrale, also arbeitsplatznahe Speichertechniken sind folglich Anforderungen an die IT-Architektur für die verarbeitende Industrie.

Industrie 4.0 soll prinzipiell die Möglichkeit eröffnen, Sensordaten über die Kommunikationssysteme zu transferieren. Zum Zwecke der Maschinen- und Prozessdiagnose ist dies ein wesentlicher Beitrag, um den technischen Service fernab vom Ort des Betriebs auszuführen. Abgesehen von den Sicherheitsproblemen gibt es dennoch technische Grenzen in der Übertragung von Online-Signalen aus Sensoren. Die Prozessdiagnose ist aber eines der Gebiete, welches Hersteller und Kunden verbindet und Wege zur Realisierung einer produktbegleitenden Partnerschaft eröffnet. Das könnte erhebliche Ausweitungen des technischen Supports durch Dienstleistungen bis hin zu einem Remote-Betrieb möglich machen. Im Grunde handelt es sich hier nicht um eine revolutionäre Innovation, sondern um eine permanente Verbesserung der technischen Dienste und Ausweitung der Wertschöpfung seitens der Hersteller. Es steigert die Verfügbarkeit technischer Kompetenzen beim Betreiber und sorgt für nachhaltige Geschäftsbeziehungen.

Industrie 4.0 – keine Revolution, sondern eher Evolution

Ein wesentliches Element der zurzeit diskutierten Ansätze von Industrie 4.0 liegt im Bereich der Software-Services (SaaS). Darunter versteht man eine Technik, die es dem Nutzer erlaubt, die von ihm benötigten IT-Systeme bei Bedarf vom Netz zu beziehen. Diese Technik hat für viele IT Unternehmen große Konsequenzen in Bezug auf die Geschäftsmodelle. Anstelle von Arbeitsplatz und zeitbezogenen Lizenzvereinbarungen treten On-Demand-Modelle oder temporäre Nutzungslizenzen. Ihre strukturelle Bedeutung liegt in der Unterstützung der Flexibilität und kundenspezifischen Konfigurierbarkeit, indem Funktionen vom Netz bezogen werden.

Neuartig für die Organisation der Produktion ist die Möglichkeit der schnellen und bedarfsgerechten Bereitstellung von Informationen aus verschiedensten Quellen. Dies ermöglicht prinzipiell ein ereignisorientiertes Handeln. Dennoch können Reaktionen auf Ereignisse nicht dem Zufall überlassen werden. Eine ereignisorientierte dynamische Organisation, kann die Prozessketten verkürzen und dazu beitragen, gesichertes Wissen bei Handlungsweisen und Operationen einzubeziehen, aber eine derartige Betriebsorganisation würde auch weiterhin tayloristischen Prinzipien folgen: Prozessbeobachtung, Analyse mit wissenschaftlich gesicherten Methoden, Handlungsweisen mit rationellen Elementen, Vorbereiteten der Ausführung. Insgesamt stelle ich fest, dass bisher keine Ansätze erkennbar sind, die einen revolutionären Strukturwandel bewirken, sondern eher eine kontinuierliche Innovation befruchten.

Zur Person

Prof. Dr-Ing. Engelbert Westkämper war bis 2011 Lehrstuhlinhaber und Direktor des Instituts für Industrielle Fertigung und Fabrikbetrieb (IFF) an der Universität Stuttgart und Leiter des Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA), ebenfalls Stuttgart.

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