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16.07.2015 | Marktforschungsmethoden | Interview | Online-Artikel

"Der Fokus muss auf datenbasierter Beratung liegen"

verfasst von: Anja Schüür-Langkau

6 Min. Lesedauer

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Neue Methoden, Datenquellen und eine veränderte Wettbewerbssituation stellen die Marktforschungsbranche vor große Herausforderungen. Die Springer-Autoren Bernhard Keller, Stefan Tuschl und Hans-Werner Klein erläutern im Interview die zukünftigen Erfolgsparameter der Branche.

Springer für Professionals: Die Anforderungen an die Marktforschung hat sich durch die Digitalisierung und der Konkurrenz durch neue Wettbewerber stark verändert. Wie gut ist die etablierte Marktforschungsbranche auf diese veränderten Marktbedingungen vorbereitet?

Bernhard Keller: Das Tätigkeitsfeld "Marktforschung" lebt von und erhält seine Legitimation durch die beständige Anpassung an Einflüsse und Anforderungen aus Nutzerkreisen und Erkenntniszielen. Marktforschung ist nicht statisch. Alles Neue ist schon ein Bestandteil im Prozess des Entstehens, allein, weil es ausprobiert, integriert oder verworfen wird. Ein Beispiel dafür ist das Thema Second Life.

Aus diesem Grund müssen sich Institute wie auch Forscher und Forscherinnen auf das Neue einlassen. Sie müssen es testen, möglicherweise auch Grenzen ziehen und Distanz wahren, weil Ergebnisse unbefriedigend sind oder Methoden sich als ungeeignet herausstellen oder weil ethische Überzeugungen zu diesen Grenzen führen. Sich nicht mit Neuerungen auseinander zu setzen hat den Ausschluss zur Folge – auch aus diesem Grund gibt es Neugründungen und verschwinden altbekannte Institute.

Durch die neuen Möglichkeiten lässt sich heute Marktforschung mit relativ geringen Kosten auch ohne Institute betreiben. Was bedeutet dies für die Qualität und Verlässlichkeit von Ergebnissen?

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Bernhard Keller: Marktforschung konnte schon immer ohne Institute betrieben werden, aber es gibt sie ja gerade, weil sie Zeit-, Wege- und Arbeitskosten einsparen helfen. Der Irrtum "Mafo = geringe Kosten" existiert dort, wo das "Irgendwie", das beliebige Einsammeln von Daten und das nachfolgende Ableiten von Erkenntnissen als Marktforschung bezeichnet wird. Dann ist es logisch, dass die meisten Kinder dort geboren werden, wo die Störche am zahlreichsten Frösche fangen. Und gerade aus diesem Grund zählen dieses Beispiel des ökologischen Fehlschlusses wie auch die berühmte Gallup-Umfrage (siehe Erläuterung am Ende des Interviews) zu den herausragenden Belegen, dass das Sammeln von Daten allein keine verlässlichen Fundamente liefern kann.

Wird der Nachwuchs in den Hochschulen aus Ihrer Sicht ausreichend auf Ihre zukünftigen Arbeitsaufgaben vorbereitet, vor allem hinsichtlich statistischer Kenntnisse? Wo sehen Sie Verbesserungspotenziale?

Stefan Tuschl: Ein fundiertes Grundverständnis von Statistik, die Berechnungsweisen von statistischen Kennzahlen und Einsatzmöglichkeiten quantitativer Methoden ist für einen Marktforscher essentielles Werkzeug und sollte deswegen ein zentrales Element der Hochschulausbildung sein. Allerdings geht es später in der Marktforschungspraxis darum, im Rahmen von Datenanalysen auch Statistik-Software anwenden zu können. Deswegen ist es wichtig, bereits im Studium Statistik-Software kennengelernt und selbst angewendet zu haben.

Der Statistik-Ausbildung fehlt oft die Verzahnung von Theorie und Praxisbezug. Das anwendungsorientierte Lernen muss in den Statistik-Veranstaltungen gestärkt werden. Die Studierenden werden so auf die Anforderungen in der Praxis vorbereitet: Eigenständige empirische Analyseprojekte mit realen Daten sind unabdingbar, um ein Gespür für Zusammenhänge zu entwickeln.

Daten sind heute zu einem wichtigen Rohstoff geworden und werden vielfach durch Maschinen generiert und analysiert. Werden quantitative Marktforscher irgendwann überflüssig sein und muss die Branche gegensteuern?

Hans-Werner Klein: Der Wunsch nach einem magischen Knopf, der bei Bedarf gedrückt ohne spürbare Datenerhebung „richtige“ Antworten gibt, ist ökonomisch nachvollziehbar. Daten, die denen der Marktforschung ähneln, werden immer häufiger durch Web und Sensorik automatisiert generiert. Diese Datenquelle kann interessant sein, wenn Fallgruben der Empirie und Statistik (zum Beispiel ökologischer Fehlschluss, Scheinkorrelationen, mindere Deckung zwischen Zielgruppe und Stichprobe/Sample) beachtet werden. Ob die Daten sinnvoll, nützlich, valide und reliabel sind, können nur erfahrene Experten bewerten. Diese heißen zukünftig „Data Scientists“ und sind in Data/Information-Brokerage-Instituten beheimatet. Muss die Branche gegensteuern? Nein: Sie sollte das Ruder übernehmen und herausstellen, dass genau diese Aufgaben von quantitativen Marktforschern und Instituten gelöst werden.

Welche Relevanz haben neue Methoden wie Gamification, Social Media etc. im Vergleich zu den eher klassischen Methoden?

Stefan Tuschl: Jede Methode hat ihre Legitimation und Relevanz. Als Marktforscher gilt es zu wissen bzw. zu testen, mit welcher Methode das Erkenntnisziel adäquat erreicht wird bzw. erreicht werden kann. Dafür muss der Forscher und die Forscherin aber auch die Vor-und Nachteile der Methoden und Instrumente kennen – und nicht aufgrund einer Vielzahl holzhackender Waldbewohner die Intensität des Winters bestimmen wollen.

Kenntnis kommt über Nutzung und Reflektion zustande und bestimmt jede Art von Vorgehensweise. Gamification dient der Optimierung von Befragungsprozessen durch Motivation der Probanden, als Methode wie oben dargestellt einsetzbar. Social Media dagegen ist ein elementarer Darstellungs- und Feedbackraum, der für eine Vielzahl von Forschungsintensionen genutzt werden kann und aus dem privaten wie öffentlichen Existieren von Menschen und Organisationen unserer Welt nicht ausgeschlossen werden kann.

Welche Themen werden aus Ihrer Sicht die Marktforschung in den kommenden Jahren beschäftigen?

Hans-Werner Klein: Die Themen haben sich nicht verändert: Methoden und Datenquellen müssen kontinuierlich und an den Kundenbedürfnissen orientiert weiterentwickelt werden. In der heutigen, von Wissenslust geprägten Kommunikation ist es wichtig, dass Marktforscher sich stärker als "Wissende, Data Scientists und Entertainers" positionieren und an der Evaluation, Entscheidung und Umsetzung von Marktforschungsprojekten beteiligt werden.

Das alles muss in einem seriösen Rahmen unter strenger Beachtung von Verbraucher- und Datenschutz stattfinden. Und dann gibt es noch das überlebenswichtige ökonomische Thema: Marktforschung muss den Fokus weg von einer fatalen (vom Einkauf des Kunden scheinbar getriebenen) Produktorientierung hin zur datenbasierten Beratung lenken! Nicht primär, damit Marktforscher Gewinne erzielen, sondern damit originäre Erkenntnisinteressen der Fachabteilungen wieder erfüllt werden.

Erläuterung zur Gallup-Umfrage: Wie gut eine gute Stichprobe funktioniert wissen wir spätestens seit 1936 durch folgenden Vergleich: "Wer prognostiziert den künftigen Präsidenten besser, der Meinungsforscher George Gallup oder die Zeitschrift Literary Digest?". Literary Digest versandte zehn Millionen Fragebögen an alle seine Leser (es kamen etwa 2,4 Millionen zurück) in der Annahme, diese würden die Wähler in USA repräsentieren. (= BigData, aber kein Statistikwissen). Gallup befragte 1.500 US-Amerikaner nach einem heute noch verwendeten Stichprobenverfahren (= Rightsized Data, aber sehr gutes Statistikwissen). Ergebnis: Gallup sagte das Ergebnis (Roosevelt wird Präsident)  sehr genau voraus, Literary Digest lag 19 Prozentpunkte daneben und prognostizierte den unterlegenen Kandidaten Landon als neuen Präsidenten. 

Zu den Personen
Bernhard Keller ist passionierter Markt- und Vertriebsforscher. Hans-Werner Klein, versteht sich als Wissensvermittler zwischen Menschen und Daten und ist CIO bei Twenty54Labs. Prof. Dr. Stefan Tuschl ist Professor für Quantitative Methoden an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) Hamburg. In Ihrem Buch "Zukunft der Marktforschung" zeigen Experten aus Marktforschungsinstituten, Marketing- und Kommunikationsagenturen, Wissenschaftseinrichtungen und der Unternehmenspraxis, was die Marktforschungsbranche künftig beachten muss, um weiterhin erfolgreich zu sein.
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