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30.11.2015 | Umwelt | Interview | Online-Artikel

Ist nachhaltige Chemie eine Vision?

verfasst von: Günter Knackfuß

6 Min. Lesedauer

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Ziel des Umweltbundesamtes ist es, negative Wirkungen der chemischen Industrie auf Mensch und Umwelt vermeiden zu helfen. Wir sprachen mit Jutta Klasen über Kriterien und Leitlinien für die nachhaltige Anwendung von Chemikalien.

Springer für Professionals: Wie würden sie den Begriff "Nachhaltige Chemie" definieren?

Jutta Klasen: Die OECD hat gemeinsam mit dem Umweltbundesamt bereits 2004 generelle Kriterien für eine Nachhaltige Chemie erarbeitet. Diese Kriterien sind auch in die Definition der OECD eingeflossen, die eine gute Ausgangsbasis zu diesem Thema darstellt. Das Umweltbundesamt sieht das Themenfeld allerdings breiter aufgestellt und vertritt einen Anspruch, der stärker alle Aspekte einer "guten" Chemie berücksichtigt. Das Gesamt-Konzept einer Nachhaltigen Chemie erkennt die begrenzte Belastbarkeit von Mensch und Umwelt an und akzeptiert die Anforderungen an eine langfristig zukunftsfähige Entwicklung. Sie ist in der Gesellschaft insgesamt verankert, also in Industrie und Handel genauso wie bei den Verbrauchern und stärkt Arbeitssicherheit, Umwelt- und Verbraucherschutz. Mit neuen Ideen und Technologien schafft sie langlebige Produkte und attraktive Dienstleistungen für den zivilgesellschaftlichen Bedarf. Damit ist sie betriebs- und volkswirtschaftlich dauerhaft rentabel. Nachhaltige Chemie setzt verstärkt Stoffe und Verfahren ein, die geringstmögliche schädliche Wirkungen haben. Sie verringert die Belastungen von Mensch und Umwelt durch gefährliche Stoffe und schont natürliche Ressourcen.

Das UBA hat dafür praxistaugliche Kriterien erarbeitet – welche sind das?

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Nachhaltigkeitskriterien spiegeln sich in verschiedenen Themenbereichen und Strategien wieder, die das Umweltbundesamt zusammen mit nationalen und internationalen Partnern in Projekten entwickelt hat. Der Leitfaden "Nachhaltige Chemikalien" zum Beispiel gibt den Herstellern von Stoffen und Produkten als auch den Endanwendern Bewertungskriterien für die Auswahl von Chemikalien an die Hand. Der Leitfaden fragt Kriterien wie Gefährlichkeit für die Umwelt und für die Gesundheit des Menschen, Mobilität des Stoffes, Treibhauspotential, oder im Bereich Ressourcenverbrauch die Unterkriterien Herkunft und Erneuerbarkeit des Rohstoffes, Energieaufwand, Abfallaufkommen und Wasserverbrauch ab. Der Anwender des Leitfadens bewertet diese Kriterien anhand von Indikatoren und Vergleichswerten.

Ein anderes Beispiel sind Nachhaltigkeitskriterien, die das UBA zusammen mit der UNIDO speziell für das innovative Geschäftsmodell Chemikalienleasing erarbeitet hat. Chemikalienleasing ist national und international in einer Reihe von Branchen und Anwendungen wie der Schleifmittelindustrie oder bei der Reinigung bzw. Entfettung in der Oberflächenbeschichtung oder der Metallbearbeitung etabliert. 

Welche Resonanz erhalten sie zum "Leitfaden Nachhaltige Chemikalien" aus der Wirtschaft?"

Fallstudien mit Unternehmen haben dazu geführt, dass mit dem Leitfaden besonders besorgniserregende Farbstoffe und Lösemittel, die auch auf der REACH-Kandidatenliste geführt werden, durch ungefährlichere und nachhaltigere ersetzt werden konnten. Bei Fertigungsprozessen in der Metallverarbeitung ist der Behandlungsschritt mit CKW-Lösemitteln ein etablierter Bestandteil. Hier konnte der Anwender problematische Chemikalien, die er normalerweise zu Reinigungsschritten im Prozess einsetzt, durch Umstellung auf ein CKW- und Aromaten freies Verfahren mit einem kokosbasierten Pflanzenölester substituieren. Die Praxisbeispiele zeigen, dass Unternehmen Chemikalien unter anspruchsvollen Nachhaltigkeitskriterien auswählen und einsetzen können. Mit dem Leitfaden "Nachhaltige Chemikalien" ist somit ein Instrument für Unternehmen geschaffen, um Stoffe schrittweise zu bewerten und nicht nachhaltige von nachhaltigen Chemikalien zu unterscheiden. Derzeit entwickelt das UBA zusammen mit seinen Partnern den Leitfaden zu einem elektronischen Instrument weiter, mit dem die Anwender zukünftig auch Chemikaliengemische bewerten können. Im Zuge dieser Weiterentwicklung haben wir, neben konstruktiven Vorschlägen zur Verbesserung insgesamt, viele positive Rückmeldungen bekommen. Diese betreffen beispielsweise die übersichtliche Zahl der Kriterien, die von den Unternehmen als hilfreich angesehen werden, um das Thema "Nachhaltigkeit" konkret zu fassen, die Möglichkeit zum schnellen Portfolio-Screening, die im Leitfaden angebotenen Quantifizierungshilfen sowie die Ergebnisdarstellung.

Gibt es inzwischen Beispiele für nachhaltige Chemie?

Neben den bereits erwähnten Beispielen aus dem Bereich Chemikalienleasing gibt es durchaus eine breite gelebte Praxis in der nachhaltigen Chemie. Das Umweltbundsamt kann jedoch nicht alle Produkte und Strategien auf ihre Nachhaltigkeit hin prüfen. Zum einen fehlt hierfür ein wissenschaftlich erarbeitetes Indikatorenset – da sind wir dran. Zum anderen sind meist schlicht nicht alle Daten verfügbar, um die vielfältigen Aspekte der nachhaltigen Chemie abzuprüfen. Ein Aspekt der Nachhaltigkeit, der dem UBA sehr wichtig ist, adressiert die Substitution von gefährlichen Chemikalien. Die chemische Industrie kann die Substitution von per- und polyfluorierten Chemikalien auf europäischer und internationaler Ebene gezielt fördern, wenn die Unternehmen in halogenfreie Substanzen investieren. Eine nachhaltige Innovation ist beispielsweise das Hartverchromen mit den weniger umweltschädlichen Alkylsulfonaten. Dies sind halogenfreie PFOS-Substitute, die die von den Kunden geforderten technischen Spezifikationen einhalten. Nachhaltige Chemie wird in Europa auch im Textilbereich entlang der Lieferkette praktiziert. Aspekte einer Nachhaltigen Chemie finden sich ebenso in erfolgreichen innovativen Geschäftsideen. Einer der weltgrößten Bioplastik/Biopolymer-Hersteller nutzt derzeit als Ausgangsrohstoff Stärke; in fünf bis sieben Jahren soll es Lignocellulose, langfristig CO2 und CH4 sein. Er konkurriert damit erfolgreich mit klassischen Produkten wie PS und PET. Ein Hersteller von Baumaterialien aus Hefemycelium nutzt Rohstoffe wie Stroh, Heu und Blätter; ein Mycelium wächst in Formen und das entstehende Material kann z. B. für Isolations- und Verpackungsprodukte verwendet werden.

Das UBA hatte für die OECD zu diesem Thema eine Internet-Plattform eingerichtet. Diese macht einen ziemlich leblosen Eindruck?“

Zunächst einmal bietet die OECD Internet-Plattform "Nachhaltige Chemie" allen Akteurinnen und Akteuren eine Informationsbasis. Diese Plattform weist auf bestimmte Bereiche und Projekte der nachhaltigen Chemie hin, von denen die internationale Zusammenarbeit profitieren kann: z.B. innovative Lösungen aus der praktischen Anwendung, zu Chemikaliensicherheit und Substitution, über erneuerbare Rohstoffe sowie zu Veranstaltungen und Netzwerken.

Das UBA hat der OECD Inhalte zu dieser webbasierten Plattform bereitgestellt, den Zuspruch zu dieser Seite können wir nicht steuern und es fehlen die Möglichkeiten, dieses Format auszubauen. Gleichzeitig rufen wir die Mitgliedsländer der OECD dazu auf, diese Internetseite mit mehr Inhalten zu füllen. Zusätzlich ist hier die OECD gefragt, diesen Prozess über eine stärkere Beteiligung anderer Länder weiter voran zu treiben.

Jetzt unterstützen sie die Einrichtung eines "Internationalen Kooperationszentrums für Nachhaltige Chemie/IKNC". Wie soll das aussehen?

Das International Sustainable Chemistry Collaborative Center (ISC3) soll umwelt- und gesundheitsfreundliche Innovation in die Praxis überführen und in Zusammenarbeit mit Akteuren weltweit neue Konzepte generieren. Mit einem international ausgerichteten Zentrum für Nachhaltige Chemie und einem weltweiten Netzwerk von Wissenschaftlern, Unternehmen, Verbänden und Institutionen sollen Erfolg versprechende Ansätze gebündelt und ggf. Kurskorrekturen eingeleitet werden. Das Zentrum für Nachhaltige Chemie wird eine Plattform für wechselseitige Information darstellen, innovative Projekte identifizieren und Akteure sowie Institutionen mit gleichen Zielen vernetzen. Derzeit erarbeiten Experten die Organisationsstruktur des zukünftigen Zentrums, das Anfang 2017 eröffnen soll. Gleichzeitig diskutieren wir die Inhalte, die das Zentrum nach seiner Eröffnung im Bereich nachhaltiger Chemie und internationalem Chemikalienmanagement verfolgen soll. Ziel ist, auf internationaler Ebene dauerhafte, gemeinsame Aktivitäten für die weitere Entwicklung und Verbreitung der Nachhaltigen Chemie zu schaffen.

Vielen Dank für das Interview.

Das Interview führte Günter Knachfuß, freier Autor, für Springer für Professionals.

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