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2014 | Buch

20 Jahre Wettbewerb im Gesundheitswesen

Theoretische und empirische Analysen zur Ökonomisierung von Medizin und Pflege

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Über dieses Buch

​Während das Wettbewerbsparadigma in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen spätestens nach der Finanzkrise 2009 nicht mehr unhinterfragt als Königsweg politischer Regulierung propagiert wird, scheint es in der Gesundheitspolitik völlig ungebrochen. Dies verwundert umso mehr, als mittlerweile zahlreiche empirische Studien vorliegen, die die problematischen Folgen der Ökonomisierung von Medizin und Pflege belegen. Intention des vorliegenden Bandes ist es, qualitative und quantitative Analysen zur Arbeits- und Lebenswirklichkeit von Beschäftigen und PatientInnen zu bündeln, sie durch Berichte aus der Praxis zu ergänzen und so einen umfassenden Einblick in die Realität des wettbewerbsgesteuerten Gesundheitswesens zu eröffnen.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Einleitung

Frontmatter
Embedded Competition – Oder wie kann man die Auswirkungen wettbewerblicher Regulierung im Gesundheitswesen messen?
Eine methodologische Perspektive
Zusammenfassung
Während das Wettbewerbsparadigma in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen spätestens nach der Finanzkrise 2009 nicht mehr unhinterfragt als Königsweg politischer Regulierung propagiert wird, scheint es in der Gesundheitspolitik völlig ungebrochen. Wettbewerb „soll dem Gesundheitssystem zu mehr Effizienz verhelfen, eine hohe Versorgungsqualität gewährleisten und den Menschen individuelle Entscheidungskompetenzen zubilligen“ (Böckmann 2009, S. 11). Dass Wettbewerb diese positiven Effekte erzielt, ist jedoch keineswegs so sicher, wie es die obigen Zitate nahelegen. Im Gegenteil: Seit Jahren dominieren in den Medien Berichte, die auf die fatalen Konsequenzen der Ökonomisierung im Gesundheitswesen hinweisen.
Alexandra Manzei, Manfred Schnabel, Rudi Schmiede

I Thematische Einführung und gesundheitspolitischer Hintergrund

Frontmatter
Gesundheitsreform in Deutschland
Hintergrund und jüngere Entwicklungen
Zusammenfassung
Das deutsche Gesundheitssystem befindet sich in einem tief greifenden Umbruch, der sowohl seine Versorgungsstrukturen als auch seine Finanzierungsund Regulierungsstrukturen erfasst. Dieser Umbruch ist Ausdruck eines Paradigmenwechsels in der Gesundheitspolitik, der in der ersten Hälfte der 1990er Jahre eingeleitet wurde. In dessen Zentrum steht die Implementierung wettbewerbsorientierter Strukturreformen, die einen regulierten Markt im Gesundheitswesen etablieren und dazu beitragen sollen, die als ineffizient geltenden Strukturen der medizinischen Versorgung zu modernisieren. Sie werden begleitet von einer fortschreitenden Privatisierung von Krankheitskosten.
Thomas Gerlinger
Der Einfluss europäischer Regulierung auf gesundheitspolitische Steuerungsprozesse in Deutschland
Zusammenfassung
Die Entwicklung der nationalen Gesundheitssysteme wird in vielfältiger Weise durch die europäische Integration beeinflusst. Dies bezieht sich sowohl auf Veränderungen der Zuständigkeiten zwischen EU-Institutionen und Mitgliedsstaaten als auch auf die Zunahme von Markt- und Wettbewerbslogiken innerhalb der nationalen Gesundheitssysteme, die mit (gewollten und ungewollten) Anpassungen an den liberalisierten Binnenmarkt einhergehen. In diesem Beitrag werden die Wechselwirkungen zwischen nationaler Gesundheitspolitik und europäischer Integration nachgezeichnet. In Abschnitt 2 wird zunächst das Verhältnis von wirtschaftlicher und sozialpolitischer Integration beschrieben.
Anja Hartmann, Sebastian Becker

II Medizinische und pflegerische Versorgungsqualität unter Wettbewerbsbedingungen

Frontmatter
Auswirkungen der DRGs auf Versorgungsqualität und Arbeitsbedingungen im Krankenhaus
Zusammenfassung
Die ab 1996 zunächst für die Kalkulation und Bezahlung von rund 25 % aller Krankenhausleistungen eingeführten Fallpauschalen und die ab 2003 für sämtliche Leistungen mit Ausnahme der Behandlung psychiatrisch Kranker eingeführten DRGs oder diagnosis related groups sind die größten und tiefgreifendsten Reformen der Finanzierung aber auch Sicht-, Arbeits- oder Handlungsweisen im deutschen Gesundheitswesen. Sie lösten das langjährig dominante System der tagesgleichen Pflegesätze durch die Festlegung diagnoseund prozedurenspezifischer, aber auch vom Einsatz von Ressourcen abhängiger Preise und Liegezeiten-Limitierungen ab.
Bernard Braun
Auswirkungen von Ökonomisierungsprozessen auf die Versorgungsqualität von Arzneimitteln
Zusammenfassung
Arzneimittel gehören, richtig angewendet, zu den wirksamsten Instrumenten ärztlicher Hilfe. Ihr Einsatz reicht von akuten Gesundheitsstörungen über chronische Krankheiten, der Verhinderung und Verzögerung kurzfristiger und ferner Krankheitskomplikationen bis zur rein palliativen Schmerztherapie. Auch die präventive Zielrichtung zur Minderung der Wahrscheinlichkeit schwerwiegender Hypertonie- bzw. atherothrombotisch bedingter irreversibler Endzustände wie Schlaganfall oder Herzinfarkt stellt in den westlichen Gesellschaften versorgungsepidemiologisch eines der umfangreichsten ambulanten Anwendungsfelder für Arzneimittel dar.
Gerd Glaeske
Ökonomisierung in der ambulanten Versorgung
Empirische Befunde aus dem Gesundheitsmonitor
Zusammenfassung
Spätestens seit der Feststellung der WHO, dass das deutsche Gesundheitswesen für viel Geld nur einen mittelmäßigen Output erreicht (WHO 2000), ist die gesundheitspolitische Debatte über die Verbesserung der Kosten-Nutzen-Relation der Gesundheitsversorgung voll entbrannt. Auch wenn Wirtschaftlichkeit und Kosteneffizienz keine neuen Themen in der Gesundheitspolitik sind, hat die Ökonomisierung vieler gesellschaftlicher Teilbereiche mithilfe von Liberalisierung und marktwirtschaftlicher Deregulierung auch das Gesundheitswesen erfasst. Das Steuerungsinstrument des Wettbewerbs soll alle Beteiligten (Krankenkassen, niedergelassene Ärzte, Krankenhäuser, Versicherte und Patienten) dazu bewegen, als ökonomisch-rational handelnde Akteure nur das notwendige Minimum an Gesundheitsleistungen zu bewilligen, zu erbringen oder in Anspruch zu nehmen (Gerlinger und Mosebach 2009).
Melanie Schnee

III Ökonomisierung von Pflege und Betreuung

Frontmatter
Ökonomisierung und soziale Ungleichheit in Organisationen des Gesundheitswesens
Das Beispiel des Pflegedienstes im Krankenhaus
Zusammenfassung
Im Mittelpunkt des Beitrags steht der Stellenabbau im Pflegedienst der Krankenhäuser in den Jahren 1996-2006. Wie die Analyse der Krankenhausstatistik zeigen kann, erfolgte der Stellenabbau in Krankenhäusern in hohem Maße sozial ungleich, da er vor allem untere Einkommens- und Statusgruppen traf und zudem für eine interne Umverteilung von Ressourcen zugunsten des ärztlichen Dienstes und zulasten insbesondere auch des Pflegedienstes genutzt wurde. Die Tatsache des erheblichen Stellenabbaus im Pflegedienst ist bereits in zahlreichen Analysen und Publikationen thematisiert worden und soll darum hier auch nicht den Hauptteil des Beitrages einnehmen.
Michael Simon
Professionalisierung der Pflege im Kontext der Ökonomisierung
Zusammenfassung
Das bundesdeutsche Gesundheitssystem ist seit Ende der 1970er Jahre geprägt von der Durchsetzung marktwirtschaftlicher Prinzipien mit der Folge von Kostensteigerungen, Rationalisierungs- und Rationierungseffekten. Dabei verschlechtert sich die pflegerische Versorgung der Bevölkerung zusehends und wird gemäß der aktuellen Prognosen für die Zukunft immer dramatischer eingeschätzt. Dessen ungeachtet wird der andauernde Personalabbau von qualifizierten Pflegekräften in der Versorgung und die sich ausweitende Beschäftigung gering qualifizierter Kräfte, stationär, ambulant und in Pflegeheimen, weiter betrieben (Slotala 2011, S. 48ff.).
Eva-Maria Krampe
Modernisierung und Widerborstigkeit
Strategien der Pflegenden im Umgang mit wirtschaftlichen Vorgaben in der ambulanten Versorgung
Zusammenfassung
An Vorausberechnungen und Prognosen zur zukünftigen Entwicklung des Pflegebedarfs in Deutschland mangelt es sicherlich nicht. Sie alle untermauern öffentlichkeitswirksam die Notwendigkeit eines weitergehenden Ausbaus von pflegerischen Langzeitversorgungsstrukturen einschließlich der Bereitstellung einer ausreichenden Zahl an Fachkräften zur Betreuung von pflegebedürftigen Menschen in häuslichen und stationären Settings. Dass dies vor allem etwas mit einer immer älter werdenden Bevölkerung zu tun hat, gleicht inzwischen einem Allgemeinplatz. Weitaus umkämpfter sind dagegen Finanzierungs- und Gestaltungsfragen.
Lukas Slotala

IV Ökonomisierung und Organisation

Frontmatter
Über die neue Unmittelbarkeit des Marktes im Gesundheitswesen
Wie durch die Digitalisierung der Patientenakte ökonomische Entscheidungskriterien an das Patientenbett gelangen
Zusammenfassung
Wenn im Folgenden von Ökonomisierung die Rede ist, dann ist jener fundamentale Wechsel in der Gesundheitsreformpolitik gemeint, der Anfang der 1990er Jahre eingeleitet wurde. Beginnend mit dem Gesundheitsstrukturgesetz (GSG), das am 1.1.1993 in Kraft trat, wurden seither in verschiedenen Reformstufen marktwirtschaftliche Regulierungsmechanismen im Gesundheitswesen etabliert (vgl. Gerlinger in diesem Band). Ziel dieser wettbewerbsorientierten Strukturreform war es zum einen, die als ineffizient geltenden Strukturen der medizinischen Versorgung zu modernisieren und die Kosten der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) zu senken bzw.
Alexandra Manzei
Stress im System
Oder wie verändern sich die Handlungsorientierungen von Krankenhausärzten unter den neuen organisatorischen und ökonomischen Rahmenbedingungen?
Zusammenfassung
Die bundesdeutschen Krankenhäuser erfahren zurzeit einen tiefgreifenden Wandlungsprozess. Mit den im Januar 2003 eingeführten Diagnosis Related Groups (DRGs) ändert sich die Form der Leistungsabrechnung für Krankenhäuser grundlegend: Nicht mehr die Liegezeit, sondern die Fallpauschale wird zum primären Finanzierungsmodus. Zum anderen finden – oftmals verbunden mit der Privatisierung der Häuser – Konzepte moderner Unternehmensführung (EDV gestütztes ‚Controlling‘, ‚Outsourcing‘ und Zentralisierung von wichtigen Betriebsfunktionen) Eingang in den Krankenhausalltag.
Werner Vogd

V Berichte aus der ärztlichen Praxis

Frontmatter
IGeL und WANZ: Wie die Ökonomisierung in der Medizin die ambulante Versorgung verändert
Beispiele aus gynäkologischen Praxen
Zusammenfassung
Wir sind sechs niedergelassene Frauenärztinnen und sind seit vielen Jahren in der Fachgruppe der Gynäkologinnen im Arbeitskreis Frauengesundheit in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft (AKF) e.V. tätig, um uns über fachliche und berufspolitische Themen auszutauschen. In den letzten Jahren haben wir in unseren Praxen Veränderungen beobachtet, die unsere alltägliche Arbeit unnötig erschweren. Die Bürokratisierung raubt uns Energie und nimmt uns die Freude an der Arbeit. Die Ökonomisierung in der Medizin wirkt sich nachteilig auf die Beziehungen zu unseren Patientinnen und auf die Versorgung der Patientinnen aus.
Maria J. Beckermann, Anke Kleinemeier, Mechthild Kuhlmann, Angelika Linckh, Claudia Schumann, Eva Waldschütz
Allgemeinärztlicher Praxisalltag heute
Zusammenfassung
Seit 19 Jahren arbeite ich als niedergelassene Ärztin für Allgemeinmedizin in einem Stadtrandbezirk im Süden von Berlin. Zuerst als „Einzelkämpferin“ nach einigen Jahren mit einer Kollegin im Rahmen einer Gemeinschaftspraxis. Heute arbeiten in der Praxis drei Ärztinnen. Pro Quartal betreue ich rund 1100 gesetzlich versicherte Patienten, von denen ich viele mehrmals sehe.
Irmtraud Keller-Janker
Auswirkungen der Ökonomisierung auf die Versorgungsqualität in der Neurologie und Psychiatrie
Zusammenfassung
In der ambulanten Versorgung kommt den Nervenärzten, Neurologen und Psychiatern eine bedeutende Rolle zu, da sie einige der volkswirtschaftlich wichtigsten Erkrankungen behandeln. Zu diesen gehören Depressionen, Alkoholabusus, Schizophrenie, manisch-depressive Erkrankungen, Zwangsstörungen, Demenz, degenerative Erkrankungen des zentralen Nervensystems und cerebrovaskuläre Insuffizienz. Die Fehlzeiten am Arbeitsplatz durch psychische Erkrankungen wie Burn-out, Mobbing-Probleme, Depressionen und Ängsten sowie Alkoholabhängigkeit haben in den letzten 20 Jahren deutlich zugenommen.
Rainer Köchert
Backmatter
Metadaten
Titel
20 Jahre Wettbewerb im Gesundheitswesen
herausgegeben von
Alexandra Manzei
Rudi Schmiede
Copyright-Jahr
2014
Electronic ISBN
978-3-658-02702-5
Print ISBN
978-3-658-02701-8
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-02702-5