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18.11.2021 | Additive Fertigung | Schwerpunkt | Online-Artikel

Woran es dem digitalen Zwilling im 3D-Druck noch fehlt

verfasst von: Thomas Siebel

4:30 Min. Lesedauer

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Noch lassen sich die Materialeigenschaften in der additiven Fertigung nicht präzise steuern. Dennoch könnte der digitale Zwilling hier Realität werden – dank datengetriebener Simulationen und maschinellem Lernen.

Wenn der digitale Zwilling die Basis für die Industrie 4.0 ist, dann ist die additive Fertigung eines ihrer aussichtsreichsten Werkzeuge. Die Fabrik der Zukunft soll schließlich nicht nur vernetzt und automatisiert produzieren, sondern sich auch flexibel auf neue Fertigungsanforderungen anpassen. Über den gesamten Lebenszyklus hinweg bündelt der digitale Zwilling dabei fortwährend aktualisierte Daten eines Produkts oder einer Maschine, und er kommuniziert zugleich mit digitalen Zwillingen anderer Produkte oder Maschinen. Damit steht er an zentraler Stelle der digitalisierten Produktion, in der nicht die Maschinen selbst, sondern ihre virtuellen Repräsentanten vernetzt sind und kommunizieren, wie Jürgen Roßmann und Michael Schluse im Kapitel Experimentierbare Digitale Zwillinge im Lebenszyklus technischer Systeme schreiben.

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Vision: Digitale Zwillinge für die Additive Fertigung

Die Simulation komplexer multi-physikalischer Prozesse wie in der Additiven Fertigung ist mit herkömmlichen numerischen Methoden extrem anspruchsvoll und zeitaufwändig. In der Prozessentwicklung werden daher oftmals nur vereinfachte analytische oder empirische Modelle verwendet.

Parallel dazu setzt die additive Fertigung neue Maßstäbe für die nachfrageorientierte und individualisierte Produktion. Naheliegend ist es deshalb, auch die additive Fertigung in Form von digitalen Zwillingen abzubilden und sie so in die vernetzte und automatisierte Produktion zu integrieren.

Additiver Fertigung fehlen Industrie 4.0-Schnittstellen

Dass dazu allerdings noch nicht alle Voraussetzungen erfüllt sind, schreiben die Autoren und Fraunhofer-ILT-Wissenschaftler um Talu Ünal-Saewe im Beitrag Digitaler Zwilling im Produktlebenszyklus additiv gefertigter Komponenten des Handbuchs Industrie 4.0: Recht, Technik, Gesellschaft: "Heutige AM-Produktionsanlagen verfügen meistens […] noch nicht über die Funktionalitäten, um diese in eine Industrie 4.0-Umgebung zu integrieren." Vor allem fehle es aktuell verfügbaren 3D-Druck-Anlagen an ausreichender Sensorik und Schnittstellen für eine umfassende Prozessanalyse. Um Prozess- und Maschinenparameter der additiven Fertigung optimal auszulegen, sei man heute in der Regel noch auf zeit- und kostenintensive Trial-and-Error-Versuche angewiesen.

Am Beispiel laserbasierter additiver Verfahren bedürfe es neben dem Erfassen von Maschinensteuerungsdaten deswegen vor allem Sensoren, die die Temperaturabstrahlung des Schmelzbads erfassen. Damit ließen sich Unregelmäßigkeiten beim Aufheizen, Schmelzen, und Erstarren des Pulverwerkstoffs aufspüren, was wesentlich für das Prozessverständnis ist. Dennoch bleibt die Entwicklung eines digitalen Zwillings für die additive Fertigung eine Herausforderung.

Transiente Prozesse und zahlreich Parameter als Hürde

Das unterstreichen auch Henning Wessels und Peter Wriggers von der Universität Hannover in ihrem Beitrag Vision: Digitale Zwillinge für die Additive Fertigung im Buch Konstruktion für die Additive Fertigung 2020. Auch die beste Sensorik genügt den Autoren zufolge manchmal nicht, um die notwendigen Daten für einen digitalen Zwilling verlässlich zu generieren, insbesondere wenn mit hohen Geschwindigkeiten und thermischen Gradienten gefertigt werde.

Der eigentlich Knackpunkt sei aber, dass bis heute nicht vollständig verstanden sei, wie Prozess, Struktur und Eigenschaften additiv gefertigter Bauteile interagieren. Das liegt zum einen an der transienten Natur additiver Prozesse und zum anderen an der großen Zahl an Prozess- und Materialparametern, die sich im SLM-Verfahren auf über 130 summieren. Das Verständnis der Interaktionen ist allerdings nötig, um mithilfe eines digitalen Zwillings die Fertigungsparameter präzise auf die gewünschten Bauteileigenschaften einstellen zu können.

Schmelzbad ist schwer steuerbar

Zielsetzung der additiven Fertigung ist es zumeist, Bauteile einer Materialdichte von nahezu 100 % zu fertigen. In der Praxis variiert die tatsächlich erreichte Dichte jedoch, was an gleich mehreren technischen Herausforderungen liegt. Beim Selektiven Laserschmelzen wird beispielsweise die Laserleistung unterschiedlich stark absorbiert, je nachdem ob das Material noch pulverförmig, schon flüssig oder bereits verfestigt ist. Zudem wechseln die einzelnen Legierungsbestandteile bei unterschiedlichen Temperaturen ihre Phase, was die Temperaturentwicklung der Schmelze stört. Eigenspannungen, die unter anderem vom Laserpfad abhängen, Fehlstellen oder die Oberflächenbeschaffenheit der Mikrostruktur wirken sich zudem auf die mechanischen Eigenschaften des Bauteils aus.

Weder numerische Simulationen noch die Messtechnik vermochten das Zusammenspiel von Fertigungsprozess und Bauteileigenschaften bislang vollständig zu klären. Ein Problem besteht darin, Simulationen auf Bauteilebene mit Pulversimulationen zu verknüpfen. Auf Bauteilebene lassen sich zwar Überhitzungen, Eigenspannungen und Verzug simulieren, das Pulver als solches wird aber nicht geometrisch aufgelöst. Auf Pulverebene wiederum kann zwar die transiente Schmelzpooldynamik untersucht werden, bislang allerdings nur für einzelne oder einige wenige Laserspuren. Damit sind Vorhersagen wichtiger Prozesseigenschaften wie der Oberflächenspannung und der Verdampfung des Schmelzflusses oder auch des Wärmeeintrags mit Unsicherheiten behaftet.

Mit datengetriebener Materialmodellierung und Simulation

Dennoch könnten Echtzeitsimulationen in der additiven Fertigung, die sowohl die Schmelzbadgröße, die Ausbildung der Mikrostruktur als auch Eigenspannungen präzise abbilden, mit bereits heute verfügbaren Mitteln realisiert werden. Wessels und Wriggers schlagen dafür die Kombination von Simulation, Messung und maschinellen Lernverfahren im Sinne eines digitalen Zwillings vor. Beispielsweise könnten Thermografiemessdaten aus dem Prozess in Echtzeit in ein Simulationsmodell eingespeist werden. Darauf aufbauend ließen sich zunächst die Interaktion von Prozess, Struktur und Eigenschaft besser verstehen. Im zweiten Schritt könnte mithilfe maschineller Lernverfahren ein Ansatz für die Modellierung der Mikrostruktur entwickeln werden.

Mit einem Modell, das Prozessparameter in Echtzeit mit der Ausbildung der Mikrostruktur verknüpft, könnten die Eigenschaften additiv gefertigter Bauteile gezielt gesteuert werden. Damit wäre die datengetriebene Materialmodellierung und Simulation ein wesentlicher Bestandteil des digitalen Zwillings. Laut Wessels und Wriggers wäre dies ein "Katalysator zur Ausschöpfung des vollen Potenzials additiver Fertigung", mit dem auch funktional gradierte Materialien aus dem 3D-Druck gefertigt werden könnten.

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