Kap. 7 behandelt verschiedene Theorien zur Interpretation naturwissenschaftlicher Begriffsentwicklung, die zu dem in diesem Buch vertretenen Modell einer schichtweisen semantischen Akkretion von Bedeutungsebenen in Konkurrenz stehen. Es beginnt mit einer Darlegung der Theorie des polnischen Mikrobiologen Ludwik Fleck, der Begriffsentwicklung als Ergebnis denkgeschichtlicher Entwicklung deutete. Danach folgt in Abschn. 7.2 eine kurze Revue traditioneller Ansätze zur Beschreibung von Begriffsgeschichte als einer durch die Logik der Begriffe schon vorgezeichneten Begriffsentfaltung (vertreten z. B. von Wolfgang Neuser) oder konkurrierend dazu als einer ständig Begriffs-Varianten und -Abwandlungen spinnenden Metaphorologie (so Werner Kutschmann). Auch Arianna Borrellis Überlegungen zu Interdependenzen von Begriffsentwicklung und materiell-instrumentellen Aspekten werden hier (in Abschn. 7.3) erörtert. In Abschn. 7.4 betrachten wir das Konzept ‚Lichtquanten‘ als eine begriffliche Überlagerung im Sinne des kognitiven Modells von ‚conceptual blending‘ von Gilles Fauconnier und Mark Turner (2002). Analog dazu, wie das Konzept eines schwarzen Loches interpretiert werden kann als die Überlagerung der Alltagsvorstellung eines dunklen Loches, in das Objekte wie z. B. Golfbälle hineinrollen können und dann nicht mehr gesehen werden mit dem mathematischen Konzept einer Raum-Zeit-Singularität, analog dazu können Photonen interpretiert werden als die Überlagerung einer aus dem Newtonschen Projektilmodell des Lichts folgenden Vorstellung einer Teilchenartigkeit mit der aus Entropie und Schwankungsbetrachtungen folgenden Vorstellung einer Quantisierung der Energie jener ,Lichtquanten‘. Die Abbildungen 7.1–3 liefern drei verschieden fein aufgelöste Beschreibungen für diese Interpretation, die im Kontrast zu der in Kap. 3 diskutierten und in der Zeit fortschreitenden Deutung nur aus dem historischen Rückblick heraus angestellt werden kann. Als vierter methodischer Zugang zur Begriffsgeschichte wird in Abschn. 7.5 dann noch die ‚Historische Ontologie‘ im Stile Ian Hackings besprochen, wie sie beispielsweise von Aaron S. Wright auf das Konzept des Vakuums angewendet wurde. Als Beispiel für eine narrative Umsetzung jenes Ansatzes in Form einer Quasi-Biographie eines wissenschaftlichen Objekts diskutiere ich dann die Ansätze von Theodore Arabatzis (in Abschn. 7.6). Nach der Erörterung der Vor- und Nachteile jeder dieser Zugänge werden ferner in Abschn. 7.7 noch einige allgemeinere Charakteristika mentaler Modelle diskutiert, mit denen die Geschichte des Konzepts von Lichtquanten hier in diesem Buch beschrieben wird.
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Über seine vita u. sein wissenschaftliches Werk siehe die biographischen Einführungen von Lothar Schäfer u. Thomas Schnelle in Fleck
(1935/1980b) bzw. von Claus Zittel in Fleck
(1935/1980), Müller & Schmieder
(2016) S. 538–551 sowie die dort jeweils genannte weiterführende Lit.
Entweder durch das Tragen von Atemmasken wie man das aus der frühneuzeitlichen Pestbekämpfung kennt, oder durch das Entfernen derjenigen Körperflüssigkeit, deren Übermass im Körper allererst zu der Krankheit geführt hat. Dass Aderlass die meisten bedauernswerten Patienten de facto eher geschwächt als gestärkt hat, tat der verbreiteten medizinischen Praxis keinen Abbruch, worin sich die unheilsamen Folgen des ‚Denkzwangs‘ zeigen, dem jene Denkkollektive unterliegen.
Sehr zum Ärgernis derjenigen Quantenfeldtheoretiker übrigens, die dieses Teilchenmodell ein für alle mal ausgemerzt sehen wollen: siehe dazu hier Abschn. 9.1.
Für die Einzelheiten dieser komplexen Entwicklungen muss ich auf das Buch von Kutschmann
(1983)sowie auf die von ihm aufgelisteten Studien von John Herivel, Derek T. Whiteside, Richard S. Westfall und Max Jammer
(1957) verweisen.
Kutschmann,
(1983) Zitate von S. 107, 109, 17, 110 und 142; vgl. Kutschmanns zusammenfassende These auf S. 148 zur „Überführung in mathematische Äquivalenz“ als demjenigen Mittel, um die beunruhigende Differenz der Begriffe zu relativieren und zu einem eindeutigen Begriff vorzustossen, sowie hier Abschn. 7.4 zu Parallelen des letztgenannten Punktes mit Turners conceptual blending.
Alle vorstehenden Zitate aus Neuser
(1995/2017) S. VII-VIII; vgl. ibid., S. 28 zur „Archäologie der Begriffe“ als einer Wissenschaftsgeschichtsschreibung, die diesen Veränderungen von Begriffen nachgeht.
Die über eine Generation lang tobende Debatte um die Interpretation von vis viva beispielsweise ist ein hervorragendes Beispiel für die tragischen Folgen nicht-erfolgter Begriffsdifferenzierung zwischen kinetischer Energie und Impuls.
Ibid., S. 28. Neuser nimmt hier neben Hegel auch auf Wilhelm Ostwald Bezug, der in seinen Pionierarbeiten (1887 bzw. 1909) in der „beständigen Verallgemeinerung und Vertiefung der Probleme“ (naiv positivistisch) einen „gesetzesmässigen Gang der Wissenschaften“ sah (ibid., S. 9).
Vorstehende Zitate entstammen der unpaginierten Zusammenfassung der Habilschrift Borrelli
(2017); vgl. ebenda Abschn. 1.4 und 1.6. zur Materialität von Theorie und ihren Begriffen.
Borrelli
(2007) selbst spricht beispielsweise in ihrer Studie zum Kraftbegriff von einem „very brief, episodic sketch“ (unpaginierte S. 1) und auch ihre Geschichte des Higgsteilchens bleibt bei allem Augenmerk auf die Erzählstrategien zum ‚Gottesteilchen‘ sehr informell.
Siehe Borrelli
(2017) S. 27 und 46 f. über das von Ursula Klein 2003 entwickelte Konzept von ‚paper tools‘: einer pragmatisch-operationalen Vereinfachung durch die Umsetzung komplexer Arbeitsprozesse in die einfache Manipulation von Symbolen auf dem Papier.
Dessen Untersuchungen zum Newtonschen Kraftbegriff wir in Abschn. 7.2 geschildert hatten und der danach ein zweites Buch über den Naturwissenschaftler und sein Körper schrieb.
Ibid., S. 13ff.; im Hintergrund stehen dabei Überlegungen von Vasso Kindi und Friedrich Steinle in Feest & Steinle
(2012) zu „scientific concepts and investigative practice“; weitere Stützung findet sie auch bei Müller & Schmieder
(2008) S. XIX sowie 239 ff.
so etwa die Ptolemäische Projektionstheorie in das Astrolabium, dessen Geschichte Borrelli in einer eigenen Monographie ausführlich dargestellt hat. Die Interpretation wiss. Instrumente als einer „materialisierten Theorie“ stammt von Gaston Bachelard (1884–1962).
Mehr zu meinem eigenen Verständnis mentaler Modelle hier in Abschn. 7.5. Wissenschaftshistorische Beispiele für die explorative Suche nach Konzepten in der wissenschaftlichen Praxis liefern die Untersuchungen von David Gooding (1990) und Friedrich Steinle (2005) zu Michael Faradays frühen Experimenten zur Elektrodynamik.
Das zeigt sich u. a. daran, dass meine Analyse der Geschichte des Konzepts von Lichtquanten in Borrellis methodologisch-historiographischem Einführungskapitel ihrer Habilitationsschrift gut wegkommt: siehe Borrelli
(2007 S. 24) in Bezug auf Hentschel
(2015).
Eine Anspielung auf Andrew Pickerings Buchtitel von 1995, der darin in einem mit Borrelli verwandten Ansatz u. a. die Genese von Konzepten wie Quaternionen oder Quarks, aber auch von den zu ihrem Nachweis entwickelten Detektoren und Techniken schreibt.
Von ‚Unifizierung‘ und ‚Verschmelzung‘ spricht Kutschmann
(1983) S. 142, der ganz unabhängig von Turner und Fauconnier an einem Punkt seiner Studie zum Kraftbegriff zu einem ganz ähnlichen Gedanken kam.
Furlan
(2021): 15 (Hervorh. orig.), zitierend Wheeler
(1978b) S. 9; zu Wheeler, der für seine ingeniösen Wortschöpfungen berühmt war, siehe hier Abschn. 8.5 und Thorne
(2019) S. 13ff.
Jeder Knoten, an dem ein Photon an ein elektrisch geladenes Teilchen ankoppelt, geht mit dem Faktor der Feinstrukturkonstante \(\alpha \)\(\simeq \) 1/137 in die Berechnung ein, so dass Prozesse höherer Ordnung individuell weniger Gewicht haben, allerdings durch die kombinatorisch rasch zunehmende Zahl solcher Streuprozesse höherer Ordnung auch keinesfalls zu unterschätzen sind, sondern sich zu nicht zu vernachlässigenden Beträgen aufsummieren können (das sog. Renormierungsproblem der QED).
Hacking
(2002b) S. 9; zu Hackings Weiterführung von Kuhn siehe beispielsweise seinen Kommentar in Kuhn
(1962d), zu seiner Canguilhem- und Foucault-Rezeption siehe Hacking
(2002b) S. 10 ff., 89 ff.
Zu jenen „styles of reasoning“(Denk-, Argumentations- und Handlungsstilen im Kontrast zu Flecks ‚Denkstilen‘) siehe z. B. Hacking
(1992) S. 11; für eine Analyse derartiger ontologischer Argumentationen zu Licht- und Wärmestrahlen siehe Hentschel
(2007a).
Wright
(2014) S. 18f.; besonders überzeugend durchgeführt wurde das von ihm dann am Beispiel von „Wheeler’s ontological progression“ vom Aufbau der Welt aus ruhemasselosen Feldern über Geonen und Quantenschaum hin zur Prägeometrie (ibid., S. 149ff.).
Wright
(2014) S. 372. Ob man deshalb gleich auf den postmodernen Autor Gilles Deleuze zurückgreifen muss, wie Wright das dann tut, wage ich zu bezweifeln.
Arabatzis
(2003) S. 435; vgl. ebenda, S. 441: „The ontology of the sciences may have been in flux, but this fact can be accommodated within a more traditional metaphysical picture, where entities do not pop in and out of existence“.
Arabatzis
(2006, 2011); vgl. kritisch zu dieser biographischen Metaphorik: Borrelli
(2017) S. 17–20, Ehberger
(2020) S. 276 f. sowie der hier folgende Haupttext.
Ibid. (übrigens ein Artikel, in dem Arabatzis seine Methode auf eine zweite wiss. Entität anwendet, den elektromagnetischen Äther); weitere Beispiele findet man in Daston (Hg.)
(2000), Forstner & Walker (Hg.)
(2020).
In Arabatzis
(2003) S. 434 f. präzisiert er diese metaphorische Rede von der ‚Geburt‘ dahingehend, dass nicht die verborgene Entität selbst, wohl aber deren neue Repräsentation in Form eines menschen-erschaffenen Konzepts ‚geboren‘ wird; somit gibt es Photonen bereits seit dem Urknall, ein Konzept von ihnen aber erst seit Einstein
(1905).
Arabatzis
(2021) S. 205 über die „zombie zone“ des Streits darüber, ob ein Konzept schon tot oder noch lebendig ist, dessen „protracted death, slow erosion of confidence [...] and a long period of being ‚sick‘ before its ultimate demise“.
Arabatzis
(2021) S. 196: „If we are to write its biography we need to know in what sense it remains the ‚same‘, that is, a ‚unified object of enquiry‘ to use MacIntyre’s apt phrase“.
Dieser „chains of meaning-approach“ geht zurück auf Bartels
(1994); vgl. ferner Müller & Schmieder (Hg.)
(2016) S. 553 f.,
(2008) S. 223–239 „zur Konstruktion semantischer Kontinuität in der wissenschaftlichen Begriffsbildung.“
Siehe hier auf S. 309 das Zitat aus seiner email vom 2. Sept. 2016sowie Wright
(2014) S. 23 für eine ganz analoge Kritik an Arabatzis aus der Perspektive seiner Fallstudie zum Vakuum.
Hecht
(2020) S. 252: „Thus, the unfortunate term ‚mental model‘ which seems to show up a thousand times throughout the book, is apparently professional jargon, albeit off-putting given the contemporary informal meaning of the word ‚mental‘ (crazy, insane, wacky, etc.).“
Sogenannte „pastiche models“ (Collins & Gentner 1987) bzw. „knowledge in parts“ (diSessa 1982). Weitere historische Beispiele dafür bieten Galilei, Kepler oder Descartes.
Für Fallstudien zu Galileis bzw. Faradays frühen mentalen Modellen siehe Palmieri
(2003) bzw. Gooding (1990), der von ‚construals‘ spricht, Nersessian (1990), Steinle (2005).
Für hochinteressante Fallstudien über den Unterschied in der physikalischen Intuition von Laien und Experten siehe beispielsweise McCloskey et al.
(1981, 1983), diSessa
(1982), Gentner
(1983) S. 99–129, Collins & Gentner
(1987), Feigenberg et al.
(2002).
Beispiele historischer Analysen auf der Basis mentaler Modelle findet man z. B. in Nersessian
(1992, 2007), Palmieri
(2003), Thagard
(2012) Kap. 4, Renn
(2000).