"Wir müssen uns von der Angst vor Märkten lösen"
- 28.10.2025
- Altersvorsorge
- Interview
- Online-Artikel
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Die Politik muss Rente neu denken, fordert Experte Vito Micoli. Orientierung geben Beispiele aus Schweden, Kanada oder den Niederlanden, in denen Kapitaldeckung kein Tabu ist und alle Erwerbstätigen eingebunden sind.
Vito Micoli ist Finanzexperte, Betriebswirt und seit 2023 Geschäftsführer von FI Investments. Der Experte verfügt über mehr als 40 Jahre Erfahrung in den Bereichen Firmenstrukturierung, Beratung, Buchhaltung und Steuern.
Thomas Feith für FI Group
Springerprofessional.de: Das deutsche Rentensystem bedarf dringend einer grundlegenden Reform, um zukunftsfähig zu bleiben. Wie kann hierbei die Balance zwischen demografischem Wandel, Generationengerechtigkeit und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit gewahrt werden? Welche Rolle spielt dabei die Einbindung aller Erwerbstätigen, wie das in anderen Ländern der Fall ist?
Vito Micoli: Um die Balance zwischen Generationengerechtigkeit und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit zu wahren, braucht es eine strukturelle Reform, die sowohl die Finanzierungsbasis verbreitert als auch das System resilienter macht. Ein zentraler Hebel ist die Einbeziehung aller Erwerbstätigen in die gesetzliche Rentenversicherung - also auch von Selbstständigen und perspektivisch von Beamten. Viele andere Länder wie die Schweiz oder Schweden praktizieren dieses Prinzip längst, um eine faire und nachhaltige Lastenverteilung zu erreichen. Zudem gilt es, Steuerzuschüsse für versicherungsfremde Leistungen klar abzugrenzen und kapitalgedeckte Elemente als Puffer auszubauen. So bleibt das System tragfähig, fair und resilient.
Wie kann eine Modernisierung des bestehenden Umlageverfahrens gelingen, ohne dessen solidarischen Charakter zu gefährden? Und wie lassen sich dabei politische Mehrheiten gewinnen?
Eine Modernisierung des bestehenden Umlageverfahrens kann gelingen, wenn sie auf bewährten Prinzipien aufbaut, ohne den solidarischen Kern aufzugeben. Dazu gehört zunächst eine breitere Finanzierungsbasis, um die Last gerechter zu verteilen. Gleichzeitig sind flexible Übergänge in den Ruhestand nötig - etwa durch Teilrentenmodelle oder Anreize für längeres Arbeiten. Entscheidend ist jedoch, die Systemsteuerung zu entpolitisieren. Regelbasierte Mechanismen, wie automatische Korrekturen bei Abweichungen der Nachhaltigkeitsrücklage, können die Rentenpolitik berechenbarer und stabiler machen. Um bei solchen grundlegenden Transformationen alle mitzunehmen, müssen Reformen schrittweise erfolgen, mit langem Bestandsschutz für heutige Beitragszahler und transparenten Vorteilen für nachfolgende Generationen. Glaubwürdigkeit entsteht, wenn Reformschritte nachvollziehbar kommuniziert und ihre Effekte empirisch belegt werden.
Kapitalmarktbasierte Rentenmodelle wie in Schweden oder Kanada gelten schon lange als Vorbilder. Lassen sich diese auf die deutsche Situation übertragen und wo liegen die Grenzen der Übertragbarkeit - wirtschaftlich und kulturell?
Länder wie Schweden oder Kanada kombinieren eine solidarische Basisrente mit individuell kapitalgedeckten Elementen, die professionell verwaltet und streng kontrolliert werden. Das schafft langfristige Stabilität und höhere Renditen. In Deutschland fehlt bisher vor allem die Akzeptanz gegenüber dem Kapitalmarkt - und das ist ein Problem. Ohne Erträge aus produktivem Kapital wird keine Rente sicher bleiben. Entscheidend ist, Vertrauen aufzubauen: durch unabhängige Verwaltung, niedrige Kosten und absolute Transparenz. Wir müssen uns von der Angst vor Märkten lösen. Kapitaldeckung bedeutet nicht Spekulation, sondern langfristige Verantwortung für die eigene Zukunft.
Auch eine verpflichtende, branchenübergreifende betriebliche Altersvorsorge, wie es sie etwa in den Niederlanden gibt, könnte ein Vorbild für Deutschland sein, um die Altersvorsorge zu stabilisieren. Welche Anreize und Regulierungen wären dafür notwendig?
Eine verpflichtende, branchenübergreifende betriebliche Altersvorsorge wäre ein logischer nächster Schritt. Die Niederlande machen eindrucksvoll vor, wie so etwas funktionieren kann: Arbeitgeber und Arbeitnehmer zahlen gemeinsam in große, professionell verwaltete Fonds ein, die langfristig investieren und stabile Renditen erwirtschaften. In Deutschland dagegen bleibt die betriebliche Altersvorsorge oft freiwillig und damit lückenhaft. Wir brauchen ein automatisches Einschreibesystem mit Opt-out-Option, also eine verpflichtende Teilnahme mit individueller Wahlfreiheit. Wichtig ist außerdem, dass die Ansprüche portabel bleiben und Kosten streng reguliert werden. Nur wenn Arbeitnehmer beim Jobwechsel ihre Vorsorge einfach mitnehmen können, entsteht Vertrauen. Eine starke zweite Säule würde nicht nur die gesetzliche Rente entlasten, sondern auch die private Vorsorge ergänzen und das gesamte System stabiler machen.
Wie realistisch ist das immer wieder diskutierte lebensbegleitende Vorsorgemodell, das bereits in der Kindheit beginnt - etwa durch staatliche oder elterliche Einzahlungen? Nennen Sie uns bitte die volkswirtschaftlichen Effekte bei langfristiger Verzinsung?
Frühzeitige, regelmäßige Einzahlungen - sei es durch Eltern, Staat oder beide - können durch den Zinseszinseffekt über Jahrzehnte enorme Kapitalbeträge aufbauen. Beispielrechnungen zeigen, dass bereits 50 Euro pro Monat ab Geburt bei moderater realer Verzinsung zu einem Altersvermögen im sechsstelligen Bereich führen können. Solche langfristigen Sparmechanismen entlasten das Umlagesystem, reduzieren künftige Steuerzuschüsse und fördern Kapitalbildung im Inland. Modelle wie der britische 'Child Trust Fund' oder staatlich bezuschusste Kinderkonten könnten auch in Deutschland ein realistischer Baustein sein, sofern sie einfach strukturiert, sozial ausgewogen und inflationsgeschützt ausgestaltet werden.
Welche Rolle spielen datengetriebene, algorithmisch gesteuerte Finanzprodukte für konkrete Reformansätze und wer stellt diese primär zur Verfügung?
Datengetriebene, algorithmisch gesteuerte Finanzprodukte werden für die Altersvorsorge eine immer wichtigere Rolle spielen. Sie ermöglichen, Vermögen individuell zu steuern und gleichzeitig effizient zu verwalten. Moderne Algorithmen analysieren Marktentwicklungen in Echtzeit und können Portfolios automatisch anpassen - nach Lebensphase, Risikoprofil und Ertragszielen. Damit lassen sich Fehler vermeiden, die in klassischen Anlageformen oft durch Emotionen oder mangelnde Marktkenntnis entstehen. Zugleich ermöglichen sie, Vermögen individuell zu steuern und effizient zu verwalten. Solche Systeme werden heute vor allem von großen Kapitalverwaltungsgesellschaften, Versicherern und spezialisierten Fintechs angeboten, unterliegen aber strengen europäischen Regulierungen wie MiFID II und der IORP-II-Richtlinie. In einer reformierten Altersvorsorge könnten sie Transparenz, Diversifikation und Kosteneffizienz verbessern - vorausgesetzt, ihre Steuerung erfolgt unabhängig und die Funktionsweise der Algorithmen ist nachvollziehbar.
Unabhängig davon, wie ein reformiertes Rentenmodell in Zukunft aussieht, braucht es Maßnahmen und Instrumente, um das Vertrauen der Bevölkerung in seine Stabilität und Zuverlässigkeit aufzubauen. Wie könnten diese in der Praxis aussehen?
Menschen investieren nur dann in ihre Zukunft, wenn sie verstehen, wie das System funktioniert und dass ihr Geld weitgehend sicher ist. Dazu braucht es Transparenz, Bildung und klare Strukturen. Ein digitales Renten-Dashboard, das sämtliche Vorsorgebausteine - gesetzlich, betrieblich und privat - in einer Übersicht darstellt, wäre ein entscheidender Fortschritt. Ebenso wichtig ist eine unabhängige Aufsicht, die regelmäßig über Renditen, Risiken und Kosten informiert. Wenn Bürger nachvollziehen können, dass ihr Beitrag nicht verschwindet, sondern arbeitet, wächst das Vertrauen automatisch. Finanzielle Bildung sollte in Deutschland denselben Stellenwert haben wie Gesundheitsvorsorge, denn wer Vorsorge versteht, kann seine Zukunft gestalten. Nur so entsteht die Stabilität, die ein reformiertes Rentensystem braucht.