2020 | OriginalPaper | Buchkapitel
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Zwischen An- und Ent-Ordnung
Dieses Analysekapitel stellt entlang von vier Hauptkategorien die alltägliche (Re-)Produktion der Räume der Sammelunterkünfte zwischen An- und Ent-Ordnung vor. Im Prozess der Arbeit mit den Forschungsdaten hatte sich gezeigt, dass sich die für die Beantwortung der Forschungsfragen relevanten Aspekte zu räumlichen Praktiken, Machtbeziehungen und deren Effekten entlang der vier raumkonstitutiven Aspekte „Beziehungen“, „Materialität“, „Mobilität“ und „Sicherheit“ sinnvoll erfassen und strukturieren ließen. Die vier Abschnitte 5.1–5.4 geben deshalb jeweils eine kurze Einführung in diese insgesamt vier Konzepte. Anschließend wird für jede der Kategorien zunächst dem ersten Teil der forschungsleitenden Frage nachgespürt, d.h. es wird dargestellt, wie sich Machtverhältnisse in der sozialen (Re-)Produktion der Räume der Sammelunterkünfte im Alltag hinsichtlich zwischenmenschlicher Beziehungen, Materialität, Mobilität bzw. Sicherheit manifestierten („An-Ordnungen“). Der zweite Teil dieser vier Abschnitte untersucht dann jeweils, wie die Bewohner*innen die in den jeweiligen Dimensionen sedimentierten Machtverhältnisse im Alltag herausforderten („Ent-Ordnungen“). Auf diese Weise werden im Dialog der in den Kapiteln 2 und 3 erörterten Theorien (Raum/Räume und das Politische writ small) mit den empirischen Beobachtungen, die sozialen (Re-)Produktionsprozesse der Sammelunterkünfte im Alltag hinsichtlich zwischenmenschlicher Beziehungen, Materialität, Mobilität und Sicherheit analysiert und die diese Prozesse überlagernden Machtverhältnisse sowie deren Herausforderungen durch die Bewohner*innen sichtbar gemacht.
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Ich habe an anderer Stelle die Frage von Intersektionalität hinsichtlich der Situation von Frauen in den Gemeinschaftsunterkünften etwas ausführlicher behandelt (vgl. Hartmann 2017b).
Das Wort
weiß wird hier kursiv geschrieben, da es nicht auf die Hautfarbe, sondern vor allem auf die gesellschaftlichen Privilegien verweist, die mit der Wahrnehmung
als weiß einhergehen (vgl. bspw. Ogette 2019).
Hier wird bewusst auf eine weitere und durchaus problematische Unterscheidung in einzelne Gruppen der Stadtgesellschaft wie „Deutsche“, „Migrant*innen“ etc. verzichtet, da darüber häufig keine Angaben gemacht wurden und es hier vor allem ganz allgemein um Kontakte und Beziehungen der Bewohner*innen zu Menschen geht, die schon länger (oder schon immer) in der Stadt bzw. Deutschland leben bzw.
nicht in den Sammelunterkünften untergebracht waren. Wenn die Bewohner*innen selbst sich auf „Deutsche“ bezogen, geschah dies häufig im Sinne von deutsch
sprachigen Personen, auf die im Zusammenhang mit dem Erwerb oder dem Fehlen deutscher Sprachkenntnisse verwiesen wurde.
Ging es in Gesprächen und Beobachtungen beispielsweise in erster Linie um die Pflicht, immer wieder verschiedene Behörden aufzusuchen oder um die Hürden im Zugang zum Gesundheitssystem, wurden die entsprechenden Textstellen anderen Codes, in diesem Fall dem der beschleunigten Mobilitäten bzw. Gesundheitssicherheit zugeordnet und werden an späterer Stelle besprochen.
Die Tatsache, dass sich die Möglichkeiten im Ankunftsland häufig nicht mit den Vorstellungen der Menschen im Herkunftsland deckten, betraf durchaus nicht Raimo als Einzelfall. Sie machte es für viele Menschen in ähnlichen Situationen deshalb sehr schwierig, im Falle einer erzwungenen Rückkehr in der ehemaligen Heimat mit dem Stigma des
„failed migrant“ (Dako-Gyeke 2015, S. 169; vgl. auch Brotherton und Barrios 2009; Dako-Gyeke und Kodom 2017; Schuster und Majidi 2013; Schuster und Majidi 2014) wieder Fuß zu fassen.
Eine weitere Ebene der Fremdzuschreibungen offenbarte sich in der Anhörung über sein Asylgesuch beim BAMF, wo er mit dem Rechtfertigungszwang konfrontiert wurde, entgegen der Darstellung in politisch-medialen Diskursen zu beweisen, dass sein Herkunftsland nicht so sicher war, wie dort behauptet wurde. Dass er tatsächlich so „schutzwürdig“ war, wie er sagte und somit ein formales Recht hatte, in Deutschland zu sein: „
Er [der Anhörer] hat gesagt, in [Herkunftsland] gibt’s kein Problem. Aber in [Herkunftsland] gibt’s viele Problem. Im [Fernsehen], wenn hörst du, in [Herkunftsland] ist besser, als in andere Land. Aber in [Herkunftsland] ist schlechter. Nur in […] Fernseher sagt das. Oder in youtube, weiß nicht. Aber wenn lebst du in [Herkunftsland], wenn sehst du das selber, sagst du ‚Ahhh‘“ (In10, Abs. 228).
Dieser Name ist ebenfalls anonymisiert.
Die EU-Antirassismusrichtlinie EU 2000/43 (Art. 2, Abs. 2a) spricht beispielsweise von unmittelbarer Diskriminierung
„wenn eine Person aufgrund ihrer Rasse oder ethnischen Herkunft in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde“. Siehe für eine Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung im Kontext von Flucht und Asyl auch Frings (2018, 6 ff.).
Strukturelle Diskriminierung liegt vor, wenn Benachteiligungen aufgrund verfestigter, gesellschaftlicher Normen und Regeln entstehen (vgl. Reiners 2018, S. 6).
Das Interview wurde von einer Laien-Sprachmittlerin übersetzt, die nicht in der ersten, sondern in der dritten Person übersetzte. Diese Passage steht im Transkript ursprünglich in der 3. Person Singular.
Zusätzlich waren die Abläufe deutscher Bürokratie für die Bewohner*innen häufig schwer verständlich, nicht zuletzt, weil Informationen selten in ihrer Muttersprache vorlagen und sie oft gar nicht wussten, was genau von ihnen erwartet wurde. Damit verbundene Beeinträchtigungen und Benachteiligungen werde ich unter dem Aspekt der ontologischen (Un-)Sicherheit noch detaillierter erläutern. Hier geht es zunächst einmal nur um die Beziehungsdimension der (funktionalen) Interaktionen geflüchteter Menschen mit Menschen außerhalb der Unterkünfte.
Unter institutioneller Diskriminierung wird eine Benachteiligung durch institutionalisierte Abläufe wie administrative Regelungen oder etablierte Verfahrensabläufe verstanden (vgl. Reiners 2018, S. 6).
Gemäß der EU-Antirassismusrichtlinie EU 2000/43 (Art. 2, Abs. 2b) liegt mittelbare Diskriminierung dann vor,
„wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen, die einer Rasse oder ethnischen Gruppe angehören, in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich.“
Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangte jedenfalls auch die
„Praxisstudie Diskriminierungsrisiken und Diskriminierungsschutz für geflüchtete Menschen in NRW“, wo es heißt:
„Thematisiert wird zudem, dass Klient*innen oft von Sachbearbeiter*innen geduzt werden oder dass der Umgang mit ihnen im Amt davon abhängig ist, ob eine (deutschsprachige) Begleitperson dabei ist“ (Reiners 2018, S. 19).
Der Monat wurde aus Zwecken der Anonymisierung geändert.
Die Gespräche, die ich mit Nele darüber führte, lagen außerhalb des „offiziellen“ Erhebungszeitraums und sind deshalb nicht in einem Feldtagebucheintrag erfasst.
Dazu zählen Sprachbarrieren, fehlende Kontakte zu potentiellen Unterstützer*innen oder fehlende Kenntnis über lokale Beratungsinstitutionen, die ggf. im Umgang mit Ämtern behilflich sein können.
Ärzte führten beispielsweise Behandlungen durch, ohne sich zu versichern, dass die Patient*innen die Folgen der Behandlung überhaupt verstanden hatten. Einem afghanischen Bewohner einer Sammelunterkunft, der keine deutschen Sprachkenntnisse hatte und der aufgrund von Zahnschmerzen den Zahnarzt aufsuchte, wurden beispielsweise ohne Vorankündigung die schmerzhaften Zähne einfach gezogen. Adan, der mir davon erzählte, beklagte dabei weniger die medizinische Behandlung seines Freundes als solche, sondern die Tatsache, dass dem Mann nicht vorher Gelegenheit gegeben wurde, der Behandlung zuzustimmen oder diese abzulehnen: „
You cannot take it [die Zähne] before I speak your language and you ask me and I say ‚yes‘ in your face. After that, you can do it“ (In9, Abs. 93).
Wohnsitzauflagen, Residenzpflichten, fehlende Bleiberechtsperspektiven, relative Mittellosigkeit etc. führten ohnehin zu einer Unterminierung dieser Rechte und verhinderten auf institutioneller Ebene die Mobilität im (Stadt-)Raum bzw. den Auszug aus den Gemeinschaftsunterkünften (siehe Code: Entschleunigte Mobilitäten bzw. Abschnitt
5.3.1).
Da es keine deutschlandweiten Standards für Gemeinschaftsunterkünfte gibt (siehe Abschnitt
1.3.1), bestehen aber auch zwischen den einzelnen Gemeinschaftsunterkünften große Unterschiede. Da meine Forschung vorwiegend in nur einer dieser Unterkünfte erfolgte, wurden Vergleiche vor allem in den Berichten der Bewohner*innen in Bezug auf ihre Erstunterbringung in den EAEs thematisiert.
Dies war besonders häufig der Fall, als während der sog. „Flüchtlingskrise“ 2015/16 und der Überforderung der Behörden vielerorts Notlager für die Menschen errichtet wurden, in denen diese dann allerdings, u. a. aufgrund des Rückstaus der Bearbeitung der Asylanträge beim BAMF oder bestehender Laufzeiten der Mietverträge, nicht selten für lange Zeiträume ausharren mussten.
Außerdem verbesserte sich damit meist auch ihre Situation hinsichtlich der materiellen Ausstattung ihrer Unterbringung sowie in Bezug auf verschiedene Dimensionen menschlicher Sicherheit. Ich werde unter den entsprechenden Codes darauf zurückkommen.
So konnte auch die Unterbringung mit Partner*in und Kind/ern in einem einzigen Familienzimmer über längere Zeiträume zu Problemen führen, zum Beispiel wenn sich die Familienmitglieder gegenseitig vom Schlafen oder Lernen abhielten (vgl. FTE53, Abs. 13; In15, Abs. 129–130).
Ich werde unter der Hauptkategorie „Mobilität“ detaillierter auf den Begriff des „Transfers“ bzw. die damit zusammenhängenden, machtvollen Mobilitätspraktiken eingehen. Der Begriff des Transfers hatte sich als
in-vivo-code, also als Begriff, der von den Handelnden im Feld selbst verwendet wird (vgl. Kuckartz 2018, S. 25) aus den Gesprächen und empirischen Beobachtungen ergeben. Mit „Transfer“ sprachen meine Gesprächspartner*innen die häufig gegen ihren Willen durchgeführten Verlegungspraktiken innerhalb des Sammelunterkunftssystems an.
Da damit außerdem nicht nur die Beziehungsdimension zu anderen Bewohner*innen, sondern auch das Gefühl der eigenen ontologischen (Un-)Sicherheit angesprochen wird, komme ich an späterer Stelle darauf zurück.
Dieser Schutzstatus nach §4 Abs. 1 AsylG. gewährt zumindest eine (verlängerbare) Aufenthaltsberechtigung in Deutschland für ein Jahr und stellt deshalb einen relativ starken Schutzstatus dar. Das Problem für die Syrer*innen bestand dann häufig v. a. darin, dass sie als subsidiär geschützte Personen, anders als bei der Anerkennung als „Flüchtling“, nicht berechtigt waren, ihre Familien im Zuge eines Familiennachzugsverfahrens ebenfalls nach Deutschland zu holen. Aus diesem Grund gab es seit Einführung der quasi unausgesprochenen „Regel“ des Bundesamtes im Jahr 2016, syrischen Geflüchteten „nur“ noch den subsidiären Schutz zuzusprechen, vermehrt – berechtigte – Klagen der Syrer*innen gegen diese Verwaltungspraxis mit dem Ziel, eine Anerkennung als „Flüchtling“ zu bekommen.
Zudem ist die Einstufung bestimmter Herkunftsländer als mehr oder weniger sicher, wie die andauernden Diskussionen um den Fall Afghanistan zeigen, häufig eher eine politische Frage als den konkreten Situationen vor Ort angemessen (vgl. bspw. In10, Abs. 228).
Der Rechtsbegriff der sogenannten „sicheren Herkunftsstaaten“ wird in Artikel 16a, Abs. 3 des Grundgesetzes eingeführt. Bei diesen Staaten geht der Gesetzgeber davon aus, dass sie grundsätzlich so sicher sind, dass keine Verfolgungsgründe vorliegen. Es ist im Einzelfall deshalb sehr viel schwieriger, den ggf. dennoch existierenden, individuellen Schutzbedarf geltend zu machen. Asylanträge von Menschen aus diesen Ländern werden mit nahezu hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit abgelehnt. Anlage II des Asylgesetzes führt die „sicheren Herkunftsstaaten“ im Einzelnen auf. Neben den Ländern der EU zählen dazu beispielsweise Albanien, Kosovo, Mazedonien und Ghana.
Selbstverständlich gab es in der Zeit meiner ethnologischen Forschung in den Unterkünften auch viele Beispiele für gleichberechtigte, freundschaftliche und/oder solidarische Beziehungen zwischen den Bewohner*innen. Wenn hier also zunächst nur auf asymmetrische Beziehungskonstellationen eingegangen wird, liegt das allein am Erkenntnisinteresse und der Forschungsfrage dieser Arbeit, die im ersten Teil danach fragt, wie sich
Machtverhältnisse in der sozialen (Re-)Produktion der Räume der Sammelunterkünfte im Alltag manifestieren. Praktiken, mit denen die Bewohner*innen diese Machtbeziehungen dezidiert herausforderten, werden zudem in Abschnitt
5.1.3 vorgestellt.
Gerade im Falle der Kinder muss aber darauf hingewiesen werden, dass diese mitunter aber auch dann Freundschaften knüpften, wenn ihre Eltern Vorbehalte gegeneinander hatten:
„Weil Kinder eigentlich dann kein Kultur oder kein, keine Grenze kennen, sie spielen mit allen, und dann sin die Eltern: ‚Ja, ich will nicht, dass du mit dem spielst, nein‘“ (Nora Lange, In2, Abs. 35; vgl. bspw. auch FTE55, Abs. 18).
Insofern dadurch die persönliche Sicherheit der jeweiligen Bewohner*innen betroffen war – beispielsweise durch sexuelle und genderbasierte Gewalt – wird unter dem Code menschliche Sicherheit/persönliche Sicherheit noch detaillierter auf die Folgen dieser asymmetrischen Beziehungen eingegangen.
In dieser Darstellung werden binäre Kategorien wie „männlich“, „weiblich“ im Sinne der (Selbst-)Beschreibung durch die Bewohner*innen übernommen und es wird nicht näher darauf eingegangen, das diese ebenfalls erst Ergebnis von Sozialisationsprozessen sind.
Siehe hierfür auch die unter 1.3.2 aufgeführten Studien zur Situation weiblicher Geflüchteter in Sammelunterkünften in Deutschland.
„Cousin“ ist in manchen Kontexten die Bezeichnung für verschiedene männliche, nach hiesigen Maßstäben auch nur entfernt verwandte, Familienangehörige.
Als Forschende in den Sammelunterkünften war ich selbst ebenfalls Teil dieses Beziehungsgefüges. Reflektionen potentiell negativer Konsequenzen asymmetrischer Machtverhältnisse in meiner Beziehung zu den Bewohner*innen als Forschungsteilnehmer*innen habe ich deshalb im Methodenkapitel (Kapitel
4) und vor allem im Methodologie-Kapitel (Abschnitt
1.2) näher betrachtet.
Wie in Abschnitt
1.2 hinsichtlich Didier Fassins Konzepts der Humanitären Vernunft gezeigt wurde, bedeutet „Dankbarkeit“ aber nicht notwendigerweise die Überwindung asymmetrischer Beziehungen zwischen Helfenden und „Opfern“, sondern ist häufig gerade Ausdruck davon.
Andere haben dem viel detaillierter nachgespürt, siehe für eine Einführung in die Forschungslandschaft zum Ehrenamt in der Geflüchtetenarbeit bspw. Karakayali (2018); für eine kritische (Selbst-)Reflexion sozialer Arbeit in Sammelunterkünften Brandmaier (2018) und für eine rassismuskritische Einführung in die soziale Arbeit mit Geflüchteten Prasad (2018).
Diese stellten sich aus Sicht der Ehrenamtlichen in der Regel so dar, dass sie selbst Lücken füllten und Aufgaben übernahmen, die von Hauptamtlichen nicht geleistet werden wollten oder konnten, dafür aber (zu) wenig Anerkennung bekamen (vgl. FTE23, Abs. 25). Die Hauptamtlichen wiederum waren einerseits froh um die ehrenamtliche „Unterstützung“, beklagten sich aber mitunter auch über den angeblichen Übereifer der Freiwilligen, die in ihren Augen
„überpacen mit Forderungen“ (Verwaltungsmitarbeiter, In7, Abs. 208) oder sich zu sehr in die Arbeit der Hauptamtlichen einmischten (vgl. bspw. auch FTE39, Abs. 4., Abs. 19). Insofern die Ehrenamtlichen gegenüber Hauptamtlichen dabei Missstände an der Ausstattung der Einrichtungen anprangerten, wird unter dem Code Materialität darauf zurückgekommen.
Später bekam die Sozialarbeiterin dann ein eigenes Büro mit festen Sprechzeiten auf dem Gelände, was diese Praxis erübrigte.
Neuere Publikationen weisen darauf hin, dass die Frage von Machtverhältnissen auch im Feld der Sozialen Arbeit zunehmend kritisch diskutiert werden (vgl. bspw. Brandmaier und Friedmann 2019; siehe auch Abschnitt
1.3.2).
Wenn ich ihn richtig verstanden habe, sagte der Bewohner aber sogar, dass er versucht hätte beim Arzt vorzusprechen, im Warteraum gewartet hätte aber nicht an die Reihe gekommen war.
Beziehungen zu Mitarbeiter*innen der „Security“ sind vor allem in den Erstaufnahmeeinrichtungen von Bedeutung und wurden in einigen Gesprächen mit den Geflüchteten sowie in einigen der Interviews thematisiert und können aufgrund der besonderen Machtungleichheiten hier nicht völlig außen vorgelassen werden.
Um es noch einmal zu betonen: Es soll hier nicht allen Verwaltungsmitarbeiter*innen pauschal massiv rassistisch diskriminierendes Verhalten unterstellt werden. Die prekäre Situation der Bewohner*innen der Sammelunterkünfte machte sie jedoch in besonderer Weise abhängig von den mit ihnen befassten Akteur*innen. Und damit auch besonders vulnerabel für etwaiges Fehlverhalten.
Mancherorts landeten zumindest Extremfälle wie Zuhälterei, Folter oder massive Misshandlung vor Gericht; vgl. bspw. die Anklage gegen Security-Mitarbeiter und Einrichtungsleiter wegen Misshandlung von Geflüchteten in der Erstaufnahmeeinrichtung in Burbach oder die Vorwürfe der Verwicklung von Sicherheitsmitarbeitern in ein Zuhälternetzwerk einschließlich der Ausbeutung geflüchteter Frauen als Prostituierte in Berlin (vgl. Spiegel Online 2017, 2019).
Obwohl Machtasymmetrien in der alltäglichen, sozialen (Re-)Produktion der Räume der Sammelunterkünfte prinzipiell auch in Beziehungen zu Ehrenamtlichen und Sozialarbeiter*innen in den Unterkünften reproduziert werden konnten, galt dies selbstverständlich nicht für alle Personen dieser Akteursgruppen. Mitunter gab es eine sehr bewusste Reflexion der Gefahren der Fortschreibungen von Ungleichheit und ein aktives Engagement dafür, diese Machtverhältnisse in Frage zu stellen (vgl. bspw. Eva, In3, Abs. 146–157; vgl. auch Sophia, FTE41, Abs. 14).
Der Begriff
Compassion fatigue bzw.
Secondary Traumatic Stress Disorder beschreibt ein, insbesondere in Angehörigen helfender Berufe oder Katastrophenhelfer*innen beobachtbares, sich mit der Zeit verstärkendes, Nachlassen von Mitgefühl gegenüber Patient*innen oder Klient*innen. Als Grund werden Prozesse sekundärer Traumatisierung durch die ständige Konfrontation der Helfenden mit dem Leid der Betroffenen gesehen. Die an den Helfenden zu beobachtenden Folgen gleichen dabei denen primärer Traumatisierungen: Depressionen, Angstzustände, Hoffnungslosigkeit sowie psychosomatische Symptome (siehe für weiterführende Literatur bspw. Figley 1995).
Zudem wählten die Ehrenamtlichen ihre „Schützlinge“ häufig nicht unbedingt nach Kriterien tatsächlicher Hilfsbedarfe aus, sondern eher auf Basis individueller Sympathien und unterstützten dann beispielsweise eher Familien mit Kindern als alleinstehende Frauen in den Unterkünften, obwohl letztere ebenfalls Unterstützung benötigt hätten (vgl. FTE67, Abs. 19).
Unter dem Aspekt Herausforderungen der Ein-Teilungs- und Entwertungspraktiken sind auch die Herausforderungen asymmetrischer Beziehungen der Bewohner*innen zu anderen Personen innerhalb und außerhalb der materiellen Räume der Sammelunterkünfte gefasst, da das Handeln auf der Grundlage von Gleichheit eine Voraussetzung für das Aufheben von Machtasymmetrien in den Beziehungen darstellt.
Die echte Hausnummer war natürlich eine andere, ich ersetze sie hier durch eine beliebige Zahl.
Hier wurde die Bewohnerin mit einem weiteren Namen anonymisiert, damit von Personen, die ggf. Kenntnis dieser Begebenheit haben, andere Textstellen nicht ebenfalls der Bewohnerin zugeordnet werden können.
Neben den von den Bewohner*innen selbst angestoßenen Praktiken und Taktiken zur Überwindung von Isolation gab es auch eine Reihe von Personen wie Arbeitskolleg*innen, Menschen mit Fluchterfahrung, die mit lokalen Gegebenheiten mittlerweile besser vertraut waren, Ehrenamtliche usw., die die Bewohner*innen darin unterstützen, die Grenzen zwischen dem „hier“ der Mehrheitsgesellschaft und dem „dort“ der Sammelunterkünfte zu überwinden(vgl. FTE6, Abs. 5; FTE8, Abs. 2; FTE67, Abs. 11; In2, Abs. 24). Dies umso mehr, wenn die Aktivitäten darauf abzielten, die Platzierung der Menschen in den Sammelunterkünften temporär oder dauerhaft aufzuheben, indem sie die Bewohner*innen beispielsweise bei der Suche nach einer eigenen Wohnung unterstützen (vgl. In9, Abs. 46). Außerdem vermittelten sie beispielsweise Kontakte zu lokalen Anwälten, die einen guten Ruf im Bereich Asyl- und Aufenthaltsrecht hatten (vgl. FTE38, Abs. 6) oder begleiteten und unterstützten im Umgang mit Behörden und Polizei (vgl. In9, Abs. 60). Aufgrund der inhaltlichen Ausrichtung dieser Arbeit, die sich vor allem für die Herausforderung von Machtverhältnissen in der sozialen (Re-)Produktion der Sammelunterkünfte durch die Bewohner*innen selbst interessiert, kann hier allerdings nicht detaillierter auf die Aktivitäten von Unterstützer*innen eingegangen werden.
Hybrid ist nach Elisabeth Bronfen
„alles, was sich einer Vermischung von Signifikantenketten verdankt, was unterschiedliche Diskurse und Technologien verknüpft, was durch Techniken der collage
, des samplings
, des Bastelns zustande gekommen ist“ (Bronfen 1997, zitiert nach: Ette und Wirth 2014, S. 9; Herv. i. Orig.).
Aufgrund der Referenz auf die Muttersprache des Bewohners, verwende ich auch an dieser Stelle einen zweiten anonymisierten Namen, um in der Zusammenschau keine Rückverfolgung auf die Person möglich zu machen.
An dieser Stelle kann nicht auf die Instrumentalisierung von (feministischen) Gleichberechtigungsargumenten zur Untermauerung rassistischer Diskurse eingegangen werden, diese klangen aber gerade in Gesprächen mit Verwaltungspersonal immer wieder durch (vgl. bspw. In7, Abs. 46).
Wichtig ist zudem zu erwähnen, dass durch entsprechende administrative Praktiken die Bewohner*innen durchaus gestärkt werden konnten, asymmetrische (Gender-)Rollen herauszufordern, wie Nora Lange betonte:
„Aber wenn zum Beispiel Konflikte in der Einrichtung auftreten, ein Mann zum Beispiel eine Frau schlägt, und die Frauen dann merken, dass sich die Security auf ihre Seite stellt und sie Recht bekommen, bekommen sie mehr Selbstvertrauen“ (Nora Lange, In2-T1, Abs. 7). Auch Nele verwies darauf, wie wichtig es sei, dass Frauen wissen, dass sie im Falle von Gewalt Unterstützung von verschiedenen Behörden bekommen können (vgl. In11, Abs. 53).
Als guter Einstieg in das Thema bietet sich beispielsweise die interaktive Webseite des Projekts „Materialität der Migration“ an der Georg-August-Universität Göttingen an, wo anhand unterschiedlicher Objekte die Beziehungen von Menschen und Dingen im Rahmen von Flucht- und Migrationsprozessen dargestellt werden:
https://materialitaet-migration.de/; zuletzt aufgerufen am 10.09.2020.
Ein zentraler Punkt der
material culture studies, der hier ebenfalls stark gemacht wird, betrifft jedoch die Einsicht, dass in der Untersuchung des Räumlichen eine dichotomische Unterscheidung zwischen dem Materiellen und dem Sinnhaften/Symbolischen aufgehoben wird, da beide Ebenen in der sozialen Produktion von Räumen bereits ineinandergreifen (vgl. Abschnitt
2.1.2, hier insbesondere Lefebvres Trias der sozialen Produktion von Räumen). Andreas Reckwitz spricht deshalb auch davon, dass die wachsende Aufmerksamkeit für den Raum in den Kultur- und Sozialwissenschaften seinerseits dazu beigetragen hat, auf die Aufhebung des Dualismus zwischen Kulturalismus und Materialismus hinzuwirken und somit die Materialisierung der Kultur(wissenschaften) weiter vorangetrieben hat (vgl. Reckwitz 2014). So sind, wie in Kapitel
2 gezeigt wurde, individuelle Möglichkeiten Räume zu konstituieren von symbolischen
und materiellen Faktoren abhängig (vgl. auch Löw 2001, S. 191).
Diese Perspektive ist für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit, insbesondere hinsichtlich der Fragen von sozialen Machtverhältnissen, welche sich in der alltäglichen (Re-)Produktion von Räumen manifestieren, weniger relevant. Es interessiert also zunächst nicht, welche „Aktivitäten“ die Dinge selbst in Interaktion mit den Handelnden ausüben und ob oder inwiefern sie damit die Stufe eines sozialen Akteurs (oder Aktanten, vgl. Latour 2002) betreten. Die Materialität der Räume der Sammelunterkünfte aus dem Blickwinkel der
material culture studies zu betrachten wäre letztlich ein weiteres – und anderes – Forschungsprojekt.
Vgl. zu einer Kritik an der Handlungsperspektive, bzw. der Rekonzeptionalisierung des Raumes als „Raum als Aktant“ aber Busch (2007).
Allerdings lassen, wie in Abschnitt
1.3.2 gezeigt wurde, die Ergebnisse verschiedener Studien der vergangenen Jahre zur Unterbringung geflüchteter Menschen in Deutschland vermuten, dass sich ähnliche Aussagen auch für Unterkünfte in anderen Landkreisen bzw. Bundesländern treffen lassen (vgl. bspw. auch Bauer 2017; DIMR 2017; Flüchtlingsrat Baden-Württemberg 2018).
Siehe für einen allgemeinen Überblick negativer Auswirkungen von Privatisierungstendenzen verschiedener Länder im Asylsektor den Aufsatz von Jane Lethbridge (Lethbridge 2017) sowie für eine kritische Betrachtung ähnlicher Tendenzen in Großbritannien die Arbeiten von Jonathan Darling (Darling 2016; 2017).
Dieses Unternehmen stand bereits seit Jahren im Kreuzfeuer der Kritik, u. a. da es offensichtlich immer wieder von Gewalthandlungen des eigenen Sicherheitspersonals gegenüber geflüchteten Menschen Kenntnis hatte, jedoch nichts dagegen unternahm (vgl. bspw. Die Zeit 2014).
Diese Entwicklungen wurden auch in den Medien immer wieder kritisch diskutiert (vgl. bspw. Deutsche Welle 2018). In Gesprächen mit Sozialarbeiter*innen wurde mir beispielsweise berichtet, dass private Anbieter wie European Homecare in Ausschreibungsverfahren mit sog. „Dumpingpreisen“ auch weniger profitorientierte Mitbewerber wie das Deutsche Rote Kreuz regelmäßig unterboten und deshalb den Zuspruch der öffentlichen Auftraggeber*innen bekamen. „Gespart“ wurde dann beispielsweise an der Qualität des Essens oder den Kosten für Personal (vgl. auch In7, Abs. 114).
Wie mir verschiedentlich mitgeteilt wurde, wurden von European Homecare in der von dem Unternehmen betreuten Zweigstelle der Erstaufnahmeeinrichtungen in der Stadt, statt ausgebildeter Sozialarbeiter*innen mit einschlägigem Hochschulabschluss beispielsweise lediglich sog. „Sozialbetreuer*innen“ angestellt – häufig mit Kurzzeitverträgen und zu deutlich niedrigeren Löhnen. Dies sagt natürlich im Einzelfall nichts über die Motivation, Befähigung oder Einsatzbereitschaft der Sozialbetreuer*innen im Umgang mit den Bewohner*innen aus, lässt aber vermuten, dass die berufliche Kompetenz und das nötige Fachwissen, u. a. im Umgang mit traumatisierten Menschen, grundsätzlich niedriger war.
In die Sprache meines damals siebenjährigen Sohnes, der mich immer wieder in die Unterkünfte begleitete, übersetzt hieß das:
„Dieses Haus sieht von außen ganz schön aus. Aber von Innen sieht das wie ein Gruselhaus aus.“
Auf die Problematik, dass Ehrenamtliche umgekehrt durch ihren unangekündigten Zutritt zu den Räumen der Sammelunterkünfte die Privatsphäre der Bewohner*innen zusätzlich beeinträchtigen konnten, wurde oben verwiesen und sie wird nachfolgend hinsichtlich des Personals in den Unterkünften noch einmal aufgegriffen.
Nicht im Rahmen meiner Datenerhebung, aber während meiner ehrenamtlichen Tätigkeit, wurde mir auch immer wieder davon berichtet, dass sich alleinstehende Frauen weniger gern in Gemeinschaftsbereichen aufhielten, wenn dort Männer anwesend waren.
Laut dem Hausmeister war der alte Fernseher kaputt gegangen und musste deshalb entsorgt werden. Allerdings konnte ich zumindest während meiner Zeit dort nicht beobachten, dass das neue Gerät, das eine meiner Kolleginnen gestiftet hatte, jemals aufgestellt wurde.
Da ich mich auch nach Beendigung meiner „offiziellen“ Forschung immer wieder mit einigen der Forschungsteilnehmer*innen, die mittlerweile zu guten Bekannten geworden waren, traf, erfuhr ich immer wieder einige interessante Details, die ich nicht systematisch in die Datenauswertung einfließen ließ. An dieser Stelle erscheint es mir aber relevant genug, um hier Erwähnung zu finden. So zeigte mir eine Bewohnerin der nunmehr „privat“ vermieteten Unterkunft bei meinem Besuch schwarze Schimmelflecken an ihrer Wand. Sie hätte dies schon mehrmals dem Hausverwalter gesagt, der hätte sie aber immer nur dazu aufgefordert, die Fenster Tag und Nacht geöffnet zu lassen. Als sie nach den Heizkosten, die dadurch entstehen würden fragte, wurde ihr gesagt, die Heizkosten seien in der Miete enthalten, sie solle sich keine Sorgen machen. Ähnlich erging es wohl anderen Mieter*innen. Dass diese Aussage aber so nicht stimmte, erfuhren die Bewohner*innen, als sie ein halbes Jahr später die Jahresabrechnung erhielten, in der von meiner Bekannten allein über 1600 Euro Nebenkostennachzahlung gefordert wurden. Ähnlich erging es anderen Mieter*innen, von denen vergleichbare Summen gefordert wurden. In einem anderen Fall weigerte sich der Eigentümer wegen der Schimmelflecken zudem, die erhobene Kaution zurückzuerstatten und erklärte, der Schimmel käme davon, dass nicht richtig gelüftet worden war. Und das, obwohl die Familie, die das Zimmer bewohnte, sogar auf eigene Kosten die Wände gestrichen hatte. Aber der Schimmel war eben ein tieferliegendes, hausweites Problem. Die Bewohner*innen wurden also regelrecht dazu gedrängt, die Heizkosten in die Höhe zu treiben und „zum Fenster raus“ zu heizen und dann hinterher zur Nachzahlung hoher Summen aufgefordert, was die oben zitierte Verknüpfung von „
den Flüchtlingen“ mit der Charakterisierung als Ressourcenverschwender*innen geradezu absurd und schlicht unwahr machte. Einige der Fälle liegen mittlerweile bei einem*r Anwält*in und es bleibt zu hoffen, dass die Bewohner*innen auf diese Weise Recht bekommen und sich gegen diese machtvollen Praktiken zur Wehr setzen können.
Das Wort „verboten“ sagte er in seiner Muttersprache.
Ein anderes Beispiel ist die im öffentlichen Diskurs zeitweise virulent geführte Neiddebatte um „Flüchtlinge“ und Smartphones (vgl. bspw. Die Zeit 2018). Dass Smartphones auf der Flucht mitunter lebensnotwendig waren und auch nach der Ankunft bei weitem keine Luxusartikel darstellten, sondern essentielle Gebrauchsgegenstände waren, zeigte sich dagegen in vielen Aussagen der Bewohner*innen. Sie nutzten die Smartphones u. a. als Werkzeug zum Deutschlernen oder zur Recherche wichtiger Informationen. Nur die allerwenigsten Bewohner*innen besaßen einen Laptop oder Computer und somit eine andere Möglichkeit, sich im Internet lokale Informationen zu beschaffen oder über soziale Medien mit Angehörigen in Kontakt zu bleiben (vgl. bspw. FTE4, Abs. 6; FTE13, Abs. 33; FTE25, Abs. 4). Linda, die als alleinerziehende Mutter eines einjährigen Kindes keine Möglichkeit hatte, an offiziellen Deutschkursen teilzunehmen, erzählte mir zum Beispiel, dass sie in ihrer Freizeit ihr Smartphone zum Deutschlernen verwendete: „
So I need that. It is very important for me to talk Deutsch“ (In14, Abs. 54; so auch Julia, vgl. FTE3, Abs. 11).
Das heißt nicht, dass es nicht auch andernorts offene Proteste gegen schlechte Unterbringungsbedingungen mit konkreten Forderungen seitens der Bewohner*innen gab. In den (sozialen) Medien wurde immer wieder davon berichtet. Wie im Fazit des Kapitel
3 beschrieben, sind offene Protestereignisse und radikale Infragestellungen der Unterbringungsform „Sammelunterkunft/Lager“ als solche durchaus auch im Sinne der Betrachtung der Sammelunterkünfte als Räume des Politischen relevant. Allerdings wäre, um diese Ereignisse zu erforschen, eine an die Bewegungsforschung orientierte Methodologie und keine ethnographische, lokal stark begrenzte, Studie sinnvoll. Die hier untersuchten Aspekte des Politischen
writ small beschreiben deshalb nur eine bestimmte, auf der Alltagsebene angesiedelte Artikulationsform des Politischen, erweitern dessen theoretische Erklärungskraft und schließen nicht etwa aus, dass es andere, offenere, radikalere Spielformen ebenfalls gibt.
Ich habe mich an anderer Stelle bereits mit Fragen von materieller (Wieder-)Aneignung der Räume der Sammelunterkünfte beschäftigt (vgl. Hartmann 2017a, 235 ff.) und werde hier einige Aspekte noch einmal aufgreifen um darzulegen, aus welcher theoretisch-konzeptionellen Perspektive in der vorliegenden Arbeit auf Fragen von Raumaneignung und materieller Ent- bzw. Umordnung in den Sammelunterkünften geschaut wurde. Beispiele für die Aneignung des Stadtraumes bzw. der Umgebung der Sammelunterkünfte oder der „Aneignung“ eigenen Wohnraums durch Umzug wurden unter der Kategorie Mobilität codiert und werden im nächsten Unterkapitel thematisiert.
Mit Fragen von „Aneignung“ beschäftigen sich verschiedene geistes- und sozialwissenschaftliche Disziplinen von der Anthropologie über die Literaturwissenschaften bis hin zur Psychologie (vgl. exemplarisch Sanders 2006; Schneider 2006). Statt einer umfangreichen, allgemeinen Abhandlung des Konzeptes bleibt der Fokus hier auf Vorgängen und Praktiken der Aneignung von Raum bzw. Räumen, da diese für den Dialog mit den empirischen Beobachtungen am relevantesten sind.
Auch in diesen Gesprächen zeigten sich immer wieder die mit der Beschreibung materieller Dinge und Praktiken verbundenen Entwertungen (siehe oben). So machte sich der Hausmeister bspw. über einen Bewohner lustig, der wohl irgendwo eine Sackkarre ausgeliehen hatte, um damit eine Waschmaschine vom Sperrmüll durch die ganze Stadt zurück zu den Unterkünften zu bringen, obwohl man eigentlich auf den ersten Blick sehen könne, dass diese kaputt war, da das Gerät nicht einmal mehr ein Stromkabel habe (vgl. FTE3, Abs. 5).
Dieser Besuch fand am 28.08.2014 im Rahmen meiner sechsmonatigen (ein Tag/Woche) Hospitation in einer Erstaufnahmeeinrichtung statt. Diese Phase diente der Konzeptentwicklung für meine Dissertation, ging aber der systematischen Phase der ethnographischen Forschung voraus (siehe auch Kapitel
4).
Wie sie sagte, wollte sie damit auch einer „Arbeit“ nachgehen.
Vgl. für ein Aufscheinen des Lagers gerade in Momenten (vermeintlicher) Normalität in thailändischen Flüchtlingslagern Bochmann (2019).
Auch Pieper spricht im Kontext seiner Forschung davon, dass die Bewohner*innen häufig davon berichten, dass sie sich schämen würden, Besuch in den Unterkünften zu empfangen und umgekehrt deutsche Eltern ihren Kindern verboten, Schulkamerad*innen in den Unterkünften zu besuchen – was letztlich natürlich deren Isolation weiter begünstigte (vgl. Pieper 2008, S. 317).
Da es in diesem Kapitel in erster Linie um die empirischen Beobachtungen der Kontrolle über die Bewegung der Bewohner*innen geht und nicht um eine komplexe theoretische Annäherung an das Konzept der Mobilität, wird hier keine weitere analytische Unterscheidung zwischen den Begriffen Bewegung und Mobilität eingeführt, wie sie sich etwa bei Cresswell findet (vgl. Cresswell 2006, 2 ff.) Stattdessen werden die Begriffe Bewegung und Mobilität weitgehend synonym verwendet.
Martina Tazzioli spricht in ihrer Analyse migrantischer Mobilitäten auch von einem zweifachen Verhältnis zwischen Regierung und Migration, in welchem die Mobilität von Migrant*innen sowohl ein Objekt von Regierungspraktiken als auch eine bestimmte Regierungstechnik darstellt (vgl. Tazzioli 2019).
Die Bund-Länder-Kommission legt die Quoten für die Verteilung jedes Jahr erneut fest und bestimmt, welchen Anteil der Asylsuchenden jedes Bundesland aufnimmt. Auch das Herkunftsland der*s Asylbewerbers*in hat Einfluss auf den Standort ihrer*seiner Erstunterbringung, da die Außenstellen des Bundesamtes in unterschiedlichen Erstaufnahmeeinrichtungen unterschiedliche Länder schwerpunktmäßig bearbeiten.
Die Residenzpflicht gilt also für Personen, die sich noch im Asylverfahren befinden sowie für Geduldete, also Personen, die ausreisepflichtig sind, aber von deren Abschiebung vorübergehend abgesehen wird.
Wohnsitzregelungen gelten seit Inkrafttreten des Integrationsgesetzes 2016 sogar für Menschen mit Schutzstatus, also auch für Asylberechtigte (Art. 16a GG), anerkannte „Flüchtlinge“ nach der Genfer Konvention (§ 3 AsylG), subsidiär Schutzberechtigte (§ 4 AsylG) und Menschen, die aus humanitären Gründen in Deutschland bleiben können. Laut dem geänderten § 12a AufenthG müssen auch diese Personengruppen u. U. bis zu drei Jahren in dem Bundesland wohnen bleiben, das für ihr Asyl- und Aufnahmeverfahren zuständig war. Ausnahmen stellen die Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung der Personen oder ihrer minderjährigen Kinder oder Lebens-/Ehepartner*innen dar. Darüber hinaus können die zuständigen Behörden den von der Wohnsitzregelung betroffenen Personen sogar einen bestimmten Wohnort zuweisen (§ 12a Abs. 2 u. 3 AufenthG). Wohnsitzauflagen nach § 61 AufenthG gelten dagegen vor allem für „vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer“, also Geduldete.
Ab August 2018 war der Familiennachzug auch für subsidiär Geschützte in begrenzten Rahmen wieder möglich, allerdings nur bis zu einem deutschlandweiten, monatlichen Kontingent von 1000 Personen.
Für Asylbewerber*innen aus einem Land, für die – rein statistisch gesehen – ein dauerhafter Aufenthalt, so wie im Gesetz gefordert, nicht zu erwarten war, war die Teilnahme an einem Integrationskurs, während ihr Asylverfahren noch lief, gar nicht möglich, was für die Betroffenen sehr schwer und auch sehr schwer zu verstehen war (vgl. FTE39, Abs. 15).
Wobei die Dauer dieses Übergangszustandes, wie hier bereits mehrfach angesprochen wurde, stark von weiteren Faktoren, allen voran vom Herkunftsland, der damit verbundenen Bleibeperspektive und der häufig daran gekoppelten Dauer der Asylverfahrens zusammenhängt.
„Zwangsmigrationen sind meist massenhafte Ortsbewegungen von Menschen, die durch unmittelbaren (Anordnung zum Verlassen eines Ortes wird mit Gewaltanwendung durchgesetzt) oder situativen Zwang (massive Bedrohung durch Gewalt), ausgeübt durch staatliche Machtorgane (selbständig oder mit internationaler Billigung) oder lokale Akteure (Separatisten, paramilitärische Gruppierungen etc.), hervorgerufen werden. Das Vorgehen von (im weiten Sinne verstandenen) Machthabern bildet dabei den Impuls, der die Bevölkerungsbewegung auslöst, was nicht bedeutet, dass diese Migrationen organisiert, kontrolliert oder in weniger gewaltsamer Form verlaufen würden“ (Ruchniewicz 2015).
Da dieser Aspekt der Fluchtgeschichte der Person den zuständigen Mitarbeiter*innen sicherlich bekannt ist, verwende ich hier ein zweites Pseudonym, damit andere Darstellungen nicht mit ihr in Verbindung gebracht werden können.
Versuche von staatlicher Seite, die Abschiebungen weiter zu beschleunigen und immer effizienter zu gestalten, fanden ihre räumliche Entsprechung zudem in den sog. Zentren für Ankunft, Entscheidung und Rückführung („ANKER-Zentren“) oder „Landesaufnahmestellen“, die in verschiedenen Bundesländern seit 2018 eingeführt wurden. Eine systematische, qualitative Erforschung dieser Einrichtungen wäre ein interessantes Projekt für weitere Studien, kann aber an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden.
Das sog. Dublin-Verfahren legt fest, dass derjenige europäische Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist, in dem die asylsuchende Person zuerst die Europäische Union betreten hat. Hierfür wird in diesem Staat, häufig die südeuropäischen Mittelmeeranrainerstaaten, die Erstregistrierung vorgenommen und die Fingerabdrücke in der EURODAC Datenbank gespeichert. Reist die Person dennoch in einen anderen Staat weiter und es wird dort festgestellt, dass sie bereits in einem anderen europäischen Land registriert wurde, droht binnen einer Frist von sechs Monaten die Rücküberstellung in das Ersteintrittsland, wo dann auch das Asylverfahren durchzuführen ist. Wenn der*die Asylbewerber*in allerdings nicht innerhalb der Überstellungsfrist von sechs Monaten zurückgeführt wurde, wird automatisch das Land für das Asylverfahren zuständig, in dem sich die Person aufhält (bestätigt durch das Urteil des EuGH vom 25.10.2017, Az. C-201/16). Rechtsgrundlage des Dublin Verfahrens ist die derzeit gültige Dublin-III-Verordnung (Nr. 604/2013).
Bei Valentin Feneberg heißt es dazu:
„In Deutschland gilt ein rechtlicher Vorrang der sogenannten ‚freiwilligen Rückkehr‘ von Ausreisepflichtigen vor der Abschiebung. Dabei kommen Programme der (finanziellen) Rückkehrförderung zum Einsatz, deren Umsetzung in eine komplexe Akteurskonstellation zwischen Bund und Ländern eingebettet ist“ (Feneberg 2019, S. 8).
Siehe für die prekäre Situation Geflüchteter in Italien bspw. Bethke und Bender (2011).
Für die Jahre 2014–2019 sah Deutschland praktisch von einer Dublin-Überstellung nach Italien für Familien mit Kindern unter drei Jahren ab, da sowohl das Bundesverfassungsgericht (Urteil vom 17.09.2014) als auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Urteil vom 4.11.2014) die Überstellungen für Familien mit Kindern wegen der Unterbringungssituation in Italien gestoppt hatte und unklar war, ob die Auflage, dass Italien vor der Überstellung eine adäquate Unterbringung sicherstellen konnte, in jedem Fall erfüllen werden würde.
Ich verwende hier zur Wahrung der Anonymität einen zweiten Alias-Namen für die Person, um in der Zusammenschau der Darstellungen keine Rückschlüsse auf ihre Identität zuzulassen.
Wie oben bereits erläutert wurde, wird Gewalt auch hier nicht nur als „direkte“ Gewalt gefasst. Auch strukturelle Formen von Gewalt, Hungersnöte, fehlende Gesundheitsversorgung etc., können Menschen dazu zwingen zu fliehen.
Ich verwende hier zur Wahrung der Anonymität einen zweiten anonymisierten Namen für die Person, um in der Zusammenschau der Darstellungen keine Rückschlüsse auf ihre Identität zuzulassen.
Ich verwende hier zur Wahrung der Anonymität einen zweiten Alias-Namen für die Person, um in der Zusammenschau der Darstellungen keine Rückschlüsse auf ihre Identität zuzulassen.
Li et al. haben in diesem Zusammenhang beispielsweise auch auf die Korrelation zwischen „
post-migration stress“ (Li et al. 2016) und dem Auftreten von psychischen Erkrankungen unter Geflüchteten und Asylsuchenden in Europa hingewiesen.
In Anlehnung an bell hooks beschreiben auch Feldman und Stall die essentielle Bedeutung von „Zuhause“ als kongruent mit einem Gefühl des Ankommens, des Sich-Sicher-Fühlens:
„[A]ppropriation of the meaning of home is a universal and vital process of ‚at-homeness‘ or of ‚dwelling in the world‘, one that is essential to psychological well-being and the experiences of harmony with the world“ (Feldman und Stall 1994, S. 174). Insbesondere für unterdrückte Gruppen der Gesellschaft sei die Möglichkeit, sich einen Ort als Zuhause anzueignen und sich darin sicher zu fühlen, nicht nur reiner Selbstzweck, sondern auch eine politische Handlung, die es einem erlaubt, sich zu erholen, sich zu widersetzen und zu heilen von der
‘brutal reality of racial apartheid, of domination’ (hooks 1990: 42; cited in Feldman and Stall 1994: 189). Auf diese Weise kann das eigene Zuhause für unterdrückte Gruppen/Individuen auch zu einer
site of resistance werden:
„[O]ne’s homeplace was the one site where one could freely confront the issues of humanization, where one could resist“ (ibid.).
Kritiker*innen sprechen auch vom „Asyl-Roulette“, da die Asylbewerber*innen, je nach den für sie zuständigen BAMF-Entscheider*innen und Verwaltungsgerichten eben Glück oder Pech haben können, was den Ausgang der Entscheidungen über ihren Asylantrag bzw. die Aussichten einer Klage gegen diese Entscheidungen angeht. So brachte eine kleine Anfrage der Partei DIE LINKE im Bundestage beispielsweise ans Licht, dass laut der Zahlen des Innenministeriums Asylsuchende an 22 BAMF-Standorten in Deutschland signifikant schlechtere Chancen auf einen positiven Ausgang des Verfahrens, d. h. auf einen Schutzstatus haben, als dies im Schnitt an den anderen Standorten der Fall ist (vgl. Tagesschau 2019b). Ähnlich äußert sich zum Beispiel auch Verwaltungsrichter Jan Bergmann in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur hinsichtlich der je nach Standort sehr unterschiedlichen Entscheidungspraxis der Verwaltungsgerichte (vgl. Deutschlandfunk Kultur 2016).
Ökologische Sicherheit bezieht sich auf den Zugang zu einem intakten Ökosystem mit sauberer Luft, fruchtbaren Böden etc. Sie
„umfasst den Schutz vor Gefahren, die aus der Luft-, Land- beziehungsweise Wasserverschmutzung resultieren oder durch Naturkatastrophen bedingt sind“ (Werkner und Oberdorfer 2019, S. 3; vgl. auch UNDP 1994, S. 28). Während die Verletzung von ökologischer Sicherheit zwar ursächlich für die Flucht mancher Menschen war, spielte sie im Alltag der Sammelunterkünfte und für das Erleben dieser Räume durch die Bewohner*innen keine Rolle.
Wie auch in der Beschreibung und Analyse der vorangegangenen Kategorien der zwischenmenschlichen Beziehungen, Materialität und Mobilität können hier keine für
alle Sammelunterkünfte in Deutschland gültigen Aussagen gemacht werden. Stattdessen wird ein Ausschnitt auf Basis der von mir beforschten Einrichtungen gezeigt. Allerdings lässt sich auch in Bezug auf Aspekte (der Verletzung) von menschlicher Sicherheit sagen, dass sich die gemachten Beobachtungen ihrer Tendenz nach mit Erkenntnissen aus anderen Studien decken (siehe auch Abschnitt
1.3.2). Die Sicherheitssituation der Bewohner*innen in den von mir beobachteten Unterkünften schien sich nicht grundlegend von der Situation in vielen anderen Unterkünften in Deutschland zu unterscheiden – auch wenn in den Beschreibungen dieser Situation nicht explizit auf den Begriff der menschlichen Sicherheit rekurriert wurde (vgl. hierfür Chouler-Ocak und Kurmeyer 2017; Cremer 2014; Die Landesflüchtlingsräte und Pro Asyl 2011; DIMR 2016, 2017; Flüchtlingsrat Baden-Württemberg 2018; Gerarts 2016; Hersh und Obser 2016; Lewek und Naber 2017; Müller 2013; Rabe 2015; Wendel 2014).
Da sich die Bewohner*innen der Sammelunterkünfte alle rechtmäßig in Deutschland aufhielten, hatten sie
in der Regel Zugang zu staatlichen Sozialleistungen. Dies trifft auf Menschen, die sich illegalisiert in Deutschland aufhalten, die beispielsweise untergetaucht sind, als Opfer von Menschenhandel nach Europa kamen, deren Papiere abgelaufen sind, die illegalisiert eingereist sind ohne anschließend einen Antrag auf Asyl zu stellen etc. nicht zu. Da sich meine Forschung mit dieser Gruppe illegalisierter Migrant*innen nicht beschäftigt hat, kann eine Darstellung ihrer – oftmals massiv gefährdeten – ökonomischen Sicherheitssituation hier nicht geleistet werden.
Im AsylbLG ist der Leistungsbezug von hilfsbedürftigen Menschen im Asylverfahren, geduldeten und ausreisepflichtigen Personen geregelt (§ 1 Abs. 1 AsylbLG). Erst nach 15-monatigem Aufenthalt in Deutschland können Schutzsuchende Zugang zur Sozialhilfe (SGB XII) bzw. zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II) erhalten.
Gründe waren beispielsweise, dass Erhöhungen entsprechend der Teuerungsrate über mehrere Jahre ausgesetzt wurden, Leistungen für Bewohner*innen von Sammelunterkünften aufgrund angeblicher Synergieeffekte gekürzt oder statt Geld zunehmend Sachleistungen ausgezahlt wurden.
Auch hinsichtlich dieses Aspekts der menschlichen Sicherheit ist die Situation für illegalisierte Menschen besonders problematisch, da diese, anders als Menschen mit Aufenthaltsgestattung oder schutzberechtigte Personen, keinerlei Zugang zu regulärer Gesundheitsversorgung haben und im Krankheitsfall auf ehrenamtliche Strukturen, wie sie beispielsweise von den Medinetzen organisiert werden, angewiesen sind.
Vulnerabilität/individuelle Verwundbarkeit der Bewohner*innen der Sammelunterkünfte muss also in Verbindung mit ihrem sozialen Umfeld gelesen werden, das insbesondere für die Frauen aber auch queere Geflüchtete aufgrund verschiedener Faktoren von verstärkter Schutzlosigkeit und Unsicherheit geprägt sein kann. Als verwundbare Gruppe sind Frauen und LGBTIQ Personen in Sammelunterkünften vermehrt Risiken und Stressfaktoren ausgesetzt (externe Dimension) und haben als
geflüchtete Personen aber gleichzeitig oft eingeschränkte Möglichkeiten, diese zu bewältigen (interne Dimension). Diese fehlende Bewältigungskompetenz kann beispielsweise aus fehlenden Netzwerken vor Ort aufgrund des Fluchthintergrunds oder aus mangelndem Zugang zu lokalen Unterstützungsangeboten u.a. aufgrund von fehlenden Sprachkenntnissen, aus individuellen psychischen Vorbelastungen durch die Fluchterfahrung etc. resultieren und hat also ihrerseits eine individuelle wie auch soziale Komponente (vgl. Chambers 1989).
Das
„Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ („
Istanbul-Konvention“) vom Mai 2011 wurde von Deutschland im Oktober 2017 ratifiziert und legt bspw. das Recht auf Zugang zu Schutzräumen für Opfer von Gewalt fest.
Auf die menschenrechtliche Relevanz der Verletzung der Privatsphäre der Bewohner*innen in Gemeinschaftsunterkünften verweist beispielsweise auch der Blogbeitrag von Claudia Engelmann (2018). Eine Erörterung der Menschenrechtslage Geflüchteter in Gemeinschafts- und Erstaufnahmeeinrichtungen finden sich außerdem in Berichten des Deutschen Instituts für Menschenrechte (vgl. DIMR 2016, 2017).
- Titel
- Analyse: Sammelunterkünfte für Geflüchtete zwischen An- und Ent-Ordnung
- DOI
- https://doi.org/10.1007/978-3-658-32157-4_5
- Autor:
-
Melanie Hartmann
- Sequenznummer
- 5
- Kapitelnummer
- Kapitel 5