Der Fachbeitrag untersucht die Vorschläge von Thomas Kron und Lena M. Verneuer zur Erneuerung der soziologischen Gewaltforschung durch das Modell der soziologischen Erklärung. Die Autoren kritisieren die methodischen Regeln und die selektive Lektüre des Forschungsstands, die zu einer verzerrten Darstellung führen. Besonders hervorgehoben wird die Problematik der methodischen Regeln des Modells und die selektive Betrachtung des Forschungsstands, die die Vorschläge infrage stellen. Die Analyse zeigt auf, dass die Vorschläge von Kron und Verneuer nicht die hochgesteckten Erwartungen erfüllen und dass eine tiefere Betrachtung des Forschungsstands notwendig ist.
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Zusammenfassung
In ihrem Aufsatz „Struktur? Physis? Situation? Zur Erklärung von Gewalt“ werben Thomas Kron und Lena M. Verneuer (2020) dafür, Gewalt mithilfe des Modells der soziologischen Erklärung zu untersuchen. Die Replik dient dazu zu zeigen, dass die Art und Weise, wie die beiden das Modell fruchtbar zu machen versuchen, die soziologische Gewaltforschung nicht weiterbringt. Das liegt im Wesentlichen an drei Problemen des Ansatzes: (1) Kron und Verneuer meinen, die methodischen Regeln des Modells der soziologischen Erklärung leisteten gleichsam die Begriffsexplikation, was als Gewalt gelten soll – und greifen damit an den methodologischen Anforderungen des Modells selbst vorbei. (2) Der Problemzuschnitt basiert auf einer selektiven Lektüre des Forschungsstands. Er verliert sofort an Plausibilität, wenn wir jüngere Studien mit in die Betrachtung einbeziehen. (3) Ihr besonderes Augenmerk liegt darauf, die mikrosoziologische Erklärung von Gewalt, die Randall Collins formuliert hat, in das Modell der soziologischen Erklärung zu transponieren. Sie klären jedoch nicht die kausalitätstheoretischen Voraussetzungen, die für eine solche „Übersetzung“ nötig sind. Die Frage, worin die Fruchtbarkeit des Modells der soziologischen Erklärung für die Gewaltforschung liegen könnte, bleibt damit letztlich unbeantwortet.
In ihrem Aufsatz „Struktur? Physis? Situation? Zur Erklärung von Gewalt“ werben Thomas Kron und Lena M. Verneuer (2020) dafür, Gewalt mithilfe des Modells der soziologischen Erklärung1 zu untersuchen. Sie sehen darin vor allem zwei Vorteile: Zum einen könne es „scheinbar unvereinbare Positionen“ (S. 393)2 miteinander verknüpfen. Sie haben dabei einerseits Ansätze vor Augen, die sich mit Situationen der Gewaltausübung befassen, andererseits solche, die strukturelle Ursachen und Kontextbedingungen von Gewalt betrachten. Zum anderen verschaffe das Modell der soziologischen Gewaltforschung ein solides methodologisches Fundament, an dem es momentan hapere.
Um ihren Vorschlag zu begründen, zeichnen die beiden erstens das Bild einer „strukturvergessenen“ Gewaltforschung (S. 396). Sie nehmen hier Kritiken von Markus Schroer (2000), Martin Endreß (2014) und Peter Imbusch (2017) auf und geben ihnen den Spin, dass in mikrologischen Analysen, für die ihnen insbesondere Wolfgang Sofsky (1996) als Gewährsmann gilt, ein enges physisches Gewaltverständnis „nicht kontextualisiert und in kein Erklärungsmodell eingepasst wird, welches strukturelle Randbedingungen einbezieht“ (S. 396). Sie begreifen die momentane Gewaltforschung dabei als zu situationistisch angelegt. Ansätzen, die sich mit dem tatsächlichen Vollzug von Gewalt als eines leiblichen Geschehens befassen, stünden momentan nur forschungsprogrammatische Plädoyers gegenüber, die darauf abzielen, strukturelle Dimensionen von Gewalt begreiflich zu machen – Ursachen und Folgen, die in konkreten Vollzügen nicht so ohne Weiteres sichtbar sind. Beide Positionen halten sie allerdings nicht für unvereinbar, sondern für komplementär.
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Damit eng verknüpft kritisieren Kron und Verneuer zweitens eine weitreichende „Erklärungsvergessenheit“ (S. 399) innerhalb des Forschungsfelds, die aus ihrer Sicht maßgeblich aus unergiebigen Begriffsdebatten resultiert. Sie sehen vor allem das Problem, dass Gegenstandsbezug (was begreifen wir als Gewalt?) und Erklären (wie gehen wir vor?) nicht sauber auseinandergehalten würden. Sie legen dabei ein enges, kausalgesetzliches Verständnis von Erklären zugrunde, bei dem es darum geht, Bedingungskonstellationen für Ursache-Wirkung-Nexus zu bestimmen, diese Zusammenhänge handlungstheoretisch zu begründen und dabei dem konkreten Geschehensverlauf Rechnung zu tragen (s. dazu u.a. S. 309 f. und S. 403, Fn 12).
So wie Kron und Verneuer den Zustand der soziologischen Gewaltforschung beschreiben, erscheint der Griff zum Modell der soziologischen Erklärung geradezu alternativlos (auch wenn sich bei Schroer, Endreß oder Imbusch selbst keine explizite Forderung nach einem solchen Ansatz findet3). Das Modell lenkt schließlich den Fokus auf Handlungsvollzüge, ist struktursensibel und darauf angelegt, die soziohistorischen Randbedingungen zu benennen, unter denen individuelle Handlungen bestimmte kollektive Resultate zeitigen. Insbesondere Hartmut Esser hat zu diesem Zweck die Unterscheidung der drei „Logiken“ der Situation, der Selektion und der Aggregation eingeführt, um die (gleichsam strukturbedingte und handlungstheoretische) Mikrofundierung von (strukturellen) Makrophänomenen zu erörtern, auf denen das primäre Erkenntnisinteresse liegt – also z.B. das „zu erklärende Gewaltaggregat“, wie Kron und Verneuer schreiben.4
Die beiden geben sich erstaunt, dass der Gewaltforschungsdiskurs das Modell bislang weitgehend ignoriert habe (S. 400 f.).5 Ich habe allerdings starke Zweifel, ob ihr Vorschlag die hochgesteckten Erwartungen tatsächlich erfüllen kann. Zu gravierend sind die immanenten Defizite ihrer Argumentation. Konkret sehe ich v.a. drei Probleme, die ich hier zunächst kurz anreiße, um sie dann im weiteren Verlauf detaillierter zu schildern: (1) Kron und Verneuer meinen, die methodischen Regeln des Modells der soziologischen Erklärung leisteten gleichsam die Begriffsexplikation, was als Gewalt gelten soll – und greifen damit an den methodologischen Anforderungen des Modells selbst vorbei. Sie nehmen dem Modell quasi den Gegenstand. (2) Der Problemzuschnitt basiert auf einer selektiven Lektüre des Forschungsstands. Er verliert sofort an Plausibilität, wenn wir jüngere Studien mit in die Betrachtung einbeziehen. (3) Ihr besonderes Augenmerk liegt darauf, die mikrosoziologische Erklärung von Gewalt, die Randall Collins formuliert hat, in das Modell der soziologischen Erklärung zu transponieren. Sie klären jedoch nicht die kausalitätstheoretischen Voraussetzungen, die für eine solche „Übersetzung“ nötig sind – und entziehen damit der in Aussicht gestellten Synthese faktisch die Grundlage.
Die Idee, das Modell der soziologischen Erklärung für die Gewaltforschung fruchtbar zu machen, ist ohne Zweifel eine Diskussion wert. Wie Kron und Verneuer die Idee präsentieren, ist dagegen wenig überzeugend. Doch der Reihe nach:
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(ad 1) Das Modell der soziologischen Erklärung steht wissenschaftstheoretisch in der Tradition des modernen Empirismus. Es handelt sich um ein „formalisiertes Sprachsystem“ (Stegmüller 1989, S. 360), das sich aus einem überschaubaren und leicht zu erschließenden Bündel von klar definierten Termini und Anwendungsregeln zusammensetzt. Dadurch setzt sich das Modell nicht nur von den „nichttrivialen Vagheiten und Mehrdeutigkeiten“ (ebd.) der Alltagssprache ab, sondern sticht auch durch seinen vergleichsweise hohen Grad der Formalisierung im polyphonen Konzert soziologischer Forschungsansätze hervor.
Eine der maßgeblichsten Formeln des Modells ist bekanntlich die strenge Unterscheidung zwischen Explanandum (das zu erklärende Phänomen) und Explanans (das Bündel von erklärenden Aussagen, das die Ursachen benennt, aus denen das erklärungsbedürftige Phänomen folgt) (Esser 1993, S. 40). Kron und Verneuer entsprechen dieser Anforderung, indem sie einerseits dafür plädieren, das Explanans von Gewalt anhand der Logiken der Situation, der Selektion und der Aggregation6 zu bestimmen (nicht zuletzt gliedern sie ihren Text anhand dieses Dreischritts). Andererseits bezeichnen sie die Explananda einer solchen Gewaltforschung als „Gewaltaggregate“ – ich hatte es bereits erwähnt. Das Problem ist allerdings, dass sie sich nicht systematisch damit auseinandersetzen, welche empirischen Vorgänge eigentlich mit diesem Konzept gemeint sein sollen. Eher en passant und über den Text verstreut erfährt man, dass es sich bei diesen Aggregaten um „Phänomene hybrider Sozialität“ (S. 397, Fn 4), „Gewalthandlungen“ (S. 402, 406) und „Gewaltausübung“ (S. 402), einen „Ausbruch kollektiver Gewalt“ (in diesem Fall zwischen Polizist:innen und Demonstrant:innen) (S. 405) oder das „Töten anderer Menschen“ (S. 412) handeln kann.
Genauere Erörterungen fehlen – und das hat seinen Grund. Denn das Argument der beiden – der Wortbestandteil „‑aggregat“ deutet es an – läuft darauf hinaus, dass die Frage, wie das Explanandum beschaffen ist, mithilfe der Transformationsregel des Modells geklärt werden könne: wenn nämlich „der transformierende Mechanismus analysiert wurde, unter welchen zusätzlichen (ggf. kulturellen oder strukturellen) Bedingungen die Überwindung von Konfrontationsangst hinreichend zum Übergang in Gewaltaggregate durch das handelnde Zusammenwirken der Akteure ist“ (S. 412). Kron und Verneuer vertreten den Standpunkt, dass die methodische Regelbefolgung innerhalb des Modells die genauere Beschreibung des zu erklärenden Sachverhalts ersetzen könne. Sie schreiben: „Was benötigt wird, ist zunächst eine Vorstellung darüber, wie erklärt werden soll, um sodann mögliche Theorien für ein solches Erklärungsmodell anzubringen, welches dann wiederum einen entsprechenden Gewaltbegriff mitführt.“ (S. 400) Ich gebe zu, dass ich nicht sicher bin, was „mitführen“ konkret meint. Aber abgesehen davon, offenbart sich in diesem Satz in nuce die Programmatik des Aufsatzes: Wenn wir ein passendes Erklärungsmodell haben, dann wissen wir gleichzeitig, was begrifflich als Gewalt gelten soll, was wir also zu erklären haben.
Die beiden vertreten somit einen absurden Verifikationismus, der darin besteht, dass sich der Gegenstandsbezug eines Begriffs wie Gewalt wie von selbst klärt, wenn man mithilfe eines formalistischen Erklärungsmodells zu wissen meint, was die Sätze wahr macht, in denen der betreffende Begriff enthalten ist.7 Damit verwischen sie den Unterschied zwischen Explanans/Explanandum und Explikans/Explikandum, da sie Explanandum und Explikandum gleichsetzen und suggerieren, auf ein Explikans verzichten zu können. An die Stelle des von ihnen monierten Problems, dass Gegenstandsbezug (Was begreifen wir als Gewalt?) und Erklären (Wie gehen wir vor?) in der soziologischen Gewaltforschung zu verquickt diskutiert und nicht analytisch getrennt würden, setzen sie die merkwürdige Vorstellung, das Erklärungsmodell kläre den Gegenstandsbezug.
Ihnen entgeht dabei, dass die Frage, wie adäquat es ist, ein Phänomen beispielsweise als „Gewaltaggregat“ zu bezeichnen, der Frage, ob die Erklärung dieses Phänomens wahr ist, im Forschungsprozess sowohl zeitlich als auch logisch vorausgeht. Ihnen entgeht daher auch, dass das Modell der soziologischen Erklärung mit Blick auf die konkrete Gestalt des Explanandums ein außerordentlich anspruchsvolles Sprachsystem ist, weil die Modellierung der Erklärung im Kern als ein „reverse engineering“ funktioniert. Erst gilt es, das Explanandum in seiner konkreten Gestalt zu begreifen, dann beginnt die Arbeit am Explanans.8 Esser selbst (1993, S. 91) betont, dass die Art des Explanandums für das konkrete, am Modell orientierte Vorgehen „eine große Bedeutung“ habe – auch wenn die „grundsätzliche Struktur soziologischer Erklärungen“ so angelegt sei, dass sie für möglichst viele Arten von Explananda anwendbar ist. In der Weise, wie Kron und Verneuer das Modell dagegen präsentieren, blenden sie diesen elementaren Arbeitsschritt aus – wonach es nämlich zunächst einmal die Art des Explanandums zu explizieren gilt. Ihr Vorschlag ist daher kaum geeignet, um über die besonderen Vorzüge des Modells der soziologischen Erklärung für die Gewaltforschung aufzuklären. Es mag diese Vorzüge haben, doch sie kommen in den Ausführungen der beiden kaum zum Tragen.
(ad 2) Die verifikationistische Lesart des Modells der soziologischen Erklärung, die Kron und Verneuer vorstellen, versuchen sie mithilfe einer sehr selektiven Erörterung des Forschungsstands plausibel zu machen. In der Zusammenfassung des Aufsatzes behaupten sie: „Die soziologische Gewaltforschung verharrt vor allem in der begrifflichen Auseinandersetzung um das Gewaltverständnis.“ (S. 393) Das muss denjenigen, die empirisch zu Gewalt forschen und in den vergangenen Jahren ihre materialen Ergebnisse präsentiert haben, beinahe wie ein Schlag ins Gesicht erscheinen. Oder gehören sie etwa gar nicht dazu, zu dieser „soziologischen Gewaltforschung“, die Kron und Verneuer vorschwebt?
Im Text selbst relativieren sie ihre Behauptung ein Stück weit. Hier ist einerseits davon die Rede, dass sich „ein Teil der aktuellen Diskussionen innerhalb der deutschen soziologischen Gewaltforschung […] darum [dreht], den Gewaltbegriff definitorisch ein- bzw. abzugrenzen“ (S. 397). Sie schränken das Verdikt somit auf einen Teil der vorliegenden Beiträge, auf die aktuelle Diskussion und auf die deutschsprachige Forschung ein. Andererseits sehen sie aber auch keine fruchtbare Fortentwicklung, wie sie ein paar Zeilen weiter meinen. Die Relativierung reicht also nicht allzu weit.
Mein Eindruck ist, dass wir hier eher auf ein Sampling-Problem stoßen als auf eine zutreffende Prämisse für den Vorschlag, die bestehende Forschung mithilfe des Modells der soziologischen Erklärung zu integrieren. Wenn man sich nur mit vier Autor:innen (Endreß 2014; Imbusch 2017; Nunner-Winkler 2004; Schroer 2000) befasst, die vornehmlich Engführungen oder Dehnungen von Gewaltbegriffen diskutieren, zugestanden: ja, dann sieht man auch nur Begriffsdebatten. Das Ganze sieht jedoch eher aus wie eine zu früh abgebrochene analytische Induktion zum Thema „Deutschsprachige Beiträge zur soziologischen Gewaltforschung“, bei der keine negativen Fälle geprüft wurden, die der zunächst formulierten Hypothese widersprechen (Becker 2021, S. 276 ff.). Kron und Verneuer bleiben stattdessen bei vier leidlich aktuellen Fällen stehen, die ihnen gut in den Kram passen.
Eine empirische Sättigung ihrer kleinen Theorie über den Stand der Gewaltforschung erreichen sie damit nicht. Vier Fälle sind dafür etwas schmal, vor allem wenn wir berücksichtigen, dass die soziologische Gewaltforschung seit Jahren sehr aktiv ist. Kron und Verneuer sprechen von „einem Teil“ der Forschung – was ist also mit den anderen Teilen? Wenn ich das Sample nur testweise um weitere acht Fälle aufstocke, die die Kriterien „aktuell“ und „deutschsprachig“ erfüllen (Christ 2011; Klatetzki 2015; Kühl 2014; Leuschner 2013; Malthaner und Waldmann 2012; Nef 2020; Nungesser 2020; Sutterlüty 2004), dann findet sich beileibe nicht nur das Muster „unfruchtbare Begriffsdebatte“, wie Kron und Verneuer zu glauben meinen. Das Bild wird komplizierter – und zwar, weil die schrittweise Lektüre dieser weiteren acht Fälle mindestens ein zweites Muster erkennbar werden lässt. Es besteht darin, dass empirische Analysen dazu dienen, deutende oder erklärende Konzepte zu formulieren, um den interessierenden Gegenstand begreiflich zu machen. Ferdinand Sutterlüty (2004) erörtert in dieser Hinsicht „Gewaltkarrieren“, Stefan Malthaner und Peter Waldmann (2012) befassen sich mit „radikalen Milieus“, Stefan Kühl (2014) beschreibt „ganz normale Organisationen“ und Susanne Nef (2020) ein „Ringen um Bedeutung“ von häuslicher Gewalt. Die betreffenden Konzepte besitzen gleichzeitig analytische Generalität, haben also einen Angebotscharakter, sie für die Analyse weiterer Untersuchungsgegenstände zu nutzen. Die übrigen vier Fälle machen zudem darauf aufmerksam, wie problemorientiert, vielgestaltig und kreativ die deutschsprachige Forschung zu Gewalt ist, während sie mitunter auch explizit erklärend arbeitet (v.a. Klatetzki 2015; Leuschner 2013).
Kron und Verneuer selbst gehen im weiteren Verlauf ihres Aufsatzes auf aktuelle deutschsprachige Studien von Anne Nassauer über Gewalt im Kontext von Protestkundgebungen (u.a. 2015; s. a. jüngst, aber von Kron und Vernauer unberücksichtigt, 2019), von Anne Preiser (2016) über den mitunter gewaltsamen Alltag von Türstehern, von Michael Staack über Kampfsport (2015; s. a. und ebenso unberücksichtigt 2019) sowie von Sutterlüty (2015) über (vor-)städtische Riots ein. Handelt es sich hier um die anderen Teile der soziologischen Gewaltforschung jenseits unfruchtbarer Begriffsdebatten, die sie zugestehen? Dieser Bereich scheint größer zu sein, als sie es selbst annehmen. Die Prämisse, die sie mit Blick auf den Forschungsstand setzen, um zu begründen, warum sie für das Modell der soziologischen Erklärung optieren, ist kaum haltbar.
Durch ihre selektive Betrachtung des Forschungsstands entgeht ihnen zudem, dass sich der Forschungszweig nicht ohne Grund mit begrifflichen Problemen befasst. Historisch haben sich zwar maßgeblich zwei Gewaltverständnisse entwickelt: Gewalt als Kompetenz (potestas) und Gewalt als Handlung (violentia) (Koloma Beck und Schlichte 2014; Neidhardt 1986; Schinkel 2010). Das bedeutet jedoch nicht, dass Forschende einfach so tun könnten, als ließe sich mithilfe der passenden Definition oder methodischer Regeln darüber verfügen, was als Gewalt gelten kann. In der Gewaltforschung gibt es daher viele, die reflexiv arbeiten und sensibel dafür sind, dass Gewalt eine „deskriptive Vokabel“ (Cicourel 1975, S. 38) ist, deren Sinngehalt kontextabhängig variiert und symbolisch vermittelt ist (siehe nur Koloma Beck 2011; Lindemann 2018; Nef 2020; Wolters 2018). Was als Gewalt gilt, ist kontingent; und welche Aspekte „wissenswert“ und erklärungsbedürftig sind, ebenfalls (klassisch: Weber 1982, S. 178). Der Gebrauch der Vokabel hängt zudem maßgeblich vom epistemischen Standpunkt der jeweiligen Beobachterin und der Situation ab, in der sie sich befindet.
So manche Begriffsdebatte mag dann unfruchtbar erscheinen, vor allem von einem absurd-verifikationistischen Standpunkt aus betrachtet. Fehlende Verständigungen innerhalb des Gewaltforschungsdiskurses (und darüber hinaus) machen jedoch darauf aufmerksam, dass wir es hier mit einem kulturbedeutsamen Phänomen zu tun haben, das sich gegen leichte und naive Zuschnitte sperrt. Gewalt ist ein umstrittenes Phänomen. Sie zu definieren ist kein neutraler Vorgang, gerade auch weil es Instanzen gibt, die hier (und vor allem mit Blick darauf, was nicht als Gewalt gelten soll) ein Interpretations- und Glaubwürdigkeitsmonopol beanspruchen (staatliche Stellen, Haushaltsvorstände, Kriegsparteien, …), was andere wiederum konstant oder mit Blick auf einzelne Ereignisse bestreiten (siehe zu solchen Deutungs- und Glaubwürdigkeitshierarchien insbesondere Becker 1967). Umstrittenheit ist eines der konstitutiven Elemente von Gewalt (Schotte 2020). Sie lässt sich weder mit der Abqualifizierung von Begriffsdebatten noch mit einem Plädoyer für methodische Regelbefolgung beiseite wischen.
(ad 3) Kron und Verneuer sprechen dem Modell der soziologischen Erklärung das Potenzial zu, mindestens diejenigen Ansätze der soziologischen Gewaltforschung unter dessen Dach integrieren zu können, die auf Erklärung abzielen. Dieses Potenzial sehen sie vor allem in dem vergleichsweise hohen Formalisierungsgrad der grundsätzlichen Modell-Struktur begründet. Die beiden präsentieren die Logik der Situation, der Selektion und der Aggregation jeweils als Anknüpfungspunkt, um jüngere Theorien der soziologischen Gewaltforschung in dieses Sprachsystem einzubinden.
Ihr Augenmerk liegt dabei insbesondere auf der sogenannten Mikrosoziologie der Gewalt in der von Randall Collins (2011) ausgearbeiteten Variante.9 In exemplarischer Absicht versuchen sie zu zeigen, dass dieser besonders prominente Ansatz der jüngeren soziologischen Gewaltforschung mithilfe des Modells an Erklärungswert gewinnt, indem ihm ein passender „epistemologischer ‚Platz‘“ (S. 401) zugeordnet wird. Ihre These ist, dass Collins mit seinem Theorem der Konfrontationsanspannung, die in antagonistischer Interaktion entsteht, nur die Logik der Situation von Gewalt beschreibt („Kontexthypothese“) – dass er aber keine eindeutigen Entscheidungs- und Transformationsregeln anbietet, um zu einer vollständigen Erklärung von Gewalt zu gelangen. Er könne nicht zeigen, wie sich eine Konfrontationssituation zu einer Gewaltsituation wandelt.
Die Probleme des Collins’schen Ansatzes sind mittlerweile weitgehend ausbuchstabiert (siehe nur Braun 2016; Hoebel und Malthaner 2019, S. 34, 105; Schinkel 2010; Sutterlüty 2015). Kron und Verneuer sehen gleichwohl Erneuerungschancen für Collins’ Kerntheorem der Konfrontationsanspannung, wenn man es in die Sprache des Modells der soziologischen Erklärung „übersetzt“, wie sie selbst sagen (S. 404). Sie kritisieren Collins zwar mitunter scharf und werfen ihm (leider ohne explizite Belege) Ungenauigkeit und einen Zirkelschluss vor, weil er behaupte, Konfrontationsangst lasse sich durch emotionale Dominanz überwinden und emotionale Dominanz entstehe dadurch, dass es Beteiligten gelinge, ihre Konfrontationsangst zu bezwingen (S. 403, Fn 11). Ebenfalls problematisieren sie, dass Collins nicht die notwendigen und hinreichenden Bedingungen seiner Erklärungen von Gewalt expliziere (S. 408). Ihre Kritik hält die beiden jedoch nicht davon ab, Collins zu ihrem zentralen Gewährsmann aus der Gewaltforschung zu machen, um das Modell der soziologischen Erklärung als wegweisende Option für dieses Forschungsfeld zu profilieren.
Leider ist ihre Auseinandersetzung mit der Collins’schen Mikrosoziologie jedoch weniger exemplarisch für die besondere Integrationsfähigkeit des Modells der soziologischen Erklärung, als ein Beispiel dafür, dass sich Kron und Verneuer nicht nennenswert um die Voraussetzungen solcher „Übersetzungen“ bestehender Ansätze in das Modell kümmern. Das setzt sie zwar in die Lage zu behaupten, dass Collins’ Idee der Konfrontationsanspannung die Logik der Situation, nicht aber die Logiken der Selektion und der Aggregation gewaltsamer Vorgänge begreiflich mache. Gleichzeitig bleibt dadurch aber nurmehr eine Karikatur der Collins’schen Mikrosoziologie übrig.
Das hat vor allem zwei Gründe: Zum einen befassen sich Kron und Verneuer weder damit, dass Collins selbst seinen Ansatz in Distanz zu Rational-Choice-Argumenten gebracht hat, die das Arbeiten an und mit dem Modell der soziologischen Erklärung vielerorts überhaupt erst motivieren10, noch setzen sie sich zumindest ansatzweise mit der Kritik an Collins (s. oben) auseinander – als hätte es diese Kritik gar nicht gegeben. Zum anderen – und diesen Punkt halte ich für noch gravierender, sodass ich mich in den folgenden Absätzen darauf konzentriere, ihn genauer zu erörtern – gehen Kron und Verneuer nicht darauf ein, ob und wie Collins’ Mikrosoziologie und das Modell der soziologischen Erklärung eigentlich kausalitätstheoretisch zueinander passen.
Collins argumentiert primär empirisch und rekonstruiert das Mikro-Timing von Ereignissen, die, sollte es tatsächlich zu einer körperlichen Attacke kommen, kausal in einem transitiven Verhältnis zueinander stehen. Schematisch formuliert: Er versucht zu zeigen, dass Ereignis E1 zu Ereignis E2 führt und E2 zu E3, sodass sich von einer Kausalkette zwischen E1 und E3 sprechen lässt. Collins verfährt dabei „begriffsgetrieben“ („concept-driven“, Zerubavel 2021): Solche Kausalketten, die sich über viele empirische Fälle hinweg stark ähneln, typisiert er als „Weg[e] in den Tunnel“ der Gewalt (Collins 2011, S. 544) und fasst ihre zentrale generische Eigenschaft mithilfe sprechender Begriffe. Die berühmte „Vorwärtspanik“ (Collins 2011, S. 130) als eine extreme, für „Situationen ungezügelter Gewalt“ (ebd., S. 544) typische Form dieses „Tunnels“ ist ein zentrales Beispiel (kritisch: Fujii 2013, S. 415 f.; Wolters 2019). Collins erörtert dieses Muster u.a. am Fall einer Verfolgungsjagd, bei der Streifenpolizisten einen Pritschenwagen zu stellen versuchen, auf dem sie illegal Eingewanderte vermuten. Als sie den Pick-up schließlich stoppen, schlagen einige Polizisten übermäßig auf diejenigen Flüchtenden ein, derer sie unmittelbar Herr werden:
Eine Vorwärtspanik beginnt mit Anspannung und Angst in einer Konfliktsituation [E1]. Dies ist gewöhnlich die Voraussetzung eines jeden gewalttätigen Konflikts, aber hier wird die Anspannung drastisch verlängert und gesteigert [E2 → E3 → E4 → … → En] und strebt einem dramatischen Höhepunkt zu [En+1]. Der Streifenwagen versucht, den davonrasenden Pritschenwagen einzuholen; der Hubschrauber muss durch die Feuerzone, um zu landen. Eine relativ passive Situation – Abwarten, Zurückhaltung, bis man in der Lage ist, den Konflikt zu entscheiden – schlägt in bedingungslose Aktivität um. Wenn die Gelegenheit endlich eintritt, machen sich Anspannung und Angst auf einen Schlag Luft [=En+1]. (Collins 2011, S. 133; die Angaben in den eckigen Klammern wurden von mir eingefügt, um die Ereigniskette zu indizieren, die schließlich zum Gewaltausbruch führt)
Die Pointe des Arguments ist die sich fortsetzende Konfliktsituation und die sich sukzessive entwickelnde Anspannung, die anwächst, weil es keinen der Beteiligten gelingt, die Situation unter Kontrolle zu bringen und in ein weniger spannungsreiches Interaktionsritual zurückzuführen. Collins geht es letztlich um eine spezifische zeitliche Verkettung von Ereignissen (E1→ … → En+1) und das damit entstehende „pattern of causal flow“ (Gross 2018, S. 358), das – um es noch einmal zu betonen – auf der Transitivität diskreter Vorgänge basiert.
Kron und Verneuer argumentieren demgegenüber primär getrieben durch die formale Logik des Modells. Dass hier besonderer Klärungsbedarf herrscht, ob sich der transitive Erklärungsansatz, den Collins vertritt, wie vorgesehen adaptieren lässt, sprechen die beiden letztlich selbst an (S. 403). Sie betonen, dass aus Modellsicht zunächst einmal mit kausaler Intransitivität zu rechnen ist, wenn es darum geht, ein bestimmtes Geschehen und seine Resultate zu erklären – der nicht so ohne Weiteres erkennbare kausale Nexus zwischen zwei Zeitpunkten kann geradezu als die wesentliche Motivation gelten, sich des Modells zu bedienen. Kron und Verneuer schreiben:
Das Fundament des Grundmodells soziologischer Erklärung bildet die Annahme, dass man eine Situation zum Zeitpunkt t2 nicht direkt aus einer Situation des Zeitpunkts t1 ableiten kann. Niemand bezweifelt, dass diese Kernannahme auch für zu erklärende Gewaltsituationen gilt. Zur Erklärung – auch von Gewaltphänomenen – sind deshalb drei logisch getrennte Erklärungsschritte zu gehen, welche die Veränderungen der Situation zum Zeitpunkt t2 gegenüber der Situation zum Zeitpunkt t1 erklärend darlegen. (S. 403)
Mit Blick auf die Integration der Collins’schen Mikrosoziologie in das Modell der soziologischen Erklärung sind nun im Grunde zwei kausalitätstheoretische Lesarten dieses Zitats denkbar: (1) Beide Herangehensweisen sind nicht so leicht vereinbar, wie Kron und Verneuer meinen. Der kausalen Intransivität des Modells steht das Transitivitätsargument von Collins gegenüber. (2) Die beiden Ansätze sind letztlich komplementär, weil Collins den kausalen Nexus zwischen den Zeitpunkten t2 und t1 begreiflich macht, um gemäß Modell von einer kausalen Erklärung zu sprechen – eine Erklärung, die in der Tat nicht in einer direkten Ableitung besteht, sondern in der Rekonstruktion eines „causal flow“ (s. oben). Nur: Mithilfe von Krons und Verneuers Text selbst lässt sich zwischen diesen beiden Lesarten keine Entscheidung treffen, weil sie die nötige Diskussion dazu gar nicht führen.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich bin weder von Collins’ Argumentationsweise überzeugt (Hoebel 2019; Hoebel und Knöbl 2019, S. 80 ff.) noch denke ich, dass sich Collins’ Ansatz und das Modell der soziologischen Erklärung zwingend ausschließen. Aber es wäre im Mindesten zu überprüfen, wie sich der als Kausalkette angelegte Erklärungsansatz von Collins überhaupt mit der Makro-Mikro-Makro-Ebenenlogik des Modells der soziologischen Erklärung verträgt. Ich vermute, dass Kron und Verneuer die zweite kausalitätstheoretische Lesart, die ich skizziert habe, bevorzugen würden. Wenn das stimmen sollte, frage ich mich allerdings, warum es eigentlich nötig ist, gewaltsame Vorgänge, die Collins als Ereignisverkettung erörtert, formalistisch mithilfe der Logiken der Situation, der Selektion und der Aggregation zu „zerschneiden“. Collins bietet doch im Grunde eine vollständige Erklärung, die von Zeitpunkt t1 bis zu t2 reicht. In Verbindung damit, dass die beiden sich nicht nennenswert mit der empirischen Gestalt von Explananda („Gewaltaggregaten“) befassen und auch nicht erörtern, mit welchen begrifflichen Mitteln diese adäquat zu fassen ist, habe ich den Eindruck, dass nicht Collins durch das Modell gerettet werden muss, sondern seine Mikrosoziologie einer Modellierung, wie sie Kron und Verneuer im Sinn haben, überlegen ist – und zwar gerade weil sein Ansatz ohne logische Zerschneidungen von Geschehnissen auskommt, um zu explanatorischen Aussagen zu gelangen.
Nach meinem Eindruck erweisen Kron und Verneuer dem Modell der soziologischen Erklärung letztlich einen Bärendienst. Unter dem Strich verunklaren sie eher als dass sie plausibel machen, was mithilfe des Modells für die soziologische Gewaltforschung zu gewinnen ist. Schließlich ist die aufwändige Transposition von Phänomenbeschreibungen und Theoremen von einem Forschungsansatz in einen anderen nur dann sinnvoll, wenn sie neue Erkenntnisse liefert. Im besten Fall erlaubt es eine solche Übersetzung, Aspekte eines Phänomens zu eruieren, die zuvor unbeachtet geblieben sind – und das betreffende Phänomen dadurch besser zu beschreiben und zu erklären (Abbott 2004, S. 10). Anstelle solcher „Aspektgewinne“ (Hoebel 2020, S. 164 f.) stehen bei Kron und Verneuer unter dem Strich jedoch nur Verluste. Die Gewaltforschung würde letztlich weitgehend erblinden, sollte sie sich tatsächlich an ihrem Vorschlag orientieren. Diese Blindheit betrifft (1) den gravierenden Unterschied zwischen Explikans/Explikandum und Explanans/Explanandum und damit den Wert nur vermeintlich verzichtbarer Debatten, wie sich „Gewalt“ in ihrer Vielgestaltigkeit begreifen lässt, (2) die Diversität von Forschungsansätzen, deren gleichsam konkurrierende und einander befruchtende Ergebnisse mit einer modellgetriebenen „Einheitswissenschaftlichkeit“ kaum erreichbar scheinen, sowie (3) die kausalitätstheoretischen Voraussetzungen, um Erklärungsansätze tatsächlich gewinnbringend ineinander zu überführen.
Die Frage, worin die Fruchtbarkeit des Modells der soziologischen Erklärung für die Gewaltforschung liegen könnte, bleibt daher letztlich unbeantwortet. Der Vorschlag von Kron und Verneuer macht allerdings darauf aufmerksam, dass ein stark formalistisches, ja fast schon logizistisches Vorgehen möglicherweise nicht unbedingt das Mittel der Wahl ist, um Gewalt zu erklären – zumindest dann nicht, wenn methodologisch reflektierte Beschreibungen der Phänomene, die erklärt werden sollen, auf der Strecke bleiben. Denn wird nicht vielmehr andersherum ein Schuh draus? Sind gute, erfahrungsgesättigte Beschreibungen, die sensibel für viele Aspekte eines Geschehens sind, nicht oftmals schon die besten Erklärungen (Katz 2001, 2002)? Sollte der Aufsatz der beiden diese Debatte weiter anregen, wäre mehr erreicht, als sie sich selbst auf die Fahnen geschrieben haben.
Danksagung
Ohne kollegiale Diskussionen ist jede wissenschaftliche Arbeit nichts. Ich danke Martin Bauer, Athanasios Karafillidis, Wolfgang Knöbl, Teresa Koloma Beck, Benjamin Seyd, Laura Wolters, den Teilnehmenden des Forschungskolloquiums am Hamburger Institut für Sozialforschung und den Herausgeber:innen des BJS für ihre konstruktive Kritik.
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Das Berliner Journal für Soziologie veröffentlicht Beiträge zu allgemeinen Themen und Forschungsbereichen der Soziologie sowie Schwerpunkthefte zu Klassikern der Soziologie und zu aktuellen Problemfeldern des soziologischen Diskurses.
Hartmut Esser führt diesen Ansatz zunächst als „Grundmodell der soziologischen Erklärung“ in die deutschsprachige Forschung ein. Jens Greve, Annette Schnabel und Rainer Schützeichel (2008) sprechen vom „Makro-Mikro-Makro-Modell der soziologischen Erklärung“ und charakterisieren damit seinen inneren Aufbau. Studierende der Soziologie kennen den Ansatz vermutlich am ehesten als „Badewanne“ oder als „Colemans Boot“. Letzteres ist im Grunde eine Ehrbezeugung: Der Chicagoer Soziologe James Coleman (1986) popularisierte die Grundzüge des Modells, das Kron und Verneuer zufolge der Gewaltforschung den passenden Ausweg aus ihrer gegenwärtigen Lage weist, in den 1980er-Jahren, indem er Max Webers kulturhistorische These rekonstruierte, dass eine calvinistisch geprägte Lebensführung die Durchsetzung kapitalistischen Wirtschaftens begünstigt habe (Weber 1922). Coleman war dabei allerdings nicht primär an Weber oder an der Frage interessiert, wie es eigentlich um den empirischen Gehalt von dessen These steht. Ihm ging es vielmehr darum, ein theoretisches Projekt wiederaufzunehmen, das Talcott Parsons aus seiner Sicht schon Jahrzehnte zuvor zu leichtfertig aufgegeben hatte – nämlich die Begründung „makrosozialer Behauptungen“ á la „Calvinismus begünstigte Kapitalismus“ mithilfe einer Theorie zielgerichteten Handelns (Coleman 1991, S. 27).
Schroer argumentiert unter dem Eindruck der seinerzeit sowohl gesellschaftstheoretisch als auch ungleichheitssoziologisch geführten Inklusions-Exklusions-Debatte (siehe für eine zwischenzeitliche Bilanz Schwinn 2004). Bei aller Fokussierung auf „direkte“ und phänomenologisch leichter sichtbare Gewalt mahnt er, nicht die diversen Formen gesellschaftlicher Exklusion auszuklammern, die aus seiner Sicht nur durch ein „Zusammenspiel von direkter und struktureller Gewalt“ zu begreifen sind. Endreß geht es nicht um eine „Ursachenanalytik“, für die sich Kron und Verneuer vor allem interessieren. Ihm schwebt vielmehr vor, die Forschung zu und über Gewalt phänomenologisch zu entwerfen, insbesondere von der Schädigung körperlich-persönlicher Integrität her. Imbusch schließlich erörtert das Programm einer gleichsam kritischen Gewaltforschung und Gesellschaftsanalyse, in dem der Begriff der strukturellen Gewalt die sensibilisierende Funktion hat, solche Phänomene, die Menschen für Gewalt halten (sollten), zu kontextuieren und als sozial verursacht zu begreifen (also zu de-naturalisieren).
Die Logik der Situation sieht Esser bekanntlich darin, dass und wie Individuen gesellschaftliche Gegebenheiten als solche interpretieren und sich selbst in Beziehung zu diesen Gegebenheiten setzen. Der methodische Fokus der Forscherin liegt dabei auf dem Moment oder Zeitraum, den sie aus zu explizierenden Gründen für entscheidend hält, um das interessierende Phänomen zu erklären. Das Modell fordert somit eine Kontexthypothese über die jeweiligen Situationsdefinitionen der konkret Beteiligten, über „die besondere Art der Beziehung zwischen Situation und Akteur“ (Esser 1993, S. 94). Die Logik der Selektion bezieht sich demgegenüber darauf, wie die involvierten Individuen unter diesen Kontextbedingungen handeln. Die Annahme ist, dass sie für gewöhnlich diverse Optionen haben, sich aber in den interessierenden Momenten nur für eine entscheiden können. Das Modell fordert hier, eine Entscheidungsregel anzugeben, warum die Beteiligten so handeln, wie sie handeln – und Esser selbst arbeitet mit Blick auf dieses Selektionsproblem eine Handlungstheorie mit allgemeinem Anspruch aus, die er als Frame-Selektionstheorie anlegt (siehe für eine vertiefende Diskussion Kroneberg 2005). Kontexte sind in dieser Perspektive nicht per se handlungsrelevant, sondern in Abhängigkeit von Deutungsrahmen, die die Akteure wählen. Als Logik der Aggregation schließlich bezeichnet Esser den Vorgang, wie aus den individuellen Handlungen die kollektive Konsequenz erwächst, die erklärt werden soll. Gefragt ist eine Transformationsregel, die im Rahmen des Modells Auskunft darüber geben soll, wie Mikroereignisse – das kontextbedingte Handeln von Individuen – das interessierende Makrophänomen konkret konstituieren.
Allerdings beschäftigen sich Kron und Verneuer auch nicht näher mit den möglichen Gründen für dieses Desinteresse. Die Frage wäre eine eigene wissens- oder wissenschaftssoziologische Untersuchung wert.
Zu den Grundzügen, Entwicklungen und Problemen dieser längst veralteten wissenschaftstheoretischen Position siehe Friedrich Waismann (1976, S. 470 ff.) und Wolfgang Stegmüller (1989, S. 351 ff.).
Siehe zur Anspruchsfülle, was das Modell angeht, ebenfalls die von Daniel Witte erörterte Frage, wie sich Selbstmordattentate mit Theorien rationaler Wahl erklären lassen (Witte 2007).
Auch die Arbeiten von Jack Katz (1988, 2016) gelten als mikrosoziologischer und erklärender Ansatz der Gewaltforschung (s. dazu Hoebel und Knöbl 2019, S. 182 ff.), auf den Kron und Verneuer jedoch nicht eingehen.
Collins selbst hat Coleman und Esser kritisiert, weil er rationales Handeln nicht als Mikrofundierung begriff, sondern als Mesophänomen, das aus sozialer Interaktion und Gruppenhandeln resultiert (Collins 1993, 1996, 2004, S. 158 ff.; s. dazu auch Rössel 2008): „My rationale is that rational choice theory is not really a model of situational interaction, but a meso-level theory of what individuals will do over the medium run of situations over a period of time. Choice implies working out alternatives, and in real life these present themselves gradually and through experience over a series of occasions. The anomalies of rational choice analysis arise because individuals in micro-situations do not calculate very well the range of alternatives hypothetically available to them; but calculation is not what is most useful in this model, but rather the propensity of individuals to drift, consciously or unconsciously, toward those situations where there is the greatest payoff of benefits over costs. Humans are not very good at calculating costs and benefits, but they feel their way toward goals because they can judge everything subconsciously by its contribution to a fundamental motive: seeking maximal emotional energy in interaction rituals.“ (Collins 2004, S. xiii)