Mit seiner Common-Sense-Kolumne macht Edy Portmann auf die Probleme rund um Pseudoexaktheit aufmerksam. Am Beispiel der Polerforschung vor mehr als hundert Jahren zeigt er auf, dass die Wissenschaft manchmal zu grossen Wert auf Zahlen legt. Als Lösung schlägt er dieser vor, künftig auch Worten (mehr) Vertrauen zu schenken.
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Zahlen lügen nicht, heißt es. Deshalb sind wir wohl so zahlengläubig. Wenn es darum geht zu überzeugen, sind laut André Desaules, der unter anderem für das Schweizer Lehrerportal zebis1 schreibt, zahlengestützte Argumente rasch zur Hand. In der Tat sind blanke Zahlen für sich allein wahr, sagen aber recht wenig aus. Denn Zahlen haben nur in Relation eine Bedeutung, und um sie in Relation zu stellen, müssen diese als Erstes erhoben, ausgewertet und dargestellt werden. In seinem Schulsachbuch Von der Zahlengläubigkeit zur Zahlenkompetenz für das 7.–9. Schuljahr betont Desaules schon in der Einführung, dass Fehler passieren und betrogen werden kann. Es kann z. B. eine Scheingenauigkeit respektive eine Darstellung von Daten mit einer Auflösung, die sie gar nicht hergeben, benutzt werden, um diese zu manipulieren, denn in der Regel hält man Statistiken für umso genauer und glaubwürdiger, je mehr signifikante Stellen einer Zahl sie uns präsentieren.
Zahlenbetrug ist meistens vorsätzlich und geht von relativ harmloser Schönfärberei, über Manipulation bis hin zu Irreführung. Ein Beispiel: Vorgeblich im Jahr 1909 führte der Ingenieur und Polarforscher Robert E. Peary eine Expedition zum Nordpol durch – wobei man jedoch durchaus argumentieren kann, dass seine Reise bereits 23 Jahre früher begann, als er zahlreiche Expeditionen in die Arktis und nach Grönland unternahm. Er unternahm mehrerer Versuche, bevor er am 6. April 1909 schließlich das erreichte, was er für den Pol hält. In seinem Tagebuch hielt er fest, dass er die Position 89°57′11″ nördlicher Breite erreicht habe. Damit war er nur knapp 5 km vom Nordpol entfernt und hatte ihn faktisch erreicht, wenn man seinen Angaben denn glauben will.
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Doch kann diese Genauigkeit überhaupt stimmen? Peary implizierte, dass er seine Position auf eine Bogensekunde, einer Winkelmaßeinheit, die den 3600. Teil eines Grads festlegt, genau bestimmen konnte. Das war mit seinen damaligen Messinstrumenten aber kaum möglich, wenn man davon ausgeht, dass die Genauigkeit seiner Instrumente bei circa 15′ lag. Er konnte also seine Position höchstens auf 30 km genau bestimmen. Und weil noch weitere Ungereimtheiten in seinen Angaben auftauchten, zweifelt die Forschung heute daran, ob Peary dem Nordpol überhaupt nahe war.
In der Menschheitsgeschichte haben wir es oft mit solch scheingenauen Zahlen zu tun. In den letzten 100 Jahren haben wir laut dem Vater der unscharfen Logik, Lotfi A. Zadeh begonnen, den Zahlen übermäßig zu vertrauen. In Wissenschaft und Technik werden diese respektiert, Worte jedoch leider nicht, schreibt Zadeh 1990 in seinem Aufsatz „Fuzzylogik = Rechnen mit Worten“. Man misst mittlerweile den Zahlen eine derart hohe Bedeutung zu, dass eine wissenschaftliche Arbeit ohne Gleichungen von Forschern und Ingenieuren als unbrauchbar abgelehnt wird und, im umgekehrten Fall, wenn also sehr viele Gleichungen einbezogen werden, bewerten dieselben sie als gut. Mit dieser tief verwurzelten Tradition des Respekts für Zahlen spielte wohl auch Peary.
Menschen benutzen Worte aber auch, um ihre Wahrnehmungen zu beschreiben. Vieles von dem, was wir im Laufe des Tages tun, messen wir nämlich nicht genau – und doch können wir, im Gegensatz zu scheingenauer Technologie wie sie heute in autonomen Fahrsystemen eingesetzt werden, intelligent handeln. Nach all den Jahren Forschung und Technikeinsatz können wir bloß Autos bauen, die in leichtem Verkehr, nicht aber in belebten Städten autonom fahren können. Wir Menschen sind dazu aber auch ohne exakte Zahlen, Messen sowie Berechnen in der Lage. Wir weisen also eine Fähigkeit auf, die heutige Systeme (noch) nicht haben. Es könnte sich deshalb als Fehler der exakten Wissenschaft und Technik herausstellen, alle Eier in den „exakten Korb“ zu legen. Möglicherweise wäre es besser, mit Schätzungen zu arbeiten, die mit wahrnehmungsbasierten Worten umgehen können? Oder was denken Sie?
Genaue Messinstrumente weisen keine Intelligenz auf, sie sind nur Werkzeuge. Und wahre Intelligenz ist fehlertolerant. Ein Trost zumindest ist, dass es dank Zahlenkompetenz à la Desaules leichter ist, falsche Zahlen zu erkennen als falsche Wörter. Und Abraham Lincoln, ehemaliger Präsident der USA, soll gesagt haben: „Du kannst einige Leute während einiger Zeit täuschen, aber du kannst nicht alle Leute die ganze Zeit täuschen.“ Je rascher wir also Täuschungen entlarven, desto geringer ist der Schaden.
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