Dem außerschulischen Lernen wird als Lernform ein vielfältiges Potenzial zur Anregung von Bildungsprozessen zugeschrieben. In diesem Kapitel wird der Forschungsstand zum außerschulischen Lernen dargelegt. In einem ersten Schritt werden die Diskurse um eine Öffnung der Schule und eine Öffnung des Unterrichts in einen Entwicklungsprozess von Schule eingeordnet, um die Bedeutung des außerschulischen Lernens vor dem Hintergrund der Sozialisationsfunktion von Schule sowie der Relevanz fächerübergreifender Lernfelder wie die Politische Bildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung herauszustellen.
Dem außerschulischen Lernen wird als Lernform ein vielfältiges Potenzial zur Anregung von Bildungsprozessen zugeschrieben. In diesem Kapitel wird der Forschungsstand zum außerschulischen Lernen dargelegt. In einem ersten Schritt werden die Diskurse um eine Öffnung der Schule und eine Öffnung des Unterrichts in einen Entwicklungsprozess von Schule eingeordnet, um die Bedeutung des außerschulischen Lernens vor dem Hintergrund der Sozialisationsfunktion von Schule sowie der Relevanz fächerübergreifender Lernfelder wie die Politische Bildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung herauszustellen (Abschn. 4.1). In einem darauffolgenden Abschnitt erfolgt eine Eingrenzung des außerschulischen Lernens als eine Lernform des Fachunterrichts, wie sie im Kontext dieser Arbeit verstanden wird (Abschn. 4.2). Dabei wird eingeordnet, was in diesem Zusammenhang unter außerschulische Begegnung verstanden werden soll. Das lernförderliche Potenzial des außerschulischen Lernens wird in Abschnitt 4.3 betrachtet und im Lichte empirischer Befunde diskutiert – wobei sich zeigen wird, dass es nur wenige empirische Studien gibt, die die Wirksamkeit außerschulischen Lernens belegen. In dem darauffolgenden Kapitel werden schließlich der besondere Stellenwert und das spezifische Vermögen des außerschulischen Lernens zunächst für die Nachhaltigkeitsbildung skizziert (Abschn. 4.4) und anschließend ausführlicher für die Politische Bildung dargestellt (Abschn. 4.5). In einem ersten Schritt wird ein Einblick in den Stellenwert außerschulischen, politischen Lernens in verschiedenen Kerncurricula gegeben. Daraufhin werden Spannungsverhältnisse gegenüber dem außerschulischen Lernen aus politikdidaktischer Perspektive diskutiert, um im Anschluss Konsequenzen für die Einbindung außerschulischer Begegnungen in den Fachunterricht sowie für die vorliegende Studie abzuleiten. Ziel des Kapitels ist es, sowohl einen Forschungs- als auch Entwicklungsbedarf zur Integration außerschulischer Elemente in den (Politik-)Unterricht herauszustellen. Ferner wird aufgezeigt, dass das außerschulische Lernen die politische Urteilsbildung und den lernenden Umgang von Schüler*innen mit Komplexität unterstützen kann.
4.1 Diskurse um eine Öffnung von Schule und Unterricht
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich eine zunehmende Ausdifferenzierung des Bildungssystems vollzogen. Neben der Schule und Hochschule, die lange Zeit eine Monopolstellung auf Bildung beanspruchen konnten, bestehen gegenwärtig weitere Institutionen, Akteur*innen und (digitale) Räume, die das formale Lernen um das non-formale und informelle Lernen ergänzen.1 Bildungswege erstrecken sich in der Wissensgesellschaft meist von der frühen Kindheit bis ins hohe Erwachsenenalter. Das Konzept des ‚Lebenslangen Lernens‘ reagiert einerseits auf die Erfordernisse flexibilisierter Arbeitswelten (Crowther, 2004) und knüpft andererseits an das identitätsbezogene Bedürfnis nach informellem Lernen an (Falk, 2015). Der Strukturwandel des Bildungssystems zeigt sich in räumlichen und zeitlichen Entgrenzungen, die im Kern auch die Ausweitung des Erziehungs- und Bildungsauftrags selbst betreffen (Grunert & Wensierski, 2008, S. 9).
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Die Öffnung der Schule findet im Ausbau von Ganztagsschulen sowohl eine zeitliche als auch räumliche Ausweitung. Kinder und Jugendliche verbringen im Zuge dessen deutlich mehr Zeit in der Institution Schule, „was dazu führt, dass Kinder und Jugendliche die Freizeitangebote der Jugendeinrichtungen und den öffentlichen Raum nicht mehr wie gewohnt wahrnehmen können“ (Deinet & Derecik, 2016, S. 15). Die zunehmende Kooperation und Verzahnung verschiedener Bereiche des Bildungssystems wie Schule, Berufsbildung, außerschulische Bildung und Jugendhilfe begegnet damit auch einem hieraus erwachsenen Kompensationsbedarf. Grunert und Wensierski (2008) weisen zudem auf veränderte Aufgaben der Schule im 21. Jahrhundert hin:
Die institutionelle Segmentierung und Spezialisierung des Erziehungs- und Bildungssystems erweist sich zunehmend als dysfunktional. Gefordert sind vielschichtige Antworten sowie interdisziplinäre und integrale Konzepte für die Erziehungs-, Bildungs-, Integrations- und Partizipationsaufgaben in der hochmodernen Gesellschaft. (Ebd., S. 10)
Zu diesen „Erziehungs-, Bildungs-, Integrations- und Partizipationsaufgaben“ (ebd.) leistet das außerschulische Lernen einen zunehmenden Beitrag. Baar und Schönknecht (2018) konstatieren, dass sich „inzwischen eine sehr breite regionale Angebotsstruktur außerschulischer Bildungsangebote etabliert hat, die gezielt Schulen anspricht. In den letzten 20 Jahren hat vor allem die Anzahl von außerschulischen Lernorten mit eigenen pädagogisch-didaktischen Konzepten und auf Schulklassen ausgerichteten Programmen stark zugenommen“ (Baar & Schönknecht, 2018, S. 13). Ein enormer Zuwachs ist im MINT-Bereich durch die Einrichtung von Science Centern und Lehr-Lern-Laboren zu konstatieren, zudem wurden vermehrt umwelt-, erlebnis- sowie museumspädagogische Angebote entwickelt und auch Industrie- und Handelskammern sowie private Wirtschaftsunternehmen und Interessenverbände konzipieren Bildungsangebote (ebd.).
Die Öffnung nach außen im Rahmen von Ganztagsangeboten sowie die Öffnung nach innen etwa durch das Prinzip der Lebensweltorientierung eröffnet vielfältige Möglichkeiten, anregende Lernumgebungen zu gestalten. Overwien (2020b) stellt die Bedeutung des informellen Lernens für die Ganztagsbildung heraus und sieht ein Potenzial in der Schaffung von Lernräumen, „die informelles und formales Lernen verbinden“ (ebd., S. 239). Mit der Perspektive auf das informelle Lernen „wird damit der Blick auf die soziale und identitätsbezogene Seite des individuellen Bildungsprozesses sowie auf das Zusammenspiel unterschiedlicher Lebensbereiche, die als Gelegenheitsstrukturen für Bildungsprozesse gefasst werden können“, verstärkt (Grunert & Wensierski, 2008, S. 10). Zugleich wird aber auch auf mögliche Gefahren hingewiesen, wenn das Schulische Einzug in die außerschulische Lebenswirklichkeit der Schüler*innen nimmt:
Mit der Ausdehnung des Schulischen auf außerschulische Bereiche, die schließlich auch auf ihren Lern-Wert für das Schulische geprüft werden, lässt sich – im Foucault’schen Sinne – von einer Entgrenzung der Schule sprechen, die die individuellen Lebenswelten schließlich der schulischen Bildsamkeitsökonomie unterstellt. So ließen sich außerschulische Lernorte, die schulisch genutzt werden, nicht etwa als Alternativorte oder Gegen-Orte zur Schule verstehen, sondern als durch die Schule kolonialisierte und der schulischen Logik unterworfene Orte. Mit anderen Worten: Dort, wo im Unterricht außerschulische Lernorte aufgesucht werden, wird Schule an anderem Orte gemacht, denn sie erfolgt in der Logik der Konstruktion von Unterricht. (Budde & Hummrich, 2016, S. 33)
Das Ziel, „die schulischen Arbeitsbündnisse zu erweitern und lebensweltliche Aspekte zu integrieren“ (Budde & Hummrich, 2016, S. 31), stellt grundsätzlich eine adäquate schulische Antwort auf die gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse dar und ist mit der Hoffnung auf „das meritokratische Versprechen“ verbunden, „eine Verringerung des Einflusses des Herkunftsmilieus auf die spätere gesellschaftliche Position“ herbeizuführen (Budde & Hummrich, 2016, S. 34). Die Potenziale einer Öffnung von Schule und Unterricht kommen aber nicht zum Tragen, wenn lediglich dem Prinzip eines „Mehr-Desselben“ gefolgt wird (Rauschenbach, 2008, S. 20). Rauschenbach (2008) betont dabei, dass der Auf- und Ausbau der Ganztagsschule gerade mit der Chance verbunden sei, „die herkömmliche Unterrichtsschule und tradierte Halbtagsschule nicht nur zeitlich zu erweitern, sondern vor allem auch um andere, nicht-kognitive Bildungsinhalte zu ergänzen, andere Formen des Lernens sowie andere, nicht-kognitive Elemente der Bildung in den außerunterrichtlichen Teilen des Ganztags zu stärken (…)“ (ebd.). Um das Außerschulische nicht als etwas gänzlich anderes zum Schulischen misszuverstehen, ist es angezeigt, formale, non-formale und informelle Kontexte von Bildung in ihren Eigenlogiken, spezifischen Bildungsqualitäten und -modalitäten anzuerkennen und konzeptionell zu berücksichtigen:
Die Schule ist gefordert, neben ihrem bisher traditionellen Verständnis vom formellen Lernen, ebenfalls nicht-formelle und informelle Bildungsprozesse innerhalb und auch außerhalb der eigenen Mauern zu ermöglichen. Hierzu bedarf es einer sozialräumlichen Öffnung der Ganztagsschule zum Umfeld und zu weiteren außerschulischen Partnern, wodurch eine Beziehung zur Lebenswelt von Heranwachsenden hergestellt werden soll. (Deinet & Derecik, 2016, S. 25)
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Deinet und Derecik (2016) weisen aus einem raum- und aneignungsorientierten Blickwinkel darauf hin, dass spezifische Bildungsprozesse den verschiedenen Bereichen des Schullebens zugeordnet und „anhand eines Kontinuums zwischen formeller und informeller Bildung bestimmt werden“ können, um so die spezifische Bildungsqualität zwischen formeller Vermittlung und informeller Aneignung zu berücksichtigen (Deinet & Derecik, 2016, S. 21). Eine relationale Betrachtungsweise auf schulische und außerschulische Lernorte ist notwendig, um Orte in ihrer Bedeutung für die Schüler*innen zu betrachten, bevor sie im schulischen Kontext zu Lernorten (um-)definiert werden. Dies ist auch für das Austarieren eines erfahrungsbezogenen Zugangs zum Politischen ein zentraler theoretischer Ausgangspunkt.
4.2 Außerschulisches Lernen im Fachunterricht
Die besagte Ausdifferenzierung des außerschulischen Bildungsbereiches der letzten Jahre hat es mit sich gebracht, dass es eine Vielzahl an Definitions- und Systematisierungsversuchen außerschulischer Lernorte gibt, die um ein möglichst umfassendes Verständnis ringen (Baar & Schönknecht, 2018; Groß, 2011; Sauerborn & Brühne, 2017). Hieß es in der bis heute noch viel zitierten Definition des Deutschen Bildungsrates aus den 1970er-Jahren, dass „[u]nter Lernort […] eine im Rahmen des öffentlichen Bildungswesens anerkannte Einrichtung zu verstehen [ist], die Lernangebote organisiert“ (Deutscher Bildungsrat, 1974, S. 69) und damit vor allem das Kriterium der Institutionalisierung herausgestellt wird, kommen Sauerborn und Brühne (2017) angesichts des pluralen Spektrums zu dem Schluss, dass außerschulisches Lernen „alle bildenden Aktivitäten außerhalb der Schule [subsumiert]“ (Sauerborn & Brühne, 2017, S. 11): „Außerschulisches Lernen findet immer dann statt, wenn sich Schüler außerhalb des Schülergebäudes oder außerhalb des schulischen Rahmens mit einem originalen Lerngegenstand unter gezielter pädagogischer Anleitung auseinandersetzen“ (ebd.).
Eine weitere Definition, die spezifischer ist, aber an einem weiten Verständnis außerschulischer Lernorte festhält, leistet die Fachstelle für Didaktik Ausserschulischer Lernorte (FDAL) der PHZ Luzern. Die definiert außerschulische Lernorte als
Orte ausserhalb des Schulhauses, in denen Personen jeglichen Alters im Rahmen formaler, non-formaler oder informeller Bildung lernen können. Konstitutiv für diese Lernorte ist die Möglichkeit der unmittelbaren Begegnung mit einem Lerngegenstand und/oder Sachverhalt. Ausserschulisches Lernen findet statt, wenn solche Begegnungen – bewusst oder unbewusst – in den Lernprozess integriert sind und zu einem Kompetenzerwerb beitragen. Dies kann in originaler Begegnung geschehen, wenn der Lerngegenstand bzw. Sachverhalt in seiner ursprünglichen Situation eingebettet ist (Bachlauf, Nationalpark, Landwirtschaftsbetrieb, Kraftwerk, Denkmal etc.). Als Ausserschulische Lernorte eignen sich auch Orte, an denen Lerngegenstände bzw. Sachverhalte dekontextualisiert und in künstlicher Umgebung vorliegen (Museen, historische Archive). Ausserschulische Lernorte lassen sich weiter nach dem Grad der methodisch-didaktischen Aufbereitung unterscheiden. Die Spannbreite reicht von fehlender Didaktisierung (bspw. Altstadt, Wirtschaftsbetrieb) bis zu Lernorten, die eigens für das Lernen geschaffen werden (Science Center, Lehrpfad, Lernlabor etc.). Nach diesem Begriffsverständnis eignen sich Ausserschulische Lernorte für alle Schulfächer und -stufen. (Messmer et al., 2011, S. 7)
Wie in der Definition aufgegriffen, lassen sich außerschulische Lernorte hinsichtlich des Grades an Authentizität bzw. Kontextualität sowie des Grades an Didaktisierung unterscheiden. Einschlägig ist die Unterscheidung in primäre und sekundäre Lernorte, auf die bis heute verwiesen wird (Baar & Schönknecht, 2018, S. 16). Erstere widmen sich ihrer Funktion nach dem Lernen, wie es auf formale Bildungseinrichtungen wie die Schule zutrifft; zweitere werden erst durch ihre intentionale Einbettung in eine Vermittlungspraxis zu einem Lernort (Dühlmeier, 2010). Je geringer der Grad an Didaktisierung des Ortes, desto eher kommt es auf die didaktische Dramaturgie des Fachunterrichtes und die intentionale Integration durch die Lehrpersonen an. Dühlmeier subsumiert Museen mit pädagogischem Angebot, Zoologische Gärten mit ihren Zooschulen oder auch Science Center unter diese Kategorie (2010, S. 17). Lernstandorte lassen sich also zwischen primären und sekundären Lernorten verorten (Thomas, 2009, S. 284). Auch wenn sich der Begriff Baar und Schönknecht (2018) zufolge nicht etabliert hat, sensibilisiert er für die Unterscheidung zwischen Lernorten mit und ohne Bildungsauftrag (S. 17 f.), die sie in ihrer Systematisierung zum Ausgangspunkt nehmen (siehe Abb. 4.1).
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Wie die Abbildung 4.1 zeigt, werden die außerschulischen Lernorte inhaltlich mit Blick auf ihre lebensweltliche Bedeutung systematisiert. Ähnlich differenzieren Sauerborn und Brühne (2017) aus geographiedidaktischer Perspektive die Bereiche Natur, Kulturwelt, Orte und Stätte der menschlichen Begegnung und die Arbeits- und Produktionswelt (2017, S. 84–92). Aus grundschuldidaktischer Perspektive unterscheidet Dühlmeier (2010) zwischen Naturwelt, Arbeitswelt und Kulturwelt. Allen Modellen liegt die Idee zugrunde, Begegnungen und Erfahrungen mit gesellschaftlichen Teilbereichen zu ermöglichen. Aus politikdidaktischer Perspektive wird die fachdidaktische Heuristik des Problems eingebracht: Ackermann (1998) betont, dass Lernende „das Schulgebäude verlassen können, um gezielt einen gesellschaftlich-politischen Problembereich durch eigene Erfahrungen, Beobachtungen und Erlebnisse gemeinsam zu erschließen“ (S. 3).
Aufgrund des Gegenstandsbereiches der Politischen Bildung sind sekundäre Lernorte bzw. Lernstandorte als Ausschnitte aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit von besonderem Interesse. Erkundungen im öffentlichen Raum haben in den vergangenen Jahren in den Didaktiken der Gesellschaftswissenschaften wieder an Bedeutung gewonnen (Emde, 2015; Heuer, 2011; Juchler, 2018). In der Tradition des Spatial turn seit dem Ende der 1980er-Jahre wurde die Raumperspektive in den Geistes- und Sozialwissenschaften verstärkt wahrgenommen (Döring & Thielmann, 2009; Harvey, 1990; Soja, 1989) und auch mit konflikt- und problemorientierten Betrachtungsweisen auf das Räumliche kombiniert (Schlögel, 2003). Denn Regionen sowie urbane Quartiere stellen geografische, politische und ökonomische Einheiten dar und sind damit auch Schauplätze eines gesellschaftlichen Prozesses in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung. Jene Räume sind einerseits geprägt von Ziel- und Deutungskonflikten im Spannungsfeld zwischen ökonomischen, ökologischen und sozialen Anforderungen an die Zukunft sowie zugleich als Orte der transformativen Gestaltung (bspw. Bürgerwerkstätten, Reallabore, Projekte und Initiativen wie Repair-Cafés), an denen nachhaltige Praktiken diskutiert und erprobt werden (Singer-Brodowski et al., 2018; Smith & Ely, 2015).
Vor diesem Hintergrund lassen sich aus einer politikdidaktischen Perspektive Lernorte nicht nur hinsichtlich ihres Grades an Didaktisierung und (De-)Kontextualität (Messmer et al., 2011, S. 7), sondern auch hinsichtlich ihrer Wissensarten unterscheiden. Während einige Lernorte vor allem objektivierte Inhalte vermitteln, halten andere Lernorte perspektivische Inhalte bereit. Sekundäre Lernorte der politischen Öffentlichkeit können zudem Perspektiv-, Interessen- bzw. Meinungsgebundenes bereithalten, was bei der Integration in den Unterricht zu berücksichtigen ist.
In der vorliegenden Arbeit werden außerschulische Begegnungen in den schulischen Fachunterricht integriert. Im Vordergrund stehen Gespräche mit regionalen Akteur*innen, die Interessengruppen repräsentieren und spezifische Sichtweisen vertreten. Außerschulische Begegnungen qualifizieren sich demnach in besonderer Weise für einen erfahrungsbezogenen, hermeneutischen Zugang zur Perspektivität gesellschaftlicher Sachverhalte. Das Erkunden wird als ein Prozess des Wahrnehmens, Schlussfolgerns, Deutens und Bewertens verstanden und erhebt jene Verstehensoperationen zum Gegenstand der Reflexion. Wie auch im Zuge der Definition sekundärer Lernorte festgehalten, werden außerschulische Begegnungen durch die didaktische Einbettung in ein Unterrichtsvorhaben zu Lernsituationen (Baar & Schönknecht, 2018, S. 16). Darüber hinaus erfordert die politische Dimension und Perspektivgebundenheit die fachliche Einordnung und diskursive Aushandlung in der Vor- und Nachbereitung in besonderer Weise, um die Kontroversität zu gewährleisten.
4.3 Potenziale außerschulischen Lernens
Außerschulisches Lernen kann das Lernen in der Schule ergänzen und den Lernenden Erfahrungen ermöglichen, die im konventionellen Schulunterricht so nicht möglich sind. Außerschulische Lernorte können zwar nicht ohne Weiteres als informelle Lernorte betrachtet werden (Groß, 2011), gleichwohl scheint ihr informeller Charakter aufgrund einer aufgebrochenen Unterrichtsroutine stärker zu sein als im Klassenraum. Die Motive zur Zeit der Reformpädagogik waren „neben dem Heimatgedanken die körperliche Ertüchtigung, das bewusste Sehen und Hören, das Erlebnis sowie Tun, Tat, Selbstständigkeit und Arbeit“ und fanden etwa in der Errichtung von Schullandheimen Ausdruck (Bönsch, 2003, S. 4).
Bis heute stellen die alltagsweltliche Erschließung von Lerngegenständen sowie die ermöglichte Selbsttätigkeit die zentralen pädagogischen Begründungen für das außerschulische Lernen dar. Diese Überlegungen haben Eingang in das moderne didaktische Denken gefunden und werden in Diskursen um veränderte Sozialisationsbedingungen stets neu verhandelt. In den pädagogischen und (fach-)didaktischen Begründungen außerschulischen Lernens sind somit auch teilweise Diagnosen über den Zustand der Gesellschaft enthalten, etwa wenn tiefgreifenden Wandlungsprozessen mit didaktischen Prinzipien begegnet werden soll. Im Folgenden werden einige Argumentationslinien zum Potenzial außerschulischen Lernens dargelegt.
Der konventionelle Unterricht im Schulgebäude ist darauf angewiesen, die Welt mit ihren Lerngegenständen in den Unterricht zu holen. Die Aufbereitung von Unterrichtsmaterial erfolgt medialisiert mithilfe von Texten, Audio- und Videomaterial. Die Strukturierung und Elementarisierung der Inhalte sind dabei wesentliche Elemente. Das didaktische Prinzip der Lebensweltorientierung trägt den Anspruch, die Lebenswelt der Schüler*innen zum Ausgangspunkt zu nehmen und die Fragen des Unterrichts zu den Fragen der Schüler*innen werden zu lassen (Oeftering et al., 2017). Authentische Lernsituationen gelten darüber hinaus als besonders lernwirksam (Reinmann & Mandl, 2006) und können durch eine Kontextorientierung der Lernaufgaben sowie die Integration außerschulischer Elemente gestaltet werden. Außerschulischen Lernorten wird durch den situationalen Kontext das Potenzial zugesprochen, transferfähiges Wissen zu vermitteln (Brovelli et al., 2012, S. 148). Sogenannte Primärerfahrungen bzw. originale Begegnungen können aber nicht mit jedem Lerngegenstand gelingen. Während ein Priel oder Bachlauf als Phänomen zu betrachten ist, können Sachverhalt der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit meist nicht direkt erfahren werden, wie Ackermann (1998) festhält:
Es wäre naiv zu glauben, daß die Schüler bei Erkundungen die politische Wirklichkeit durch unmittelbare Anschauung unverstellt und richtig erfassen können. Damit die entsprechenden Erfahrungen für inhaltliche Lernprozesse fruchtbar werden, bedarf es der politischen Kategorien, wie z. B. Konflikt, Interesse, Öffentlichkeit, Entscheidung, Institutionen. Sie müssen in der Vor- und Nachbereitung vermittelt werden, um den politischen Charakter der außerschulischen Lernorte überhaupt wahrnehmen zu können. (Ebd., S. 5)
Für politische Bildungsprozesse ist die schulische Einbettung folglich auch deshalb zentral, da das Politische meist erst in analytischer Distanz des Fachunterrichts herausgearbeitet werden kann.
Erfahrungsorientierung – Handlungsorientierung
Außerschulisches Lernen kann erfahrungs- und handlungsorientierte Zugänge ermöglichen. Die didaktischen Begründungen werden im Hinblick auf eine veränderte Kindheit und Jugend vertreten. Aus den veränderten Sozialisationsbedingungen erwachsen kompensatorische Aufgaben der Schule, die etwa einer zunehmenden Mediatisierung der Erfahrung, d. h. dem Verschwinden von Primärerfahrungen, begegnen sollen (Engartner, 2010, S. 97). Auch Gudjons (2014) hält fest, dass ein „handlungsorientierter Unterricht […] ein notwendiger Versuch [ist], eine (schul-)pädagogische Antwort zu finden auf den tiefgreifenden Wandel des kulturellen Aneignungsprozesses von Kindern und Jugendlichen in einer Welt, in der die ‚Erfahrungen aus zweiter Hand‘ jene aus ‚erster Hand‘ zu überlagern beginnen“ (ebd., S. 12). Außerschulische Unternehmungen, so der anscheinende schulpädagogische Konsens, können den veränderten Sozialisationsbedingungen begegnen und als Mittel gegen Erfahrungsarmut fungieren (Bönsch, 2010; Jürgens, 2013).
In diesen Begründungen deuten sich reformpädagogische Kontinuitäten an. Dem Anspruch der Reformpädagogik nach galt es, Schule und Lebenswelt durch eine erfahrungsorientierte Zugangsweise stärker zu verbinden und so der Gefahr eines entfremdeten Lernens zu begegnen (Bönsch, 2003, S. 4). Ein Blick in ältere Quellen verdeutlicht, dass die didaktischen Begründungen nicht selten mit einer grundsätzlichen Kritik am traditionellen Schulwesen einhergehen. Die Konzeption eines erfahrungsorientierten oder „erfahrungsoffenen Unterrichts“ (Garlichs & Groddeck, 1978) fußte beispielsweise auf folgenden Leitlinien: Erfahrungsoffener Unterricht unterdrücke nicht „die aktuellen Bedürfnisse, Interessen und Neigungen der Schüler/innen“, verdränge nicht „die Subjektivität […] aus dem Lern- und Aneignungsprozess“, stelle „die sinnliche Auseinandersetzung mit Gegenständen/ Themen/Problemen in ihrem ‚natürlichen‘ Lebenskontext der Aufteilung in Fachdisziplinen entgegen“ und betone „gegenüber der abstrakten Belehrung (‚Erfahrungen aus zweiter Hand‘) die eigenen konkreten Operationen, Aktivitäten, ‚Begegnungen‘ der Lernenden mit den Lerngegenständen“ (zit. nach Gudjons, 2014, S. 26).
In weniger kulturpessimistisch orientierten Betrachtungsweisen wird die Erweiterung von Erfahrungsmöglichkeiten im Fachunterricht vielmehr als didaktischer Selbstzweck verstanden oder im Hinblick auf die Lernförderlichkeit begründet. In zeitgenössischen Ansätzen der Politischen Bildung werden darüber hinaus performative, ästhetisch-experimentelle Zugänge erprobt, etwa als ‚atopische Reisen‘ durch den öffentlichen Raum (Friedrichs, 2021b, S. 18 f.).
Ganzheitlichkeit – sinnliche Auseinandersetzung
Außerschulischem Lernen wird das Potenzial zugesprochen, der Gefahr einer „Verengung schulischen Unterrichts auf rein kognitive Lernprozesse“ zu begegnen (Baar & Schönknecht, 2018, S. 12). In der Vorstellung nach Pestalozzi sind in ganzheitlich organisierten Lernprozessen Kopf, Herz und Hand zu involvieren. In außerschulischen Lernsituationen sind meist Realitätsbegegnungen sowie ein anschaulicher und tätiger Umgang möglich. Juchler hält fest, dass „[a]ufgrund der sinnlich-emotionalen Erfahrungen, die mit dem Erkenntnisprozess verknüpft sind, […] dieser Erfahrungszuwachs nachhaltiger zu sein [verspricht] als nur rezeptiv im schulischen Politikunterricht gewonnene Erkenntnisse“ (Juchler, 2022, S. 517). Geschichtsdidaktische Studien zu Gedenkstättenbesuchen zeigen beispielsweise, dass „die Präsentation von Originalem, Authentischem eine besonders große Rolle“ für Schüler*innen spielt (Marx & Sauer, 2011, S. 144).
Das Aufsuchen außerschulischer Lernorte vermag die „Spirale von Erleben, Auslegen und Verstehen“ anzustoßen und bei entsprechender Begleitung in der Vor- und Nachbereitung tiefgreifende Reflexionsprozesse anzubahnen – „[z]wischen Erleben und Begreifen zu vermitteln, ist daher Aufgabe der Bildungsarbeit“ (Faulstich, 2009, S. 26).
Umgang mit Komplexität – Mehrperspektivität – Ambiguität
Neben den subjektorientierten treten gegenstandsorientierte Begründungen. Das außerschulische Lernen bietet das Potenzial, die „Gegenstände auch in der Vielschichtigkeit der Welt zu erfassen und zu erschließen“ (Baar & Schönknecht, 2018, S. 11). Während die schulische Bildung üblicherweise Inhalte aufbereitet und didaktisch reduziert, bieten Realitätsbegegnungen Erfahrungsmöglichkeiten jenseits des fächerorientierten Zuschnitts durch die Lehrkraft. Auf diese Weise kann das außerschulische Lernen das vernetzte Denken, den Transfer von Lerninhalten sowie ein Verständnis komplexer Sachverhalte fördern – wie insbesondere aus Sicht der schulgeographischen Exkursionsdidaktik betont wird (Bähr et al. 2007). Auch der Ansatz des regionalen Lernens betont, dass „die Originalbegegnung vor Ort das ‚Be-greifen‘ komplexer Wirklichkeitszusammenhänge“ unterstützt (Schockemöhle, 2011, S. 83):
Bei der aktiven Erkundung komplexer Systeme – zum Beispiel eines Handwerksbetriebes, eines Fließgewässers oder einer Siedlung – trifft der Lernende auf ein Bündel unterschiedlicher Faktoren und Perspektiven und steht selbst mitten in diesem Netz aus ökonomischen, ökologischen, sozialen und kulturellen Einflussgrößen. Über Gespräche mit den Akteuren vor Ort, zielgerichtetes Beobachten und praktisches Arbeiten erhalten die Lernenden Zugang in das System. Diese handlungs- und systemorientierte Vorgehensweise fördert die aktive Aneignung von anschlussfähigem Wissen und übt das vernetzte Denken (…). (Schockemöhle, 2009, S. 9)
Der Umgang mit Komplexität ist vor allem für die Erwerbung wissenschafts-propädeutischer Kompetenzen im Rahmen der gymnasialen Oberstufe bedeutsam. Diese Erkenntnisse haben in einigen Bundesländern bereits ihren bildungspolitischen Niederschlag in der Einführung des Seminarfachs gefunden: Für Niedersachsen wird das inhaltliche Anliegen unter anderen in den folgenden drei Aspekten in Bezugnahme auf das außerschulische Lernen skizziert:
○
das Lernen am Original (Primärerfahrungen)
Damit ist forschendes und entdeckendes Lernen und Experimentieren – auch an neuen, innovativen Fragestellungen – ebenso gemeint wie die Synopsis und Deutung vorhandenen Wissens.
○
das Lernen an und in komplexen Zusammenhängen
Die Schülerinnen und Schüler erwerben Kompetenzen im Denken in vernetzten Strukturen (systemisches Denken, Denken in Modellen, in dynamischen Zeitgestalten sowie in Steuer- und Regelkreisen).
○
das Lernen in interdisziplinären Zusammenhängen
Es wird eine Erweiterung des Schulcurriculums durch fachübergreifende und fächerverbindende Aspekte verfolgt. Das Erkennen inhaltlicher Zusammenhänge über Fächer- und Schulgrenzen hinaus bedarf dabei der Unterstützung durch die Fächer, wirkt aber auch positiv auf diese zurück. Förderlich kann dabei das Lernen am außerschulischen Ort oder unter Einbeziehung außerschulischer Institutionen (z. B. Betriebe, Hochschulen) sein.
(Niedersächsisches Kultusministerium, 2006, S. 3)
Die Förderung eines Komplexitätsbewusstseins und damit einhergehend der Fähigkeiten zur mehrperspektivischen Betrachtung sind gerade im Kontext einer BNE zentral und konnte in einigen Studien auch empirisch gestützt werden. Für den Bereich der außerschulischen Umweltbildung konnte Clausen (2015) nachweisen, dass durch den Besuch außerschulischer Lernorte das Systemdenken von Lernenden gefördert werden konnte. Da sich die Arbeit auf Ökosysteme bezieht, sind die Befunde jedoch nicht auf ein systemisches Denken im Sinne der Politischen Bildung zu übertragen. Aussagekräftiger für die gesellschaftswissenschaftlichen Fächer sind die Befunde aus der Geographiedidaktik: In Evaluationen des Konzepts Regionalen Lernen 21 + (Diersen & Flath, 2017) konnten Schockemöhle (2009) und Dulda (2014) die Förderung der Gestaltungskompetenz, der raumbezogenen Identität und des vernetzten Denkens nachweisen.
Im Allgemein kann festgestellt werden, dass dem außerschulischen Lernen ein großes Potenzial zugesprochen wird, wenn es darum geht, lebensweltorientiertes, erfahrungs- und handlungsorientiertes und ganzheitliches Lernen zu ermöglichen sowie einen Umgang mit Komplexität, Mehrperspektivität und Ambiguität einzuüben. Zwischen dem zugesprochenen Vermögen und der empirischen Fundierung besteht jedoch eine Diskrepanz: Insgesamt gibt es wenige empirische Befunde zur Wirksamkeit außerschulischer Lernorte (Baar & Schönknecht, 2018; Gautschi et al., 2018; Messmer et al., 2011). Kritische Analysen zum Lernen an außerschulischen Lernorten sind ebenfalls kaum vorhanden (Ansbacher, 1998; Eshach, 2007; vgl. Bliesmer 2020, S. 45). Aussagen über die Wirkungsweise und Wirksamkeit außerschulischen Lernens als solches zu treffen, ist aufgrund der Vielfältigkeit der außerschulischen Bildungsangebote ein schwieriges und gar unseriöses Unterfangen. Die wenigen empirischen Studien beziehen sich auf unterschiedliche und je spezifische Lernorte mit unterschiedlichen Forschungsdesigns, Frage- und Zielstellungen, sodass eine „Vergleichbarkeit der Ergebnisse oder deren Verallgemeinerung […] daher kaum möglich [ist]. […] Die Forschungslage kann also insgesamt als ausbaufähig bezeichnet werden“ (Baar & Schönknecht, 2018, S. 171). Dabei gibt es jedoch große Unterschiede zwischen den Fachdisziplinen, so sind etwa Untersuchungen für den Primarbereich sowie der Geographiedidaktik stärker vertreten (Baar & Schönknecht, 2018, S. 150–154). Für den Bereich des außerschulischen Lernens im Kontext des Politikunterrichts existieren kaum empirische Forschungsstudien. Moritz (2018) plädiert angesichts dieser Forschungslücke dafür, die Begegnung zwischen Lernort und Lernenden stärker in den Blick zu nehmen und explorativ ausgerichtete Zugänge zu nutzen:
Zusammenfassend stehen politische Bildung und Politikdidaktik vor einem ernst zu nehmenden Problem. Es zeigt sich darin, dass Begegnungen zwischen Schülern und außerschulischen Lernorten in der Praxis häufig stattfinden, obwohl keine elaborierte Theorie dazu besteht und kaum empirisch gesicherte Erkenntnisse darüber vorliegen, wie sich die Interaktion zwischen Schülern und Ort gestaltet. Die empirische Erforschung außerschulischer Lernorte erlangt also hohe Priorität. Vor dem geschilderten Hintergrund bieten sich für entsprechende Studien vor allem offene und explorativ ausgerichtete Forschungsverfahren an, die die Begegnung zwischen Schülern und Ort möglichst komplex in den Blick nehmen und auf die Generierung von Hypothesen über den Gegenstand zielen, statt Theorie an ihn heranzutragen. (Moritz, 2016, S. 186)
Ein möglicherweise nicht fachspezifischer Befund betrifft die Bedeutung der schulischen Vor- und Nachbereitung, die in vielen theoretischen Arbeiten hervorgehoben wird und auch empirisch belegt werden konnte. So konnten Studien zeigen, dass Besuche im Schülerlabor das Interesse an Naturwissenschaften und Technik fördern können (Engeln, 2004; Guderian, 2007; Itzek-Greulich, 2015; Pawek, 2009). Jedoch scheint dieser Effekt kurzfristig zu sein, längerfristige Effekte können selten festgestellt werden (Baar & Schönknecht, 2018; Brandt et al., 2008; Guderian, 2007; Mokhonko, 2016). Zu einer Stabilisierung des Interesses trage die unterrichtliche Integration bei, die aber – wie beispielsweise für den Besuch von Science Centern festgestellt – nur selten stattfindet (Asmussen, 2010, S. 8). Das Potenzial außerschulischer Lernorte entfaltet sich demnach nicht in einmaligen Unternehmungen, sondern erst in der Wechselbeziehung zum Unterricht. Die curriculare Einbindung sowie die methodisch-didaktische Gestaltung des integrierenden Fachunterrichts stellen damit wichtige Einflussgrößen dar (Brandt et al., 2008). Wie bereits hervorgehoben (siehe Abschn. 4.2 unten), ist die schulische Einbettung für das politische Lernen aufgrund des Gegenstandsbereiches, der sich in der Regel einer unmittelbaren Anschauung entzieht, besonders wichtig. Das bloße Erleben lässt unter Umständen nicht intendierte Schlüsse zu; so zeigt beispielsweise die Studie von Drygalla (2007), dass der Landtagsbesuch bei Schüler*innen des 10. Jahrgangs eher dazu beigetragen habe, Vorurteile gegenüber Politik zu festigen, statt diese zu hinterfragen. Die Bedeutung der fachlichen Einordnung und Nachbereitung außerschulischer Erfahrungen ist vor dem Hintergrund dieser Studien angezeigt.
Der vorangegangene Abschnitt hat gezeigt, dass das außerschulische Lernen mit vielen (reform-)pädagogischen Erwartungen verbunden ist, die im konventionellen Schulalltag zu wenig Beachtung finden. Außerschulische Lernorte scheinen als Orte der ausgelagerten Hoffnungen zu fungieren. Zugleich wäre es ein Trugschluss, das Außerschulische als das Andere zu stilisieren und als vermeintliche Gegenwelt zum Schulischen zu idealisieren (Budde & Hummrich, 2016). Die schulische Einbindung schwächt zwangsläufig den informellen Charakter ab (Deinet & Derecik, 2016, S. 19–25; Overwien, 2020b, S. 234). Um den Vorwurf der „pädagogischen Folklore“ (Leutner, 2010, S. 63) abzuwenden, sind empirische Erkenntnisse notwendig. Auf diese Weise kann didaktisches Wissen generiert und der fachspezifische Begründungs- und der unterrichtsmethodische Anwendungszusammenhang beleuchtet werden. Dabei ist vor allem für das Feld der Politischen Bildung herauszufinden, welche Lern-, Reflexions- und Sinnbildungsprozesse durch außerschulische Begegnungen angeregt werden können und welches fachspezifische Potenzial daraus abgeleitet werden kann.
4.4 Außerschulisches Lernen in der Nachhaltigkeitsbildung
Gesellschaftliche Transformationsprozesse hin zu mehr Nachhaltigkeit erfordern einen kollektiven Lernprozess, in dem nicht nur Schüler*innen, sondern prinzipiell alle Gesellschaftsmitglieder als lernende Subjekte adressiert und zur Partizipation am gesellschaftlichen Projekt der Nachhaltigkeit befähigt werden sollen. Das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung der Gesellschaft soll dabei nicht nur theoretisch erlernt, sondern praktisch erfahren werden. Das außerschulische Lernen stellt aufgrund dessen ein zentrales Element einer BNE dar, um ein lebensweltorientiertes, erfahrungs- und handlungsorientiertes sowie mehrperspektivisches Lernen zu unterstützen (Diersen & Paschold, 2020, S. 12; Schockemöhle, 2009). Gerade im Konzept der Gestaltungskompetenz (siehe Abschn. 2.2) spielen dabei das kooperative, soziale Lernen sowie die Ermöglichung von Selbstwirksamkeit eine wichtige Rolle. Das Potenzial wird dementsprechend nicht nur allgemeindidaktisch begründet, sondern ergibt sich aus dem transformativen, gesellschaftsbezogenen und problemorientierten Anliegen des Bildungskonzeptes selbst.
Der besondere Stellenwert des außerschulischen Lernens im Kontext einer BNE wurde bereits mit der Ausrufung der Weltdekade „Bildung für Nachhaltige Entwicklung“ (2005–2014) durch die Vereinten Nationen hervorgehoben. Ein Großteil der in diesem Zusammenhang ausgezeichneten Projekte und Maßnahmen verorten sich im Feld des außerschulischen Lernens (Diersen & Paschold, 2020, S. 13). Diese außerschulische Institutionalisierung von BNE konnte auf bereits bestehende Strukturen und ein vielfältiges Netz an Lernorten der Umweltbildung und der entwicklungspolitischen Bildung zurückgreifen sowie von der lokalen und überregionalen Partizipation verschiedener Akteur*innen von staatlicher und zivilgesellschaftlicher Seite profitieren (Bormann et al., 2016; Duveneck et al., 2020). Die Zertifizierung außerschulischer BNE-Lernorte auf Bund- und Länderebene ist weiterhin ein wichtiges Instrument, um die Verbreitung und Etablierung von BNE sowie die sozialräumliche Öffnung der Schulen voranzutreiben. Diese Strategie der strukturellen Implementierung „hängt im Wesentlichen von erfolgreichen Netzwerken ab“, weshalb die Entwicklung nachhaltiger Bildungslandschaften darüber hinaus als ein wichtiges Ziel herausgestellt wird (Fischbach et al., 2015, S. 12).
Der trans- und interdisziplinäre sowie partizipative Anspruch einer BNE wurde im Nationale Aktionsplan zur Umsetzung des UNESCO-Weltaktionsprogramms Bildung für nachhaltige Entwicklung (2017; siehe Abschn. 2.1) deutlich herausgestellt. Er führt auf, welche Anstrengungen in den verschiedenen Bildungsbereichen der Frühkindlichen Bildung, der Schule, der Beruflichen Bildung, der Hochschule, des non-formalen und informellen Lernens sowie auf Ebene der Kommunen zu unternehmen sind. Die gesellschaftliche Transformation in Richtung Nachhaltigkeit wird als Multi-Stakeholder-Prozess gedacht (ebd.). Das heißt, es wird eine Zusammenarbeit mit Akteur*innen aus der Zivilgesellschaft, Wissenschaft sowie Wirtschaft anvisiert, die an einem gesellschaftlichen Gestaltungsprozess durch Bildung gewissermaßen beteiligt sind. Dies wird besonders in den Zielen 2 und 4 deutlich:
2. Ziel: Kooperationen, Staat und Zivilgesellschaft – Die Bildungsverwaltung hat bis 2030 wichtige Grundlagen für die schulische Umsetzung von BNE auf allen Ebenen (Bund, Länder, Kommunen) sowie für dauerhafte und verlässliche Kooperationen mit außerschulischen Partnern geschaffen. Die Verankerung in bestehenden lokalen und regionalen Netzwerken wird gefestigt und weiterentwickelt sowie weitere Netzwerkbildung angestoßen. (Nationale Plattform BNE c/o BMBF, 2017, S. 25)
4. Ziel: Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft gefordert – Die Umsetzung von BNE ist eine gemeinsame staatliche und gesellschaftliche Aufgabe. Bei der Umsetzung von BNE sind staatliche Akteure, Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft entsprechend ihrer gesellschaftlichen Funktion gefordert. (Ebd., 27)
Hierin wird besonders deutlich, dass die Öffnung der Schule im Kontext von BNE nicht nur den Besuch institutionalisierter außerschulischer Lernorte meint, sondern auch außerschulische Begegnungen mit regionalen Akteur*innen anstrebt. Insbesondere politische Akteur*innen aus der Zivilgesellschaft gelten „als Rückgrat der BNE in Deutschland“ (Singer-Brodowski et al., 2019, S. 431). Die Zielsetzung wird durch weitere zentrale bildungspolitische Dokumente wie dem Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung (KMK & BMZ, 2016, S. 72) hervorgehoben und findet inzwischen Eingang in länderspezifische Beschlüsse wie etwa dem BNE-Erlass Niedersachsen (Niedersächsisches Kultusministerium, 2021, S. 5). Dort heißt es, es
bestehen vielfältige Angebote von zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren, die Schulen durch ihre außerschulische Expertise und Kompetenz bereichern können – z. B. im Unterricht, in außerunterrichtlichen Ganztagsangeboten sowie in Projekten bzw. in Form von langfristiger Zusammenarbeit. (Ebd.)
Die Wirksamkeit und Wirkungsweise außerschulischer Bildungsangebote sind noch nicht ausreichend untersucht: In einem Review nationaler und internationaler Studien aus dem Jahr 2010 konnte zwar gezeigt werden, dass in einem Großteil BNE-Angebote positive Effekte auf den Lernerfolg festgestellt werden konnten – jedoch ist die Aussagekraft aufgrund forschungsmethodischer Limitationen stark eingeschränkt (Rieß, 2010, S. 146). Auch aus jüngeren Studien können keine generalisierbaren Schlüsse gezogen werden. Beispielsweise konnten positive Effekte auf die Wissensgenerierung zum Klimawandel durch einen eintägigen Besuch im Botanischen Garten (Sellmann, 2012; Sellmann & Bogner, 2013) sowie auf die Förderung der Systemkompetenz durch außerschulische Umweltbildungsmaßnahmen (Clausen, 2015) festgestellt werden. Insgesamt weisen empirische Befunde also auf eine gewisse Lernförderlichkeit im Hinblick auf nachhaltigkeitsbezogene Bildungsziele hin; die außerschulischen Lehr-Lern-Arrangements sind aber untereinander meist nicht vergleichbar.
Für die schulische Politische Bildung – als Unterrichtsfach und fächerübergreifende Aufgabe – ergibt sich aus dem hohen Stellenwert des außerschulischen Lernens in der Nachhaltigkeitsbildung sowie der Öffnung der Schule in den öffentlichen Raum die Frage, wie die erhofften Potenziale politikdidaktisch zu beurteilen sind. Im Zuge des nationalen Monitorings für den non-formalen Bildungssektor, aus dem heraus vielfach Bildungsangebote für Schulklassen entwickelt und Kooperationen eingegangen werden, konnte zwar ein hoher Implementierungsgrad von BNE nachgewiesen werden, jedoch gaben 81 % der Befragten an, sich stärker im Bereich der Natur- und Umweltbildung zu verorten (Brock & Grund, 2020, S. 9).2 Dieser Befund kann als vager Hinweis darauf gedeutet werden, dass ökologische Themen stärker als politische und ökonomische Perspektiven platziert werden (siehe auch die Befunde von Groß, 2011). Eine größere Anschlussfähigkeit besteht im Hinblick auf die außerschulischen Begegnungen mit Akteur*innen aus der Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Jedoch ist der Impetus geteilter Verantwortung, wie er im Nationalen Aktionsplan anklingt, sowie der u. U. realpolitische Konsens über das Leitbild der Nachhaltigkeit nicht derart misszuverstehen, dass Perspektivität und Kontroversität über das Wie der gesellschaftlichen Transformation nicht bestünde. Die Integration außerschulischer Akteur*innen in den Politikunterricht setzt voraus, die potenzielle Interessengebundenheit und Kontroversität pluraler Akteur*innenkonstellationen nicht nur zu berücksichtigen, sondern explizit zu thematisieren.3 Insofern sind einzelne Lernortbesuche oder Begegnungen aus Perspektive der Politikdidaktik auf die schulische Einbettung angewiesen, um möglicherweise überhaupt erst die politische Dimension freizulegen.
4.5 Außerschulisches Lernen im Politikunterricht
Das außerschulische Lernen wird im Kontext Politischer Bildung in erster Linie mit der non-formalen politischen Jugend- und Erwachsenenbildung in Verbänden, Gewerkschaften sowie parteinahen Organisationen jenseits der Institution Schule in Verbindung gebracht. Im Kontext des Politikunterrichts stellt das außerschulische Lernen eine besondere Form des Lernens dar – im folgenden Abschnitt wird sich auf dieses schulisch initiierte außerschulische Lernen fokussiert. Zu den etablierten außerschulischen Lernorten in der Politischen Bildung zählen einerseits politische Institutionen wie der Bundestag, das Landesparlament, das Europäische Parlament sowie auch Gedenkstätten (Juchler, 2018, S. 137; Moritz, 2016). Andererseits stellen Erkundungen und Befragungen didaktisch-methodische Elemente einer erfahrungs- und handlungsorientierten Unterrichtspraxis im Sinne des forschenden Lernens dar (Detjen, 2022; Straßner, 2020). Hinzu kommt das themenspezifische Aufsuchen von Orten zu Themen „wie Kolonialismus, Flucht, Asyl, Migration, Konsum und Nachhaltigkeit“ (Juchler, 2022, S. 515), die beispielsweise in Form von Stadtrundgängen konzeptualisiert werden können (Emde, 2020a). Mit der Integration außerschulischer Lernsituationen in den Fachunterricht wird das Ziel verfolgt, „einen gesellschaftlich-politischen Problembereich durch eigene Erfahrungen, Beobachtungen und Erlebnisse gemeinsam zu erschließen“ (Ackermann, 1998).
Aufgrund des Gegenstandsbereichs des Politischen Bildung scheint das außerschulische Lernen zunächst naheliegend sowie für eine sinnstiftende Vermittlungspraxis unerlässlich (Karpa et al., 2015). Wie im Falle der Nachhaltigkeitsbildung können auf diese Weise Brücken zur Region als potenziellem Handlungsraum hergestellt werden (Schockemöhle, 2011). Jedoch stellt sich die Frage, welchen Stellenwert das außerschulische Lernen in der schulischen Politischen Bildung tatsächlich einnimmt, welche politikdidaktischen Herausforderungen auszumachen sind und wie eine Integration außerschulischer Erfahrungen in den Unterrichtszusammenhang gelingen kann.
Im Folgenden wird in einem ersten Schritt der fachcurriculare und schulstufenspezifische Stellenwert anhand ausgewählter Bundesländer verglichen. In einem zweiten Schritt wird das Spannungsverhältnis von politischem und außerschulischem Lernen in politikdidaktischer Perspektive skizziert, um schließlich in einem dritten Schritt Konsequenzen für die Integration außerschulischer Begegnungen für die Unterrichtspraxis sowie Implikationen für die Konzeption der didaktischen Intervention der vorliegenden Arbeit abzuleiten.
4.5.1 Zum Stellenwert des außerschulischen Lernens im Politikunterricht
Welchen Stellenwert nimmt das außerschulische Lernen tatsächlich im Politikunterricht ein? Der politikdidaktische Fachdiskurs fokussiert sich vorrangig auf die begriffliche Klärung und die Darlegung des unterrichtspraktischen Nutzens. Es wird zwar allgemein festgestellt, dass „das Lernen an anderen Orten […] an erheblicher Bedeutung gewonnen hat“, jedoch „wird dieser Trend, vor allem seine praktische Ausführung, in der Disziplin und Profession vergleichsweise wenig didaktisch reflektiert“ (Ciupke, 2022, S. 524). Empirische Befunde liegen kaum vor (Moritz, 2016). Zwar gilt das außerschulische Lernen als etablierte Lernform des Politikunterrichts, jedoch zeigt etwa der Blick die Kerncurricula des Faches, dass ihr meist keine explizite Bedeutung beigemessen wird.
Ein exemplarischer Vergleich der Curricula für die Sekundarstufe I und II der Bundesländer Niedersachsen, Hessen und Baden-Württemberg zeigt ein unsystematisches Bild und legt länderspezifische Unterschiede offen.4 Das niedersächsische Fachcurriculum für die Oberschule verweist lediglich auf die Teilnahme an Wettbewerben sowie die Nutzung außerschulischer Lernorte, z. B. den Niedersächsischen Landtag (Niedersächsischen Kultusministerium, 2018a). Betont wird jedoch, dass die Themenfelder „auch regionale und aktuelle Bezüge sowie die Lebenswelt der Schülerinnern und Schüler berücksichtigen“ sollen (ebd., S. 19). Für die Sekundarstufe I und II des Gymnasiums finden sich keine expliziten Erwähnungen, doch wird die Fachkonferenz mit der Initiierung außerschulischer Vorhaben beauftragt (Niedersächsischen Kultusministerium, 2015; 2018b). In Baden-Württemberg ist das außerschulische Lernen ein fester Bestandteil der Methoden- und Handlungskompetenz und der Besuch außerschulischer Lernorte mit spezifischen Lernzielen verknüpft. Sowohl im „Gemeinsamen Bildungsplan der Sekundarstufe I“ (geltend für Werkrealschulen/Hauptschulen, Realschulen, Gemeinschaftsschulen, Schulen besonderer Art) als auch im „Bildungsplan des Gymnasiums“ (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg, 2016a; 2016b) wird die Bedeutung außerschulischer Lernsituationen für das Fach Gemeinschaftskunde herausgestellt. Zur Illustration wird nachfolgend aus dem Bildungsplan für die Sekundarstufe I zitiert (2016a); die Ausführungen stimmen im Wortlaut mit denen für das Gymnasium überein:
Handlungsorientierung:
Die Schülerinnen und Schüler setzen sich in schulischen Kontexten durch planvolles simulatives, produktiv-gestaltendes oder reales politisches Handeln (zum Beispiel an außerschulischen Lernorten) mit politischen Fragen und Problemen aktiv auseinander. Dabei sind inhaltlich relevante, schüleraktivierende, handlungs- und problemorientierte Lernangebote im Gemeinschaftskundeunterricht unentbehrlich. (H. d. V.; ebd., S. 10)
Handlungskompetenz:
Die Schülerinnen und Schüler können […] ihre Interessen in schulischen und außerschulischen Zusammenhängen wahrnehmen und an demokratischen Verfahren in Schule und Politik mitwirken. (H. d. V.; ebd., S. 13)
Methodenkompetenz:
Die Schülerinnen und Schüler können […] selbstständig Recherchetechniken nutzen und auch an außerschulischen Lernorten (zum Beispiel Parlament, Rathaus, Gericht) Informationen gewinnen und verarbeiten. (H. d. V.; ebd., S. 14)
Die Schülerinnen und Schüler können […] in elementarer Form sozialwissenschaftlich arbeiten (zum Beispiel eine Erkundung, Expertenbefragung, Meinungsumfrage oder ein Interview durchführen, auswerten und präsentieren). (H. d. V.; ebd., S. 14)
In den Curricula für das Fach Politik-Wirtschaft des Landes Hessen findet das außerschulische Lernen keine explizite Erwähnung – dies gilt für die Sekundarstufe I (Hauptschule, Realschule, Gymnasium; Hessisches Kultusministerium, 2021a; 2021b; 2021c) und die gymnasiale Oberstufe (Hessisches Kultusministerium, 2022). Jedoch werden lebensweltorientierte und mit dem Alter zunehmend wissenschaftspropädeutische Zugänge anvisiert, die eine didaktische Offenheit zu außerschulischen Lernformen implizieren. So heißt es für die Sekundarstufe I am Gymnasium: „Kompetenzen werden – im Sinne vernetzten Lernens – an geeigneten Inhalten in lebensweltlich bedeutsamen Zusammenhängen erworben“ (Hessisches Kultusministerium, 2021c, S. 5). In den curricularen Vorgaben für die gymnasiale Oberstufe wird der Erwerb fachspezifischer Methoden hervorgehoben:
Fachspezifische Methoden strukturieren die Erschließung der besonderen Lerngegenstände des Faches und prägen die Lernwege. Dazu gehören insbesondere Fallstudien, Konfliktanalysen, Planspiele, simulative Kontroversverfahren (Rollenspiel, Planspiel, Debatte, Diskussion, Talkshow), interpretativ-hermeneutische Verfahren sowie forschendes Lernen (Beobachtung, Befragung, Experiment), die je nach den jeweiligen Gegenstandsbereichen und Schwerpunkten des Kompetenzerwerbs ausgewählt werden. Stärker als in der Sekundarstufe I stehen dabei die Reflexion des Zusammenhangs von Inhalt und Methode sowie ein kritisches Überprüfen der Möglichkeiten und Grenzen der jeweiligen Methode im Vordergrund (Wissenschaftspropädeutik). (H. d. V.; Hessisches Kultusministerium, 2022, S. 14)
Der skizzenhafte Vergleich der Fachcurricula dreier Bundesländer verdeutlicht, dass die Hinweise zum außerschulischen Lernen in der Mehrzahl implizit enthalten sind, indem auf eine lebensweltorientierte Vermittlung insistiert wird. Während die Bezüge in Niedersachsen eine geringe Verbindlichkeit zum Ausdruck bringen, wird in Hessen und Baden-Württemberg auf die Bedeutung des außerschulischen Lernens für die fachspezifische Methodenkompetenz hingewiesen. In einem Vergleich verschiedener Fächer kommen Baar und Schönknecht (2018) zu dem Ergebnis, dass Hinweise zum außerschulischen Lernen in curricularen Vorgaben der gymnasialen Oberstufe in vielen Fächern vollständig fehlen. Mit einer zunehmend wissenschaftspropädeutischen Zugangsweise weicht ein Lernen, das „an konkrete Erfahrungen anknüpft und ein anderes Niveau der kognitiven Abstraktion bei den Schülerinnen und Schülern anstrebt“ (Baar & Schönknecht, 2018, S. 101). Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass die Herausstellung der didaktischen Funktionen und Intentionen sowie die Verbindung mit fachspezifischen Kompetenzen zu einer höheren Verbindlichkeit und geringeren Beliebigkeit beitragen könnten (Baar & Schönknecht, 2018, S. 105).
Vom Stellenwert des außerschulischen Lernens in den Fachcurricula kann nur bedingt auf die tatsächliche Unterrichtspraxis geschlossen werden. Dennoch stellen die Fachcurricula die zentralen Vorgaben für die Lehrkräfte dar. Die Initiierung außerschulischen Lernens liegt in der Regel im Ermessen der Lehrkraft und die Bedeutung für die alltägliche Unterrichtspraxis ist aufgrund des Aufwandes nicht zu überschätzen. Engartner (2010) ist zuzustimmen, wenn er resümiert:
Vielfach scheitert der Besuch außerschulischer Lernorte an den von Schülern wie Lehrern zu tragenden Kosten, an der Absorption von Unterrichtsstunden (was in der Regel Absprachen mit Kollegen erforderlich macht), an der mangelnden Verfügbarkeit von Begleitpersonen oder schlichtweg an der Scheu vor unliebsamen Überraschungen. (Ebd., S. 191)
Außerschulische Lernsituationen gehören zwar zum bewährten Methodenrepertoire, in der Unterrichtspraxis kommen sie jedoch selten zur Anwendung (Engartner, 2010; Juchler, 2018; Studtmann, 2017; 2020). Im Unterschied zur Geographiedidaktik wird das außerschulische Lernen selten in die politikdidaktische Diskussion explizit miteinbezogen (Autorengruppe Fachdidaktik, 2017; Moritz, 2016). Hierin kann ein deutlicher Unterschied zur Nachhaltigkeitsbildung identifiziert werden. Baar und Schönknecht (2018) schlussfolgern, dass „außerschulischen Lernorten zumindest in einem an Nachhaltigkeit orientierten Politikunterricht ein gewisser Stellenwert zukommt“ (ebd., S. 114). Im nachfolgenden Kapitel werden mögliche Spannungsverhältnisse außerschulischen und politischen Lernens beleuchtet und politikdidaktische Vorbehalte exploriert, um Implikationen für die vorliegende Forschung abzuleiten.
4.5.2 Spannungsverhältnisse außerschulischen Lernens aus politikdidaktischer Perspektive
Gesellschaftlich orientierte Fächer wie Politik, Wirtschaft, Geschichte und Philosophie sind mit der Herausforderung konfrontiert, ihre Lerngegenstände in ihrer Komplexität verstehbar und lebensweltlich bedeutsam werden zu lassen. Das außerschulische Lernen kann hier einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die Welt in ihren komplexen Zusammenhängen zu erfassen: „Der Lernort außerhalb der Schule trennt nicht nach Fächern, sondern hier vernetzen und überlagern sich unterschiedliche Fachrichtungen, so wie sich die soziale Wirklichkeit eben mehrperspektivisch darstellt“ (Karpa et al., 2015, S. 7). Zugleich stellt Mehrperspektivität nicht nur eine Form der Interdisziplinarität dar, sondern verweist auf das gesellschaftliche Moment der Pluralität, wie in Abschnitt 3.2.2 dargelegt. Insbesondere in „einer aktiven Begegnung mit den Perspektiven Anderer auf einen Sachverhalt“ wird die „die Vielschichtigkeit der Wirklichkeit überhaupt erst erfahrbar“ (Meints-Stender & Lange, 2020, S. 35). Hierin liegt das besondere Potenzial außerschulischer Begegnungen zur Förderung der politischen Urteilsbildung:
Die Erfahrung von und reflexive Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Perspektiven bietet den Besucherinnen und Besuchern außerschulischer Lernorte die Möglichkeit der Bildung eines eigenständigen politischen Urteils über die jeweils infrage stehenden politischen Gegenstände. Außerschulische politische Lernorte eröffnen im Hinblick auf die Ausbildung politischer Urteilsfähigkeit vielfältige Sichtweisen und Chancen zur Reflexion derselben. (Juchler, 2018, S. 140)
Während es in einer Fokussierung auf Orte und Räume darum geht, die „spezifische Materialität und [den] Symbol- und Sinngehalt“ (Ciupke, 2022, S. 527) zu erschließen, erfordert die Konzentration auf die Personen bzw. politischen Akteur*innen darüber hinaus Empathie und Perspektivenübernahme. Die außerschulische Begegnung kann dazu anregen, Handlungsmotive zu verstehen und die eigene Urteilsbildung zu reflektieren:
Die Beschäftigung der Schülerinnen und Schüler mit den Biografien von Akteuren, die an den Lernorten agier(t)en, ruft Emotionen hervor, fordert Empathie sowie Perspektivenübernahme. Die Lernenden werden auf diese Weise zur Reflexion über das politische Handeln der Akteure auf der Grundlage unterschiedlicher Perspektiven motiviert und zur eigenständigen Urteilsbildung über die infrage stehenden politischen Gegenstände am Lernort angeregt. Durch die Auseinandersetzung mit Perspektiven realer politischer Akteure ist darüber hinaus die Möglichkeit verknüpft, die Wertmaßstäbe für eigenes politisches Denken und Handeln zu überprüfen. (Juchler, 2022, S. 519)
So plausibel die theoretischen Annahmen darüber, dass außerschulisches Lernen mehrperspektivisches Lernen ermöglichen kann, auch anmuten, so plausibel scheint auch der Zweifel daran, dass Komplexität tatsächlich unmittelbar zu erfahren ist – insbesondere vor dem Hintergrund der empirischen Erkenntnisse zu den Schwierigkeiten in der Urteilsbildung (Marchand, 2015; Menthe, 2012). Im Unterschied zur üblichen, vornehmlich textgebundenen Vermittlung ist zwar der Grad an Unmittelbarkeit nicht zu bestreiten, jedoch ist der schüler*innenseitige Akt des Erschließens, Reflektierens und Sinnbildens kaum erforscht (Moritz, 2016). Im Folgenden seien zwei Spannungsverhältnisse skizziert, die für das außerschulische politische Lernen theoretisch und empirisch von Bedeutung sind.
Politisches Lernen zwischen Lebenswelt und Distanzerfahrung
Politische Bildung versucht eine Auseinandersetzung mit der politischen Wirklichkeit, mit der Um-Welt, zu initiieren und ist dabei meist mit der Herausforderung konfrontiert, das Spannungsverhältnis zwischen Ich und Welt erst zu eröffnen (Rößler, 2019, S. 335). Bildungstheoretisch betrachtet, beschreibt Bildung einen Prozess der Befähigung zur Distanz mit dem Ziel, „die Dinge verändert zu sehen“ (Dörpinghaus, 2015, S. 47). Lernen findet (nach Meyer-Drawe, 1996) besonders in jenen Situationen statt, „in denen es dem erfahrenden Ich nicht möglich ist, den eigenen Erfahrungsdiskurs beizubehalten. Die Erfahrung ist krisenhaft“ (Thompson, 2009, S. 59). Die politische Wirklichkeit erscheint als „Normalität“ und wird erst allmählich in ihrer sozialen Konstruiertheit, historischen Gewordenheit und Kontingenz erfasst. Politikdidaktische Theorieansätze wie das Prinzip der Schüler*innenorientierung nach Schmiederer (1977), der Konfliktorientierung nach Giesecke (1974), der Problemorientierung nach Hilligen (1985) sowie der Fallorientierung nach Fischer (1993) betonen das notwendige didaktische Wechselspiel zwischen Lebenswelt und Gesellschaft mit dem Ziel, im Erkennen der gesellschaftlichen Bedingtheit (dennoch) politische Selbstbestimmtheit zu erlangen.
Außerschulisches Lernen gilt als ein lebenswelt- und erfahrungsorientierter Zugang zum Politischen (siehe Abschn. 4.3). Entsprechend speist sich die Kritik an außerschulischen Lernformen im Rahmen des Politikunterrichts häufig aus einer Kritik an eben jenen Zugängen. Lebensweltorientierte Zugänge zielen darauf, politische Bildungsprozesse für die Lebenswelt der Schüler*innen bedeutsam werden zu lassen. In einem affirmativen Verständnis wird die Lebenswelt zum Ausgangspunkt des politischen Lernens gemacht; in einem kritischen-emanzipatorischen Sinne gilt es jedoch, jene zu überschreiten und gesellschaftspolitische Fragen im Horizont der Lebensweltwirklichkeit der Schüler*innen aufzuzeigen – und dabei „die eigene Position und Verstrickung in die[…] Verhältnisse [zu] reflektieren und gegen den Strich [zu] bürsten“ (Bremer, 2010, S. 188). Lehr-Lern-Arrangements ist es daher angezeigt, die Vorstellungen, Präkonzepte, Vor-Urteile und Alltagserfahrungen zwar zu berücksichtigen, aber auf deren Elaboration, Ausdifferenzierung und ggf. Korrektur auf Grundlage neuer Informationen und Impulse hinzuwirken. Vor dem Hintergrund dieser politikdidaktischen Prämisse wird der schulische Fachunterricht „als Lernort der Reflexion über Politik“ konzeptualisiert, „an dem anders als in der politischen Praxis vor allem der Blick aus der Distanz geschult werden kann“ (Goll, 2012, S. 206). Es besteht die auch unter Lehrkräften verbreitete Annahme (und Hoffnung), dass der Prozess eines bildsamen Überschreitens der Lebens- und Erfahrungswelten der Schüler*innen nur im Modus der analytischen Distanz evoziert werden könnte. Insbesondere im Hinblick auf die Urteilsbildung wird oft angenommen, dass die Bezugnahme auf die Erfahrungswelt ein Charakteristikum der Alltagsmeinung sei, während das politische Urteil auf der Wissensgrundlage der „Fachwissenschaft“ gefällt wird – von dieser Auffassung sind die alltagsdidaktischen Vorstellungen vieler Politiklehrkräfte geprägt (Klee, 2011, S. 54). Dies erklärt möglicherweise auch den unterrichtspraktisch geringen Stellenwert außerschulischen Lernens (siehe Abschn. 4.5.1).
Die Kritik an einem Lernen durch Erfahrung schließt an diese Argumentation an: Bereits Haller und Wolf (1979) problematisieren die Kategorie der Erfahrung in politischen Bildungsprozessen (siehe auch Rößler, 2019, S. 333 f.). In ihrem Aufsatz Die falsche Unmittelbarkeit oder das Reden über Erfahrungen – Alltagsbewußtsein und politisches Lernen in der Schule argumentieren sie, dass sich politische Urteile von Schüler*innen im Rückgriff auf Alltagstheorien und -erfahrungen lediglich bestätigen ließen und auf diese Weise Deutungsmuster nicht durchbrochen werden könnten (Haller & Wolf, 1979, S. 20). Diese seien beispielsweise geprägt von einer „Gleichsetzung von Wahrnehmung und Realität (nicht:»ich/wir/man sehe/sehen/sieht das so« sondern:»das ist so«)“ sowie einer „Ontologisierung gesellschaftlicher Entwicklungen, Strukturen und Sachverhalte (»das war immer so« – »so ist eben der Mensch/das Zusammenleben der Menschen«)“ (ebd., S. 14). Ein Lernen, das sich auf Erfahrungen stütze, bestätige diese Tendenzen der Urteilsbildung.
Die aktuellere Kritik am Erfahrungslernen findet sich in der Diskussion um das Service Learning im Rahmen der Demokratiepädagogik. Kritisiert wird, dass lediglich soziale Erfahrungen gemacht und nicht politische Erkenntnisse gewonnen würden. So bleibe in der bloßen Erfahrung von Nächstenliebe (bspw. Unterstützung im Seniorenheim) die politische Gestaltungsaufgabe (bspw. Pflegenotstand) u. U. unterbelichtet (Nonnenmacher, 2009; empirisch untersucht und belegt: Wohnig, 2017). Eine stärkere fachliche Einbettung, etwa im Schulunterricht, vermag eine fachdidaktisch gewünschte Verschiebung vom sozialen zum politischen Lernen zu unterstützen, wie Wohnig (2017) zeigen konnte.
Darüber hinaus ist das skizzierte Spannungsverhältnis mit einer weiteren Annahme verbunden: Wie sich bereits im Abschnitt 3.3.2 angedeutet hat, gehen die Modelle zur Entwicklung politischer Kompetenzen mit einer allmählichen Erweiterung von Bezugshorizont und Perspektiven einher. Einhelligkeit besteht darüber, dass das nahräumliche Denken, welches mit einer egozentrischen Perspektive und einem privaten Argumentationsniveau verknüpft wird, längerfristig zu überwinden ist (Petrik, 2013a, S. 338). Vor diesem Hintergrund scheint die entwicklungslogische Abfolge plausibel, da sie dem idealtypischen Anspruch gerecht wird. Zugleich legt dies aber eine entsprechende inhaltliche Sequenzierung – vom Nahbereich über die internationale Politik hin zur Gesellschaftstheorie – nach Altersgruppen nahe, die für das politische Lernen, etwa mit Blick auf die Grundschule, vermehrt infrage gestellt wird (BMFSFJ, 2020; JoDDiD, 2022; tatsächlich auch schon von Giesecke, 1974). Es kann angenommen werden, dass im politischen Lernen eine Nahbereichsorientierung mit einem lediglich affirmativen Lebensweltbezug assoziiert wird. In einer zeitgenössischeren Perspektive erscheint der öffentliche Nahraum hingegen vielmehr als Ort, der durch gesellschaftliche, politische und globale Zusammenhänge strukturiert ist. Die gesellschafts- und kulturwissenschaftliche Analyse und Dekonstruktion solcher Bezüge können einen forschenden und wissenschaftspropädeutischen Zugang zu gesellschaftspolitischen Fragen ermöglichen (Emde, 2020a).
Trotz des skizzierten Spannungsverhältnisses kann festgehalten werden, dass eine Entkopplung von Unterrichtsthemen und gesellschaftlicher, realpolitischer Wirklichkeit nicht zielführend ist. „Urteilsprozesse müssen als Lernprozesse verstanden werden“ – dementsprechend ist ein Lernen in Kontexten anzustreben, damit „Fachkenntnisse für Schüler in lebenspraktisch bedeutsamen Zusammenhängen erfahrbar und zugänglich“ werden“ (Klee, 2011, S. 55). Insbesondere im Kontext von Nachhaltigkeitsthemen stehen Lebensweisen infrage und werden Gewissheiten der Alltagswelt irritiert. Produktiver als die Frage nach der Sinnhaftigkeit außerschulischen Lernens im Politikunterricht, ist die Frage der nach der didaktischen Funktion des Schulunterrichts in solchen Vorhaben: Er kann durch die inhaltliche Einbettung ein erkenntnisleitendes Fundament schaffen und die Verstehensprozesse durch Reflexion und schlussfolgernder Distanznahme epistemologisch begleiten.
Authentizität und interessengeleitete politische Bildungsarbeit
Der Besuch außerschulischer Lernorte schafft authentische Begegnungen mit Lerngegenständen und birgt das Potenzial, situiertes und ganzheitliches Lernen zu ermöglichen (siehe Abschn. 4.3). In den bisherigen Ausführungen konnte diese allgemeindidaktische Annahme bereits politikdidaktisch konkretisiert werden: Gesellschaftspolitische Problembereiche entziehen sich in der Regel einer unmittelbaren Anschauung und bedürfen der fachlichen Erschließung (Ackermann, 1998). Die Authentizität des Politischen kann außerdem vorrangig in der Positions- und Interessengebundenheit politischer Akteur*innen liegen und ist entsprechend didaktisch zu reflektieren.
Dass sich politisches Lernen im Modus einer analytischen Distanz vollzieht, erhält auch dadurch Plausibilität, dass die Urteilsbildung der Schüler*innen vor unlauterer Einflussnahme zu schützen ist. Im Kontext einer Öffnung des traditionellen Lernraums Schule gilt es, das Engagement und Bildungsanliegen außerschulischer Akteur*innen prinzipiell zu prüfen. Denn insbesondere durch das Angebot kostenloser Unterrichtsmaterialien findet in den letzten Jahren eine zunehmende interessenorientierte Einflussnahme auf den schulischen Fachunterricht und die Institution Schule statt (Kamella, 2015). Auch Engartner und Krisanthan (2016) stellen fest, dass sich privatwirtschaftliche Initiativen auf diese Weise Zugang zu Schulen verschaffen würden und Lobbyismus betrieben: „Längst ist im einstigen ‚Schonraum Schule‘ ein Kampf um die Köpfe der Kinder entbrannt, der die Unterrichtsqualität gefährdet und das auf Mündigkeit zielende Bildungsverständnis aushöhlt“ (ebd., S. 208). Mehrere empirische Studien untersuchten bereitgestelltes Unterrichtsmaterial und konnten eine einseitige und insofern beeinflussende Aufbereitung der Lerngegenstände nachweisen (Verbraucherzentrale Bundesverband e. V., 2014; Heseding, 2018). Bemerkenswert ist dabei, dass sich die außerschulischen Akteur*innen gerade auf das Kontroversitätsgebot und Indoktrinationsverbot des Beutelsbacher Konsenses berufen – was nicht zuletzt eine fachdidaktische Diskussion um die Bedeutung und Funktion des Konsenses für das Feld der Politischen Bildung zur Folge hatte (Widmaier & Zorn, 2016).
Diese Entwicklung zeigt, dass die zunehmende Komplexität, Dynamik und Interdependenz gesellschaftlicher Sachverhalte mit einer Spezialisierung des Wissens einhergeht und hieraus ein Bedürfnis nach ‚Expertise‘ für die unterrichtlich verhandelten Lerngegenstände erwächst. Gleichwohl ist eine Diversifizierung der politischen Akteur*innen (NGOs, Vereine, Stiftungen, Verbände etc.) festzustellen, die ihre Themen auf der politischen Agenda – auch durch Bildungsarbeit – zu platzieren suchen. Die genannten Befunde sensibilisieren für die Gefahr, die Förderung politischer Urteilsfähigkeit und kritischen Denkens unbemerkt zu vereiteln, sofern keine kritische Prüfung vonseiten der initiierenden Lehrkräfte stattfindet. Die Perspektivität und Standortgebundenheit des Vermittelten transparent und damit auch kritisierbar zu machen, wird vor diesem Hintergrund zum elementaren Gütekriterium eines politischen Lernens in außerschulischen Lernsituationen.
4.5.3 Konsequenzen für die Einbindung außerschulischer Begegnungen in den Politikunterricht
Die Integration außerschulischer Begegnungen in den Politikunterricht birgt das Potenzial, die Lernenden in ihrer politischen Urteilsbildung zu unterstützen. Durch die Konfrontation mit verschiedenen Perspektiven wird einerseits die Komplexität des Lerngegenstandes durch die Verknüpfung mit spezifischen Lebensrealitäten und interessengebundenen Argumentationen dargestellt und die Perspektivenübernahme angeregt. Andererseits wird ein gesellschaftspolitischer Problembereich über den Kontakt zu und das Gespräch mit authentischen Akteur*innen erschlossen, was ein Involviert-Sein und ein Gefühl der Teilnahme an politischen Fragen evozieren kann. Als erfahrungsbezogene Zugänge zum Politischen, die ein Lernen in außerschulischen Situationen initiieren, gelten die fachspezifischen Methoden der Erkundung und (Experten-)Befragung, aber auch die Sozialstudie und die Gedenkstättenarbeit im Rahmen historisch-politischer Bildung (Detjen, 2022; Lange & Reinhardt, 2010; Straßner, 2020; Studtmann, 2020). Die außerschulischen Begegnungen stellen eine Kombination von Befragung und Erkundung dar, da die Gespräche in authentischen Kontexten stattfinden und das Räumliche einen Teil der Erfahrung darstellt. Die Perspektivität der außerschulischen Begegnung hat also eine personen-, interessen- und raumbezogene Dimension.
Die vorangegangene Darlegung des Forschungsdiskurses hat die Bedeutung der schulischen Einbettung in ihrer besonderen Relevanz für die Politische Bildung hervorgehoben. Außerschulische Lernsituationen sind als Elemente einer didaktischen Dramaturgie zu konzeptualisieren, in der sich Abstraktion und Generalisierung auf der einen Seite und Konkretisierung und Subsumtion auf der anderen Seite sinnhaft aufeinander beziehen müssen, ohne ineinander aufzugehen (siehe Abschn. 3.2.2). Dabei ist zu reflektieren, welche didaktische Funktion die außerschulischen Begegnungen im Unterrichtsvorhaben einnehmen (Emde, 2020b). So kann ein Gespräch mit Akteur*innen sowohl der Informationsgewinnung dienen als auch zur politischen Urteilsbildung beitragen. Außerschulische Lernsituationen können beispielsweise dazu dienen, „Konsequenzen bestimmter Entwicklungen zu erkunden und diese einer Einschätzung zu unterziehen“ (Straßner, 2020, S. 199). Findet die Vermittlung von Sachinformationen vorrangig in den Schulstunden statt, können die Begegnungen im Zeichen der Perspektivität und damit „die persönlichen Einschätzungen, Sichtweisen und Wertungen im Zentrum“ stehen (ebd.) (bspw. „Wie nehmen die regionalen Akteur*innen die Probleme wahr? Wie schaue ich selbst darauf?“). Die Perspektivgebundenheit der eigenen und fremden Wahrnehmung zu entdecken, kann zu einer kritischen Selbstreflexion beitragen (Brovelli et al., 2012, S. 151; Budke, 2009).
Zur unterrichtspraktischen Integration können einige Gelingensbedingungen abgeleitet werden. Im Rahmen der Vorbereitung steht die Entwicklung einer investigativen Haltung bei den Lernenden im Zentrum. Aus dem unterrichtlich aufgespannten Thema entsteht im besten Fall ein schüler*innenseitiges Erkenntnisinteresse, das beispielsweise in der Formulierung von Interviewfragen münden kann. Auf diese Weise wird eine Aktivierung der Schüler*innen sichergestellt. Vor Ort in den außerschulischen Begegnungen geht es darum, die Perspektiven zu erfassen. Ciupke (2022) stellt heraus, dass beim Lernen an authentischen Orten der Prozess des Wahrnehmens besonders berücksichtigt werden sollte:
Erkundungen, Orterschließungen und Reisen versprechen einen konkreten Blick in die Wirklichkeit, die Anschauung spielt deshalb eine wichtige Rolle. Anschauung wird hier als schlichte Beobachtungstätigkeit verstanden. Trotz der vorgetragenen Einwände gegen Aura, Authentizität und Originalität muss genügend Zeit gegeben werden für die persönliche Inaugenscheinnahme, nur so ergeben sich neben Bestätigungen immer auch Überraschungsmomente und Enttypisierungserfahrungen. An die Beobachtungen schließen das Stutzen, Staunen, Fragen und Vergleichen an. Das Lernen vor Ort ist daher ein induktives und genetisches Lernen. (Ciupke, 2022, S. 529)
Da die Integration in den Schulalltag in der Regel mit einer zeitlichen Begrenzung einhergeht, ist das „Stutzen, Staunen, Fragen und Vergleichen“ (ebd.) im Rahmen der Nachbereitung aufzugreifen. Dabei stehen die Auslegung sowie der Vergleich von Perspektiven im Fokus. Ciupke (2014) betont, dass in diesem Zusammenhang das Prinzip der Dezentrierung von der eigenen Sichtweise bedeutsam ist (ebd., S. 528). Im Rahmen einer Reflexion und im Austausch mit anderen Mitschüler*innen vergewissert man sich der eigenen Sichtweise.
Grundsätzlich ist aber festzuhalten, dass kaum Erkenntnisse über die schüler*innenseitigen Lern-, Reflexions- und Sinnbildungsprozesse im Kontext außerschulischer Begegnungen bestehen. Moritz (2016) ist zuzustimmen, wenn er einen entsprechenden Forschungsbedarf konstatiert.
4.6 Implikationen für die vorliegenden Studien
Im vorangegangenen Kapitel wurde zur theoretischen Einbettung eine erziehungswissenschaftliche Perspektivierung vorgenommen. Die Öffnung der Institution Schule und des Unterrichts ist insbesondere für fächerübergreifende Bildungsbereiche wie der Bildung für nachhaltige Entwicklung und der Politischen Bildung bedeutsam und didaktisch produktiv zu machen. Die Integration außerschulischer Lernsituationen kann den Fachunterricht durch lebenswelt- und erfahrungsorientierte Zugänge ergänzen. Ein besonderes Potenzial wird dem außerschulischen Lernen bei der Auseinandersetzung mit komplexen Problemstellungen zugesprochen: „Mit der Entgrenzung des traditionellen Lernraums verbinden sich Möglichkeiten neuer materiell zu verstehender Perspektiven und Anschauungsoptionen, die aber auch im übertragenden Sinne neue Sichtweisen und Reflexionspotenziale eröffnen“ (Ciupke, 2022, S. 526). Gerade die genuine Mehrperspektivität der außerschulischen Erfahrung vermag es, die politische Urteilsfähigkeit zu fördern (Juchler, 2022). Jedoch scheinen die Schulfächer der Politischen Bildung nicht zu den Fächern zu gehören, in denen dem außerschulischen Lernen eine Priorität eingeräumt wird, wie ein illustrierender Blick in die Fachcurricula verschiedener Bundesländer und Schulstufen zeigt (siehe Abschn. 4.5.1). Mögliche Ursachen für diesen Zustand können in einer Skepsis gegenüber dem nahräumlichen Lernen, in der zumeist stärker kognitivistischen Ausrichtung politischer Bildungspraxis sowie auch in einer in der Didaktik geadelten Stellung des Unterrichts vermutet werden, der ein In-Distanz-Treten zu den gesellschaftlichen Verhältnissen und somit eine Reflexion ermöglichen soll (Goll, 2012, S. 206).
Mögliche Gründe könnten damit ein Theorie- und Empiriedefizit sein, denn theoretische und empirische Beiträge sind notwendig, um die politikdidaktischen Vorbehalte auszuräumen oder zu bestätigen. Die Annahmen über das lernförderliche Potenzial des außerschulischen Lernens sind jedoch kaum empirisch bestätigt. Insbesondere Vorstellungen über ein vermeintlich nicht-entfremdetes Lernen außerhalb des Schulunterrichts haben damit eine Tendenz zur „pädagogischen Folklore“ (Leutner, 2010, S. 63) und bedürfen einer empirischen Überprüfung. Gerade im Kontext politischer Bildungsprozesse sind Vorstellungen von Unmittelbarkeit und Authentizität problematisch, wie schon Haller und Wolf (1979) in einer Kritik an einer naiven Erfahrungspädagogik feststellen und auch angesichts privatwirtschaftlicher Vereinnahmungsversuche zu betonen ist (Engartner & Krisanthan, 2016). Es ist festzuhalten, dass es zum außerschulischen Lernen in der Politischen Bildung weder elaborierte Theorieansätze noch empirische Forschungsergebnisse gibt und eine explorative Untersuchung von Verstehensprozessen – insbesondere im Hinblick auf die Möglichkeiten und Grenzen politischer Urteilsbildung – von Schüler*innen daher notwendig ist (Moritz, 2016).
Die vorliegende Arbeit schließt an diese Forschungslücke an und entwickelt und evaluiert zum einen eine Lerneinheit, in die außerschulische Begegnungen integriert wurden, und untersucht zum anderen, welche Lern-, Reflexions- und Sinnbildungsprozesse durch außerschulische Begegnungen längerfristig bei den Schüler*innen angeregt werden können. Damit wird das Ziel verfolgt, das fachspezifische Potenzial empirisch zu prüfen. Gerade im Hinblick auf das nachhaltigkeitsbezogene Bildungsziel, einen Umgang mit Komplexität zu erlernen, und vor dem Hintergrund der empirischen Befunde zu psychologischen Urteilsfehlern, Tendenzen zu unzureichenden Komplexitätsreduktionen und unangemessenen Vereinseitigungen und Vermeidungsverhalten (siehe Abschn. 2.4 und 3.4.2), stellt sich die Frage, wie die Fähigkeit zur politischen Urteilsbildung durch außerschulische Erfahrungen unterstützt werden kann.
Ein politikdidaktisch reflektierter Zugang soll sich in der problem- und konfliktorientierten Konzeption und didaktischen Begründung der Lerneinheit ausdrücken. Durch die Integration außerschulischer Begegnungen mit regionalen Akteur*innen in den Politikunterricht wird nicht nur die Perspektivenvielfalt aufgezeigt, sondern die Lernenden werden auch dazu angeregt, an einem „Gespräch über die gemeinsamen Angelegenheiten teilzunehmen und sich selbst in dieser Welt zu verorten“ (Oeftering, 2020, S. 71). Von den Schüler*innen wird im Rahmen der Begegnung ein Agieren und Sprechen im öffentlichen Raum eingefordert, etwa wenn sie ihre eigens formulierten Interviewfragen an die Akteur*innen stellen. Komplexität und Ambiguität wird auf diese Weise veranschaulicht, didaktisch inszeniert und elementarisiert.
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Die Europäische Kommission nimmt vor dem Hintergrund des Lebenslangen Lernens eine Dreiteilung zwischen formalem, non-formalem bzw. nicht formellem und informellem Lernen vor (2001, S. 9, 32–33; Overwien, 2020, S. 233): Unter ‚formalem Lernen‘ wird das strukturierte, zu einer Zertifizierung führende Lernen verstanden, das in der Regel in einer akkreditierten Bildungs- oder Ausbildungseinrichtung wie der Schule, der Universität oder auch der Berufsschule stattfindet. ‚Nicht formales Lernen‘ führt nicht zu einer Zertifizierung und findet außerhalb der genannten Einrichtungen statt. Das Lernen erfolgt jedoch zielgerichtet und systematisch. Ein Großteil der außerschulischen Lernorte können dem ‚non-formalen Bildungsbereich‘ zugerechnet werden. Mit dem Begriff des ‚informellen Lernens‘ wird das inzidentelle, beiläufige Lernen in der Familie, in der Gruppe der Gleichaltrigen, am Arbeitsplatz oder der Freizeit sowie teils auch durch Medien beschrieben. Üblicherweise folgt es keiner Intention und verläuft nicht strukturiert. Informelle Lernprozesse finden folglich auch in formellen Settings statt.
Die befragten außerschulischen Bildungsakteur*innen gaben dabei an, sich mehreren Bildungskonzepten zugehörig zu fühlen: BNE wurde dabei am häufigsten genannt, wobei eine stärkere Verbundenheit entweder zur entwicklungspolitischen Bildungsarbeit oder zur Umweltbildung angegeben wurde (ebd., S. 9). Ein Großteil der Lernorte – 81 % der Stichprobe – verortet sich stärker im Bereich der Natur- und Umweltbildung (ebd., S. 4).
Im Kontext der Governance-Analysen zum BNE-Transfer konnten konflikthafte Akteur*innenkonstellationen besonders auf kommunaler und regionaler Ebene ausgemacht werden (Bormann et al., 2016).