Lange waren Operational Technology und Information Technology getrennte Welten. Nun wachsen beide Felder zusammen, ebenso Shopfloor und Cloud. Hersteller sprechen bereits vom "Edge-Cloud-Continuum".
Virtuelle Steuerung: Zunächst in der Kleinserienfertigung am Standort Böllinger Höfe hat Audi speicherprogrammierbare Steuerungen, die bislang als Hardware an der Linie installiert waren, durch eine App ersetzt, die in einem rund zehn Kilometer entfernten Rechenzentrum läuft.
Audi AG
Henning Löser bringt es auf den Punkt: "Wir können heute Dinge realisieren, die wir vor ein paar Jahren noch für Science-Fiction gehalten haben", sagte der Leiter des Audi Production Lab bei der Hannover Messe Anfang April. Damit meint der Produktionsexperte vor allem Optimierungen der Fertigung durch Software und aktuell speziell Künstliche Intelligenz. Die smarte Fabrik der Zukunft ist eine Software-defined Factory, in der Operational Technology (OT) und Information Technology (IT) zusammenwachsen und eine durchgängige Kette bilden.
Daten eines Sensors aus einer Maschine beispielsweise bieten isoliert nur begrenzten Nutzen. Erst wenn man sie – und vielleicht auch noch Daten weiterer Sensoren und Maschinen – mithilfe von IT-Analysetools auswertet und daraus wichtige Entscheidungen ableiten kann, werden sie richtig wertvoll: Es lässt sich beispielsweise erkennen, wenn Produktionsparameter abdriften und vermutlich bald NiO-Teile vom Band laufen werden. Eine frühzeitige Korrektur kann solchen Ausschuss vermeiden.
Schwächelnde Maschinen lassen sich identifizieren – und dann rechtzeitig reparieren –, bevor sie ungeplante Produktionsstillstände verursachen. Vernetzt man alle Maschinen eines Werks oder viele Werke oder die ganze Wertschöpfungskette, können Unternehmen ihre Produktion viel effizienter steuern.
Hinzu kommt: Eine hoch automatisierte Produktion ist heute nicht mehr das Nonplusultra. In der modernen Industrie muss die Fertigung zudem noch hochgradig flexibel werden. Das geht nicht mehr ohne die Vernetzung, das Industrial Internet of Things – und eben komplexe Algorithmen.
"Paradigmenwechsel in der Shopfloor-IT"
Daraus resultieren neue Formen der Arbeitsteilung und der Architekturen, vom Shopfloor über Edge-Computing bis in die Cloud. Erste Beispiele dafür existieren bereits. Etabliert hat sich bei BMW etwa das sogenannte "Edge Ecosystem": In einer zentralen Cloud werden Anwendungs-Apps zentral vorgehalten und gepflegt. In den weltweiten Werken verteilte "Edge Devices" laden diese Anwendungs-Apps herunter und arbeiten vor Ort mit ihnen. Beispielsweise KI-Modelle, die dann lokal genutzt werden, um etwa Kameradaten aus der Qualitätskontrolle zu verarbeiten.
Audi hat vor knapp zwei Jahren einen "Paradigmenwechsel in der Shopfloor-IT" in die Produktion gebracht. Am Standort Böllinger Höfe, wo Kleinserien produziert werden, steuert ein lokales Servercluster die Werkerführung an bestimmten Takten. Die Server versorgen sogenannte "Thin Clients" an den Montagestationen mit Daten. Mit dieser skalierbaren Lösung wurden wartungsintensive Industrie-PCs ersetzt.
Hier wird auch deutlich, dass Begriffe wie Cloud oder Edge nur noch begrenzt aussagekräftig sind: Handelt es sich bei diesem Servercluster nun um eine Edge-Lösung, weil die Rechner vor Ort im Werk stehen? Oder bilden die Rechner eine Cloud, weil sie die Werkersteuerung zentral bündeln? Audi nennt seine Lösung denn auch "Edge Cloud 4 Production".
Noch weiter differenziert etwa Nokia. Die Finnen haben die Lösung MX Grid entwickelt, die einen Pool orchestrierter, rechenfähiger Feldgeräte – sogenannte "Micro-Edges" – mit einem spezialisierten, KI-fähigen Software-Stack nutzt. Diese Micro-Edges sind über private, drahtlose Netze oder zuverlässiges WLAN verbunden.
KI direkt auf dem Shopfloor nutzbar
Allerdings entwickeln sich die Technologien so rasant, dass heute getroffene Aufgabenverteilungen zwischen Edge und Cloud schon bald hinfällig sein können. Galt der Einsatz von KI-Modellen zunächst nur in der Cloud mit riesiger Rechenleistung als machbar, so tauchen zunehmend Algorithmen und Hardware auf, mit denen sich KI auch direkt auf dem Shopfloor nutzen lässt.
Die Nutzung einer Cloud hat zwar unbestreitbare Vorteile. Doch wenn Unternehmen möchten, dass Daten vom Shopfloor das Werk nicht verlassen, bleibt nur die Verarbeitung und Speicherung vor Ort. Eine Variante ist auch, eine erste Verarbeitung heikler Daten vor Ort vorzunehmen und nur die vielleicht weniger kritischen Ergebnisse für weitere Analysen in die Cloud zu schicken.
Auch Zuverlässigkeit und Latenzzeiten können gegen die Cloud sprechen. Datenverbindungen, die höhere Verfügbarkeiten als 99,99 % erreichen, sind intern und über kurze Strecken einfacher zu realisieren als über lange Distanzen und vielleicht auch noch fremde Leitungen. Latenzzeiten können ebenfalls ein Thema sein. Als Faustregel gilt, dass 100 km Übertragungsweg die Latenzzeit um mindestens 1 ms erhöhen. Das ist oft unproblematisch, aber nicht immer: Einige neuere Anwendungen erlauben nur 5 bis 10 ms. So sind etwa die Anforderungen bei der Analyse hochaufgelöster Videodaten zur Qualitätskontrolle weit strenger als bei Sensoren, die den Energieverbrauch einer Maschine überwachen.
Durch die Verzahnung der früher abgeschotteten OT mit IT-Systemen handelt man sich allerdings auch eine neue Gefahr ein: Hackerangriffe. Je größer die Netze werden, umso mehr Einfallstore für kriminelle Angriffe tun sich auf.
Kosten steigen mit Datenmengen
Letztlich spielen auch die Kosten für den Datentransfer eine Rolle für die Entscheidung zwischen Cloud- und Edge-Lösungen. Je größer die Datenmengen werden und je höher die Ansprüche an die Verfügbarkeit sind, umso mehr muss in der Regel dafür ausgegeben werden. Auch das kann dafür sprechen, lokal eine Vorverarbeitung der Daten durchzuführen und nur die Ergebnisse an eine Cloud zu schicken.
Eine neue Runde bei der Verzahnung von OT und IT hat jüngst Audi mit Siemens, Broadcom sowie Cisco eingeläutet und OT-Hardware abgeschafft. "Audi und Siemens revolutionieren Fabrikautomatisierung mit der weltweit ersten virtuell speicherprogrammierbaren Steuerung (vSPS) mit Sicherheitsfunktion in der Fertigung", schwärmt man beim Ingolstädter Autobauer. Das bedeutet: Speicherprogrammierbare Steuerungen, die bislang als Hardware noch direkt an der Produktionslinie in den Böllinger Höfen bei Audi montiert waren, verschwinden. Ihre Aufgaben übernimmt die vSPS, die als App im Rechenzentrum des 10 km entfernten Audi-Werks Neckarsulm arbeitet.
"Ein virtualisierter Shopfloor ist entscheidend für eine flexible Produktion", sagt Audi-Produktionsvorstand Gerd Walker. So könne man schnell auf Marktveränderungen reagieren und die Fertigung effizienter und flexibler gestalten.
Dank der vSPS könnten Programmänderungen nun schnell, einfach und zentral erledigt werden, erläuterte Henning Löser, Leiter des Audi Production Lab, bei der Hannover Messe im Gespräch mit Cedrik Neike, CEO von Digital Industries und Mitglied des Siemens-Vorstands. Broadcom steuerte bei dem Audi-Projekt die Virtualisierungssoftware für die Server bei, Cisco die Netzwerkinfrastruktur namens Software-Defined Access. Die Einführung der vSPS im Werk Neckarsulm bereitet Audi bereits vor.
"Edge-Cloud-Continuum"
Ein wichtiger Aspekt dabei ist die funktionale Sicherheit, um die es bei vielen Software-Lösungen nicht so gut bestellt ist, wie es für OT-Anwendungen nötig wäre. "Bisher war spezielle Hardware erforderlich, um die Anforderungen der funktionalen Sicherheit zu erfüllen. Mit der fehlersicheren virtuellen PLC hat Siemens nun Sicherheitsmechanismen in einer Industrial-Edge-Umgebung implementiert", betont man bei Siemens.
Noch weiter denken Fraunhofer-Forscher bei der Verschränkung von OT und IT. Fraunhofer CCIT propagierte bei der Hannover Messe das sogenannte "Edge-Cloud-Continuum" als Lösung der Zukunft. Durch die nahtlose Verknüpfung von Edge- und Cloud-Computing soll es möglich werden "Daten in digitalisierten Industrieprozessen automatisch dort zu verarbeiten, wo es am effizientesten und ökonomisch sinnvollsten ist".