Das Software Defined Vehicle verändert die automobile Wertschöpfungskette. Wer das volle Potenzial von Software ausschöpft, hat einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil. Doch längst sind nicht alle Hersteller so weit.
Fahrzeugfunktionen werden in der Automobilentwicklung zunehmend nicht mehr in der Hardware, sondern per Software abgebildet. Der Begriff "Software Defined Vehicle" greift die Verlagerung der automobilen Wertschöpfung in den Bereich Softwareentwicklung auf. Wie gerade auf der Konferenz ETAS Connections 2022 deutlich wurde, braucht das softwaredefinierte Auto daher neue Architekturen und Prozesse sowie ein ganz anderes Mindset. Im Zuge des komplexen, softwarebasierten Wandels wird Time-to-Market mittelfristig viel wichtiger sein als früher. Entscheidende Voraussetzungen für den Erfolg des softwaredefinierten Fahrzeugs sind Geschwindigkeit, Skalierbarkeit, Sicherheit und die Kooperation mit Partnern.
Bestand vor rund zehn Jahren die Software eines Neuwagens aus 10 Millionen Codezeilen, so sind es mittlerweile etwa 100 Millionen. Bis 2030 könnten es laut Unternehmensberatung McKinsey etwa 300 Millionen Zeilen Softwarecode sein. Elektrifizierung, Automatisierung und Konnektivität verändern die Kundenerwartungen und veranlassen die Hersteller, zunehmend auf Software zu setzen, um sie zu erfüllen. Vor diesem Hintergrund müssen sich die Automobilhersteller grundlegend neu erfinden. Sich im gegenwärtigen Umbruch zukunftsfähig aufzustellen, ist jedoch eine Herausforderung. Wie eine Analyse der Unternehmensberatung Roland Berger zeigt, könnten die Ausgaben für Software bis 2030 auf bis zu 59 Mrd. US-Dollar pro Jahr steigen. Der Ausweg: Neue Designkonzepte, bei denen das Fahrzeug von Beginn an rund um eine Softwareplattform aufgebaut wird, eben als Software Defined Vehicle. Dadurch ließen sich ab 2030 jährlich fast 16 Mrd. US-Dollar einsparen.
Abkehr vom bisherigen Designansatz
Die Umstellung ist für die Branche von zentraler Bedeutung. "Die Automobilindustrie kann sich die Software, die sie in Zukunft braucht, nur leisten, wenn sie ihre Kosten an anderer Stelle senkt", sagt Wolfgang Bernhart, Partner bei Roland Berger. "Die wichtigste Voraussetzung dafür ist die Abkehr vom bisherigen Designansatz, bei dem die Software und technische Funktionen in ein bestehendes Fahrzeugkonzept integriert werden, zugunsten eines neuen, Software-definierten Fahrzeugaufbaus", so Bernhart weiter. Laut einer Studie des Capgemini Research Institute nutzen derzeit 93 % der OEMs eine traditionelle Fahrzeugarchitektur, während nur 13 % planen, die eng integrierte Bereitstellung der Hardware- und Softwarearchitektur zu entkoppeln.
Letztendlich ist der Wandel nicht nur Überlebensstrategie, sondern auch lohnenswert für die Branche: Automobilhersteller, die das volle Potenzial von Software ausschöpfen, könnten der Capgemini-Studie zufolge nämlich einen erheblichen Wettbewerbsvorteil erlangen. So sollen softwarebasierte Funktionen und Services bis 2031 voraussichtlich einen Marktwert von 640 Milliarden US-Dollar erreichen, wie die Studie, für die weltweit 572 Führungskräfte von Automobilherstellern befragt wurden, prognostiziert. Die softwaregetriebene Transformation soll zudem dazu führen, dass OEMs mittelfristig Produktivitätssteigerungen um bis zu 40 %, Kostensenkungen um 37 % und eine Verbesserung der Kundenzufriedenheit um 23 % realisieren könnten.
Tesla als Blaupause
Für Wissenschaftler des Instituts für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) München macht der E-Autobauer Tesla diesen Tatbestand wie unter dem Mikroskop sichtbar. So betreibe Tesla Automobilbau nach einem integrierten Software- und Hardwarekonzept. "Für Tesla ist ein Auto kein fertiges Produkt mehr, sondern eine softwaredefinierte Plattform, die es permanent zu erweitern gilt. Über Daten, die das Fahrzeug und seine Nutzer erzeugen, optimiert und innoviert Tesla nicht nur permanent seine Produkte, sondern entwickelt auch sein Geschäftsmodell weiter", erklären die Forschenden. Mithilfe dieser Daten lernt das Unternehmen aber auch die Kernkompetenzen der klassischen Automobilproduktion immer besser beherrschen. Damit kombiniere das "Tech-Unternehmen sein Know-how in der E-Mobilität mit den Prinzipien der Informationsökonomie".
Allerdings sei Tesla nur der Vorbote einer neuen Produktionsweise, wie die Münchner Wissenschaftler in ihrem Forschungsreport "Umbruch in der Automobilindustrie" erläutern. "Die Wertschöpfungskonzepte von Unternehmen wie Google, Amazon, Nvidia oder Alibaba haben einen ausreichenden Reifegrad erreicht, um nach der Disruption von IT-Industrie, Handel, Musik- und Filmindustrie einen 'Brückenschlag' in die industriellen Kerne zu vollziehen. Die Automobilindustrie steht im Fokus dieser Bestrebungen", heißt es. Damit würden neue Akteure auf den Markt drängen, die neue Kernkompetenzen, Geschäftsmodelle, Produktionskonzepte und Formen der Arbeitsorganisation mitbrächten.
Etablierte Player unter Veränderungsdruck
Diese Transformation setzt die etablierten Player unter einen erheblichen Veränderungsdruck. So setze ein "Teil der Hersteller hierzulande […] weiter auf Kontinuität und versucht, die historisch gewachsenen Kompetenzen als Produzenten und Verkäufer solider Fahrzeuge 'made in Germany' weiterzuführen", so die Münchner Forschenden. Eine zweite Gruppe wandele sich zum Tech-Unternehmen, rüste Software-Kompetenzen auf und entwickle datenbasierte Geschäftsmodelle oder baue Cloud-Infrastrukturen auf. Schließlich werden anstelle eines Entwicklungszyklus, der sich auf "Modelljahre" konzentriert, agile Methoden die kontinuierliche Softwareentwicklung vorantreiben.
Dennoch – auch das zeigt die Capgemini-Studie – stehen die meisten OEMs (71 % der globalen sowie 53 % der deutschen Unternehmen) erst am Anfang ihrer softwaregetriebenen Transformation. Nur 15 % der OEMs würden als "Vorreiter" bei der erfolgreichen Transformation gelten, da nur sie den notwendigen Reifegrad zur Implementierung einer softwaregetriebenen Transformation vorwiesen. Die Vorreiter unter den OEMs gehen davon aus, dass der durch Software erzielte Umsatz in zehn Jahren 28 % ihres Gesamtumsatzes ausmachen wird.
Geänderte E/E-Architektur
Was bedeutet diese Transformation nun auf Fahrzeugebene für die Entwicklung und den Betrieb des Software Defined Vehicle? Zum einen, dass die Over-the-Air-Updatefähigkeit zum Schlüssel fast jeder digitalen Wertschöpfung im Fahrzeug wird, wie es Jörg Ohlsen von Cognizant Mobility im Gastkommentar Das softwaredefinierte Fahrzeug überrennt die Automobilindustrie aus der ATZelektronik 6-2022 schreibt. Zum anderen, dass sich die Elektrik/Elektronik- oder E/E-Architektur ändert, wie Hans Windpassinger vom IBM im Artikel Auf dem Weg zum softwaredefinierten Fahrzeug aus der ATZelektronik 7-8-2022 verdeutlicht. Diese Änderung erklärt sich so: Mit zunehmender Elektrifizierung und Vernetzung steigen die Funktionsumfänge stark an. Jede neue Funktion ist gleichbedeutend mit mehr Software. Diese Softwarekomplexität gilt es zu bewältigen, was eine stärker zentralisierte E/E-Architektur notwendig macht.
Gab es bislang eine Vielzahl einzelner Steuergeräte (Electronic Control Units, ECUs), sollen künftig nur wenige, dafür leistungsfähigere Steuereinheiten zum Einsatz kommen. Windpassinger zeigt in seinem Beitrag auf, wie Steuergeräte durch zonale E/E-Architekturen und eine Handvoll Linux-basierter Hochleistungsrechner ersetzt werden können. Für leistungsfähige Steuergeräte in einer zentralisierten E/E-Architektur bereitet Vitesco Technologies einen Co-Development-Prozess für Hard- und Software über seine skalierbare Master-Controller-Motion-Plattform vor, wie der Zulieferer im Artikel Master Controller für das softwaredefinierte Fahrzeug aus der ATZelektronik 7-8-2022 beschreibt.
Abwehr digitaler Gefahren
Der Übergang zum softwaredefinierten Fahrzeugen bedeutet zudem, dass die Anforderungen an die Datenverarbeitung steigen werden, da Fahrzeuge Daten von verschiedenen Sensoren verarbeiten und mit einem breiten Ökosystem interagieren, das auch andere Fahrzeuge auf der Straße umfasst. Die Fahrzeughersteller werden Datenanalysesysteme entwickeln müssen, die in der Lage sind, diesen enormen Datenfluss zu bewältigen und ihn nahezu in Echtzeit zu verarbeiten.
Im Zuge dessen muss das Software Defined Vehicle auch gegen Hackerangriffe abgesichert werden. Dateneigentum und Cybersicherheit sind kritische Punkte. Daher rüsten die Automobilhersteller auf, um ihre Fahrzeuge zu schützen, was aber ein vielschichtiges und komplexes Unterfangen ist. Laut Capgemini-Studie hätten rund die Hälfte der OEMs damit zu kämpfen, Daten zu sammeln und daraus verwertbare Erkenntnisse abzuleiten. Weniger als 10 % glaubten, dass sie gut vorbereitet seien, Cybersicherheitsmaßnahmen umzusetzen und 60 % hätten Schwierigkeiten, sicherzustellen, dass die Produkte von Zulieferern den Sicherheits- und Cybersicherheitsvorschriften entsprechen.
Rein in die Cloud
Um das volle Potenzial der Transformation zu erschließen, muss neben dem Vorhandensein eines umfassenden Verständnisses von Fahrzeugtechnik und Physik, auch eine Weiterbildung eines Großteils der bestehenden Belegschaft im Bereich der Softwarekenntnisse sowie neuen Arbeitsweisen erfolgen. Derzeit seien laut Capgemini-Studie OEMs mit einer Kompetenzlücke von 40 bis 60 % in Bereichen wie Softwarearchitektur, Expertise im Cloud Management und Cybersicherheit konfrontiert, gleichzeitig bestehe ein wachsender Bedarf an softwarebezogenen Kompetenzen in der Branche. Wie Robert Unseld im Editorial Heilig's Blechle aus der ATZelektronik 7-8-2022 ausführt, habe Mercedes-Benz beispielsweise bis Februar 2022 laut Business Insider rund 1.500 Softwareingenieure zusätzlich eingestellt. Volkswagen soll bei Cariad rund 5.000 Experten versammelt haben.
Was bei der Personalorganisation zu bedenken ist: "Der Entwicklung von Automotive-Software liegen heterogene Strukturen mit individuellen Werkzeugketten zugrunde, die zu Reibungsverlusten führen", wie Gerit von Schwertführer von Etas im Gastkommentar Die Zukunft liegt in der Cloud aus der ATZelektronik 7-8-2022 ausführt. So wirken in der Softwareentwicklung für Fahrzeuge immer mehr global verteilte Teams zahlreicher Unternehmen mit unterschiedlichen Schwerpunkten zusammen. Daher brauche es eine Lösung, so von Schwertführer, die effiziente Kollaboration ermögliche: Alle Entwickler eines Projekts integrieren in den gleichen Softwarestand, wo auch immer sie ihre Rechner starten. Am besten gelinge das in der Cloud, so der Etas-Spezialist.
Gesamtgesellschaftliches Zukunftsprojekt
Neben allen Herausforderungen, die das Software Defined Vehicle an die Automobilhersteller stellt, ist sicher: Der Übergang zu diesem neuen Designkonzept erfordert branchenweite Kooperation. "OEMs und Zulieferer müssen ihre Software-Wertschöpfungskette und ihr Geschäftsmodell überdenken. Die Branche müsste sich zunächst auf gemeinsame Normen für Fahrzeugarchitekturen und die Nutzung von Open-Source-Software einigen", erklärt Roland Berger.
Letztendlich kann die Transformation der Branche nur als gesamtgesellschaftliches Zukunftsprojekt gelingen. "Statt im alten Denkmuster zu verharren, braucht es einen gemeinsamen Lernprozess, ein neues Selbstverständnis und eine gemeinsame Vorwärtsstrategie", sagt Prof. Dr. Andreas Boes, Vorstandsmitglied des ISF München. Die Organisation sollten die Stärken eines historisch gewachsenen Industriebetriebs mit den neuen Kompetenzen, die gerade in der Informationsökonomie entstehen, verbinden. Boes bilanziert: "Informationsökonomie heißt nicht: weg mit der Industrie, sondern: Industrie neu denken."