"Digitalisierte Tests sind der wichtigste Hebel"
- 21.10.2025
- Automobilproduktion
- Interview
- Online-Artikel
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Chinesischen OEMs ist es gelungen, die Produktentwicklungszeit zu halbieren. Wie das den Druck auf die deutsche Autoindustrie erhöht – und wie sie wettbewerbsfähig bleibt, erläutert Sebastian Küchler von McKinsey.
Sebastian Küchler ist Partner im Münchner Büro von McKinsey & Company. Er berät Klienten im Bereich Produktentwicklung und Beschaffung.
McKinsey & Company
springerprofessional.de: Chinas Autobauer haben ihr Tempo in der Entwicklung deutlich erhöht. Neue, auf Elektrofahrzeuge spezialisierte chinesische Automobilhersteller hätten es laut einer McKinsey-Studie geschafft, nur noch 27 bis 30 Monate von der Idee bis zur Markteinführung zu brauchen, während bei etablierten OEMs in Deutschland eine Vorlaufzeit von 50 bis 60 Monaten Standard sei. Wie gelingt es chinesischen OEMs, die Produktentwicklungszeit zu halbieren?
Küchler: Geschwindigkeit ist zu einem entscheidenden Vorteil im Kampf um Marktanteile in China geworden. Die lokalen EV-Hersteller stehen im Wettbewerb mit sehr vielen neuen Marken und Newcomern darum, das neueste Feature am schnellsten auf den Markt zu bringen. Daher hat China aktuell auch den größten, am schnellsten wachsenden und wettbewerbsintensivsten Automobilmarkt der Welt. Chinesische OEMs haben die Komplexität im Produktportfolio massiv reduziert und bieten viel weniger Varianten und Konfigurationsmöglichkeiten. In Europa geht der Trend zwar auch dahin, die Zahl der Sonderausstattungen zu begrenzen, aber nicht in dem gleichen Maße wie in China. Dies hat Einfluss auf die Entwicklungsaufwände. Zudem schaffen es die chinesischen Hersteller, die technische Komplexität durch mehr Gleichteile in den Fahrzeugen stärker zu senken. Sie verwenden viel mehr standardisierte Komponenten. Über Baureihen hinweg können so die Aufwände für Neuentwicklungen, Qualifizierungen und Tests reduziert werden. Hinzu kommt ein weiterer Treiber: eine klare und schlanke Führungsstruktur in den Produktentwicklungsprozessen. Projekte werden von einer kleinen Gruppe von vier bis fünf Führungskräften gesteuert. Sie kommen mehrmals wöchentlich zu kurzen Stand-up-Meetings zusammen, um produktbezogene Themen zu besprechen und Entscheidungen an Ort und Stelle zu treffen. Diese werden dann auch konsequent – mit wenig Änderungen – durchgehalten.
Welche Wettbewerbsvorteile bringt diese Beschleunigung mit sich?
Schnelle Entwicklungszyklen wirken sich auf die Kosten aus – einfach deshalb, weil nicht so lange an einem Produkt gearbeitet wird. Zwar wachsen die Intensität und damit der Einsatz an Manpower je Thema. Aber abhängig von den jeweiligen Prozessen sind Reduktionen von 30 bis 40 % möglich. Das ist wichtig, denn der intensive Wettbewerb auf dem Markt drückt andererseits die Gewinnspannen aller Marktteilnehmer. Zumal wenn die Verbraucher mit jedem Modellzyklus mehr Fahrzeugfunktionen und niedrigere Preise fordern. Insbesondere in China wünschen sich die Kunden kurzfristige Innovationschübe, insbesondere im Infotainment-Bereich. Durch schnelles Handeln entwickeln die Unternehmen Produkte, die sich mit neuartigen Technologien und marktführenden Funktionen vom Wettbewerb abheben.
Auf welche Hebel setzen die chinesischen Hersteller zur schnelleren Einführung von Modellen?
Im Wesentlichen setzen die OEMs auf acht Hebel. Erstens geht es darum, die Produkt- und Komponentenportfolios zu optimieren, also zum Beispiel durch Übernahmeteile weniger Komplexität abbilden zu müssen. Auch die virtuelle Erprobung wird bei den chinesischen OEMs zweitens viel stärker verwendet. Die Entkopplung von Hardware und Software ermöglicht drittens, die Software bereits früher im Entwicklungszyklus zu erproben und Fehler zu beheben. Dadurch kann dann viertens früher mit der Integration in die Systeme gestartet werden. Ein fünfter essenzieller Treiber besteht in der gesamten Werkzeugbeschaffung für die Komponentenfertigung. Durch virtuelle Erprobung und Testing sind Auslegungen des Fahrzeugs frühzeitig im Entwicklungsprozess klar, die Werkzeugbeschaffung kann bereits beginnen – zum Beispiel bei Formen für Kunststoff- und Gusskomponenten oder Stanzwerkzeuge für Blechpressen. Ein spezifischer Entwicklungsprozess für batterieelektrische Fahrzeuge (BEV) reduziert sechstens die Zeit nochmals deutlich, da weniger Testzyklen als bei Verbrennern erforderlich sind. Neben diesen ganzen Faktoren spielt siebtens das Thema KI eine zentrale Rolle. So lassen sich viele begleitende Prozesse wie beispielswiese die Auslegung von Lastenheften oder die Dokumentation durch Gen AI massiv beschleunigen, da die Anforderungen automatisiert geschrieben werden können. Und schließlich sind achtens die genannten strikten Entscheidungsstrukturen ein wichtiger Faktor, damit alle anderen Hebel ihre Wirkung voll entfalten können.
Wie sieht das Zeitersparnispotenzial der einzelnen Hebel genau aus?
Das Potenzial ist sehr unterschiedlich ausgeprägt. Mit einer geschätzten Verkürzung der Markteinführungszeit von neun bis elf Monaten sind digitalisierte Tests der wichtigste Hebel, um Entwicklungszyklen zu beschleunigen. Auch die Entkopplung von Software und Hardware kann mit einer Verkürzung von drei bis zehn Monaten stark zum Tragen kommen. Die robuste vertikale Integration und Lieferstrategie reduziert die Zeit um drei bis vier Monate, während die frühe Herstellung von Werkzeugung einen Zeitgewinn von einem bis zu vier Monaten bringt. Die Optimierung des Produkt- und Komponentenportfolios sowie die strikte Entscheidungsstruktur schlagen in der Gesamtrechnung mit je ein bis drei Monaten zu Buche.
Inwiefern spielt der Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) bei der Verkürzung der Entwicklungszeiten eine Rolle?
Chinas Automobilhersteller verwenden Software-Simulationen und virtuelle Prototypen für 65 % ihrer Tests, verglichen mit 40 bis 50 % in anderen Regionen. Sie können sich abheben, weil sie Gen AI in der gesamten Organisation der Produktentwicklung einsetzen. Die Unternehmen haben schnell eine neue Generation von Projektmanagement-Systemen eingeführt, die fortschrittliche Analysen und künstliche Intelligenz nutzen, um nahezu in Echtzeit ein klares, umsetzbares Bild des Projektstatus zu erstellen. Zudem werden aufwendige Simulationen häufiger schon viel stärker durch KI-gestützte Berechnungen ergänzt, was die eigentliche Simulationszeit deutlich reduziert.
Welche Risiken birgt der "China Speed", also Chinas Beschleunigung der Automobilproduktentwicklung?
Ein Hauptproblem der Beschleunigung in der Produktentwicklung bilden die Auswirkungen der kurzen Lebenszyklen von Fahrzeugen. Wenn die Kunden – so wie in China der Fall – alle zwei bis fünf Jahre brandneue Modelle erwarten, steigt der Druck auf OEMs und Zulieferer drastisch. Sie sind fast gezwungen, ihre Produktionsabläufe zu rationalisieren und die Wiederverwendung von Komponenten zwischen den Produktiterationen zu maximieren. Traditionelle Hersteller dagegen produzieren in der Regel sieben bis zehn Jahre lang Varianten eines einzigen Modells. Das gibt ihnen viel Zeit, um die Fertigung zu stabilisieren. Sie können die Lieferketten optimieren und die Werkzeug- und Einrichtungskosten amortisieren. Wenn Kunden häufiger das Fahrzeug wechseln, werden so lange Lebenszyklen nicht mehr möglich sein.
Ist dieser "China Speed" außerhalb von China ohne weiteres möglich?
Die neue Welle der Automobilproduktion in China kann durchaus eine Blaupause für Unternehmen in den USA und Europa sein, die nach schnelleren und kostengünstigeren Wegen zur Entwicklung ihrer Produkte suchen. Dies gilt sicherlich für Autobauer, die sich auf ihren Heimatmärkten nun mit chinesischen Konkurrenten konfrontiert sehen. Aber nicht nur: Auch Unternehmen anderer Branchen, die mit komplexen Produkten zu tun haben, können von dem "China Speed" lernen. Ohnehin steigt der Druck auf etablierte Automobilhersteller. Insbesondere wenn man bedenkt, wie Chinas Autobauer aktuell neue Märkte zu erschließen beginnen. Marktführer BYD beispielsweise baut Werke in Ungarn und der Türkei.
Was sollten deutsche Autobauer tun, um in diesem beschleunigten Entwicklungsumfeld wettbewerbsfähig zu bleiben?
Die Produktentwicklungslandschaft ist schneller und schlanker geworden. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, sind die Unternehmen gut beraten, entschlossen zu handeln. Dafür sollten sie ihre Anstrengungen darauf richten, das Produkt- und Komponentenportfolio zu rationalisieren und zu fokussieren. Zur Nutzung digitaler Technologien gibt es keine Alternative, um Entwicklung und Tests zu beschleunigen. Um Tempo aufzunehmen, braucht es auch eine rigorose und KI-gestützte Projektabwicklung. Wer aufholen will, sollte zudem auf vertikale Integration setzen, wo sie sinnvoll ist und frühzeitig kooperative Partnerschaften mit Lieferanten eingehen, wo diese nicht sinnvoll ist.