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03.06.2015 | Bankvertrieb | Interview | Online-Artikel

"Die Beratung zum Langlebigkeitsrisiko muss gelernt werden"

verfasst von: Stefanie Hüthig

4:30 Min. Lesedauer

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Die Ruhestandsplanung ist ein wichtiges Feld für Banken und Versicherer. Buchautor Jochen Ruß erklärt im Interview mit Springer für Professionals, welche Kriterien bei der Beratung zum Entsparen entscheidend sind.

Springer für Professionals: Herr Professor Ruß, Sie haben an dem Springer-Gabler-Buch „Ruhestandsplanung – neuer Beratungsansatz für die Zielgruppe 50plus“ mitgewirkt. Welche Aspekte machen die Ruhestandsplanung aus Kundensicht so wichtig?

Jochen Ruß: Die Ruhestandsplanung umfasst sehr viele Aspekte. Einer der wichtigsten ist nach meiner Überzeugung der Umgang mit dem Risiko, länger zu leben als das Geld reicht. Dies ist eines der am meisten unterschätzten Risiken in unserer Gesellschaft. Ich möchte in diesem Zusammenhang nur ein paar Aspekte ausführen: Früher reichte für sehr viele Menschen die gesetzliche Rente aus, um alle wesentlichen Grundbedürfnisse zu decken. Private – oder betriebliche – Vorsorge wurde daher oft primär für nicht unbedingt erforderliche "Luxusanschaffungen" genutzt. Der demografische Wandel wird jedoch dazu führen, dass in Zukunft die Leistungen der gesetzlichen Rente für immer mehr Menschen nicht mehr alle Grundbedürfnisse abdecken können. Dann ist auch die private Vorsorge für Grundbedürfnisse zuständig, die man ein Leben lang hat. Diese lebenslangen Ausgaben erfordern zwingend ein lebenslanges Einkommen. Natürlich gibt es Menschen, die so reich sind, dass sie im Alter von Zinsen oder sonstigen Erträgen ihres Vermögens leben können, oder die so viel Geld angespart haben, dass es selbst dann nicht ausgeht, wenn sie weit über 100 Jahre alt werden. Für die Mehrheit der Menschen dürfte die Situation aber in etwa wie folgt aussehen: Wenn man das angesparte Geld nicht in ein lebenslanges Einkommen umwandelt, dann kommt irgendwann der Zeitpunkt, zu dem das Geld aufgebraucht ist, falls man dann noch lebt.

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Und wie können die Menschen diese Risiken verringern?

Mit einer Rentenversicherung kann man dieses Risiko eliminieren. Diese bezahlt nämlich den vereinbarten Betrag Monat für Monat, solange man lebt, selbst wenn man über 100 Jahre alt wird. Die Akzeptanz von lebenslangen Renten ist in der Bevölkerung aber dennoch extrem gering. Mit anderen Worten: Das, was rational betrachtet jeder braucht, will keiner. Dies hat viele Gründe, zum Beispiel, dass die meisten Menschen die eigene Lebenserwartung stark unterschätzen. Wer aber seine Lebenserwartung unterschätzt, der unterschätzt massiv, wie viel Geld man im Alter benötigt und wie lange es voraussichtlich reichen muss. Die beiden Kapitel des Buchs, an denen ich mitwirken durfte, beschäftigen sich sehr ausführlich mit den Themenfeldern Langlebigkeitsrisiko, lebenslanges Einkommen durch Rentenversicherungen sowie typische Irrtümer und Denkfehler von Kunden.

Worin unterscheidet sich die Ruhestandsplanung von der Altersvorsorgeberatung, die Banken und Vermittler ja schon lange ihren Kunden anbieten?

Die typische Altersvorsorgeberatung beschränkt sich meiner Meinung nach viel zu sehr auf die erste Phase, nämlich das Sparen für das Alter. Genauso wichtig ist es aber, sicherzustellen, dass man vom angesparten Geld auch leben kann – und zwar unabhängig davon, ob man 80, 90 oder sogar über 100 Jahre alt wird. Eine Altersvorsorgeberatung, die diesen Aspekt ausklammert, ist keine Ruhestandsplanung. Darüber hinaus beinhaltet eine umfassende Ruhestandsplanung natürlich noch zahlreiche weitere Aspekte wie den Umgang mit Pflegrisiken oder "nicht finanzielle" Themen wie Testament, Patientenverfügung etc.

Welche Chancen ergeben sich aus dem Beratungsansatz Ruhestandsplanung für Banken, Sparkassen und Vermittler?

Es geht um nicht mehr und nicht weniger als eine sehr große und weiter wachsende Zielgruppe, die rational betrachtet ein Risiko hat, dieses Risiko aber noch nicht erkannt hat: nämlich das finanzielle Risiko, länger zu leben, als das angesparte Geld reicht. Der Berater kann hier also nicht nur ein Produkt verkaufen, sondern einen Beitrag zur Vermeidung von Altersarmut leisten. Die Beratung zum so genannten "Langlebigkeitsrisiko" muss jedoch gelernt werden.

Sie haben erwähnt, dass die Bevölkerung lebenslange Renten nur in geringem Maße akzeptiert. Wie kann da eine Beratung helfen?

Aus zahlreichen Gesprächen weiß ich, dass Kunden verstehen, dass man schlicht nicht wissen kann, wie lange das Geld reichen muss, und dass Kunden auch verstehen, dass sie nicht ausschließen können, 95 Jahre alt oder noch älter alt zu werden, wenn man sie vernünftig aufklärt. Die Aufklärung umfasst dabei vor allem die realistische „Restlebenserwartung“, wenn man etwa schon 50 oder 60 Jahre alt ist, sowie die Tatsache, dass ein Einzelner auch deutlich länger leben kann als bis zur Lebenserwartung. Zum Beispiel besteht nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes für einen heute 60-jährigen Mann eine Wahrscheinlichkeit von knapp zwölf Prozent, ein Alter von über 95 Jahren zu erreichen. Eine heute 50-jährige Frau erlebt den 95. Geburtstag sogar mit einer Wahrscheinlichkeit von knapp 17 Prozent. Falls die deutsche Aktuarvereinigung mit ihrer Schätzung Recht hat, sind die Wahrscheinlichkeiten sogar noch höher. Wenn mit einer Wahrscheinlichkeit von 17 Prozent das Haus abbrennt, würde dieses vermutlich jeder gegen Feuer versichern. Wenn mit dieser Wahrscheinlichkeit Altersarmut droht, besteht ein ebenso dringender Handlungsbedarf, dieses Risiko im Rahmen der Ruhestandsplanung abzusichern.

Zur Person
Professor Dr. Jochen Ruß ist Geschäftsführer des Instituts für Finanz- und Aktuarwissenschaften. Er lehrt
unter anderem an der Universität Ulm sowie der LMU München und ist Autor von über 80 Fachpublikationen.
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