4 Synthetische Schwungmasse als vergütete Systemdienstleistung
Im Abschn.
1.1 wurde bereits ausgeführt, dass Schwungmasse und Momentanreserve von essentieller Bedeutung für die Stabilität des elektrischen Verbundsystems sind. Insofern haben sie auch einen eigenen Wert als Systemdienstleistung, aber derzeit in der Regel noch keinen Preis.
Eine Möglichkeit, ein Vergütungsschema für die Systemdienstleistung „Momentanreserve“ zu etablieren, besteht darin, ein Regelleistungsprodukt zu definieren, dessen Bereitstellung zeitlich noch vor der Kette „Primärregelleistung“ (PRL, oder „Frequency Containment Reserve“ FCR) – „Sekundärregelleistung“ (SRL, oder „Frequency Restoration Reserve“ FRR) – Tertiärregelleistung (TRL, oder Replacement Reserve RR) angesiedelt ist, d. h. das unmittelbar nach einer auftretenden Frequenzabweichung bzw. durch Frequenzgradienten aktiviert wird und durch die Primärregelung abgelöst wird. Solche Ansätze werden z. B. als „Enhanced Frequency Response“ durch National Grid in Großbritannien verfolgt.
Als weitere Möglichkeit soll in diesem Artikel das Konzept der „Inertia Certificates“ präsentiert werden. Es basiert auf der folgenden grundsätzlichen Überlegung: Angenommen, für ein Synchrongebiet kann eine minimal notwendige Trägheitskonstante definiert werden, die für den stabilen Netzbetrieb vorausgesetzt werden muss. Hierbei ist festzuhalten, dass das Synchrongebiet nicht mit einer Regelzone ident sein muss, aber eine möglichst gleichmäßige Verteilung der Schwungmasse im System anzustreben ist. Dann können Anlagen, die diese Anforderung bezüglich der Trägheitskonstante anteilig übererfüllen, die zusätzlich bereitgestellte Schwungmasse vermarkten und solchen Anlagen, die selber keine oder zu wenig Momentanreserve liefern, in Form von Inertia Certificates (IC) gegen eine Vergütung zur Verfügung stellen.
Zur Veranschaulichung des Konzeptes sei dabei von einem einfachen Beispielsystem ausgegangen, in dem eine schwungmassenbehaftete Anlage mit einer Bemessungsleistung von
\(S_{\mathrm{inertiaprovider}} = 100~\mbox{MVA}\) und einer Trägheitskonstante von
\(H_{\mathrm{inertiaprovider}} = 4~\mbox{s}\) zur Lastdeckung beiträgt. Für das Beispielsystem soll eine minimale Netzanlaufzeitkonstante von 5 s, d. h. eine minimale Trägheitskonstante von
\(H_{\mathrm{min}} = 2{,}5~\mbox{s}\) wirksam sein. Die schwungmassenbehaftete Anlage übererfüllt diese Anforderung um
$$\begin{aligned} \mathrm{IC}_{\mathrm{inertiaprovider}} =& S_{\mathrm{inertiaprovider}} \cdot ( H_{\mathrm{inertiaprovider}} - H_{\mathrm{min}} ) \\ =& 100~\mbox{MVA} \cdot 1{,}5~\mbox{s} =150~\mbox{MVAs}. \end{aligned}$$
Die überschüssige Schwungmasse kann also in Form von Inertia Certificates in Höhe von insgesamt 150 MVAs vermarktet und an Anlagen verkauft werden, die zu wenig oder gar keine Schwungmasse bereitstellen. Im Beispielsystem könnten das nach
$$\mathrm{IC}_{\mathrm{inertiaconsumer}} = S_{\mathrm{inertiaconsumer}} \cdot ( H_{\mathrm{min}} - H_{\mathrm{inertiaconsumer}} ) $$
z. B. trägheitslose Einspeiser (
\(H_{\mathrm{inertiaconsumer}} =0~\mbox{s}\)) mit einer Gesamtleistung von
\(S_{\mathrm{inertiaconsumer}} =60~\mbox{MVA}\) sein.
Darüber hinaus können aber auch Anlagen, die die Mindestanforderungen gerade erfüllen, oder solche, die ihre überschüssige Schwungmasse bereits vermarktet haben, in bestimmten Zeiträumen weitere Inertia Certificates herausgeben, sofern sie sich in diesen Zeiträumen im leistungsreduzierten Betrieb befinden, z. B. weil sie nur einen Teil ihrer Auslegungsleistung
\(S_{\mathrm{inertiaprovider}\_\mathrm{partialload}}\) am Energiemarkt platzieren konnten. Diese zusätzlichen ICs ergeben sich aus
$$\mathrm{IC}_{\mathrm{inertiaprovider}\_\mathrm{partialload}} = ( S_{\mathrm{inertiaprovider}} - S_{\mathrm{inertiaprovider}\_\mathrm{partialload}} ) \cdot H_{\mathrm{min}}. $$
So können auch Anlagen, die wegen höherer Grenzkosten für die gelieferte Energie aus dem Markt gedrängt werden, einen Teil ihrer Mindereinnahmen kompensieren, während sich umgekehrt trägheitslose Anlagen über den Erwerb von ICs an den Kosten für die Systemdienstleistung Schwungmasse beteiligen.
Das Konzept setzt voraus, dass alle Erzeugungsanlagen regulatorisch zum Nachweis der Deckung der minimalen anteiligen Schwungmasse bezogen auf ihre Einspeiseleistung verpflichtet werden. Es setzt weiters voraus, dass die Anlagen, die ICs zur Verfügung stellen, in den vereinbarten Zeiträumen auch am Netz sind. Deswegen ist eine Koordination des Handels mit ICs mit den entsprechenden Fahrplänen der Anlagen notwendig.
Als Alternative zum Erwerb von ICs durch trägheitslose bzw. trägheitsarme Erzeugungsanlagen besteht die Möglichkeit, diese Anlagen mittels einer Ergänzung durch Energiespeicher, z. B. Supercaps im DC-Kreis von Photovoltaikanlagen oder Batterien und einer entsprechende Regelung der Wechselrichter, die synthetische Schwungmasse emuliert, zu erweitern. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Kapazität dieser Energiespeicher nicht identisch mit der Höhe der zu erwerbenden ICs ist. Das liegt daran, dass die ICs sich im vorgestellten Konzept aus der gesamten in der zu vermarkteten Schwungmasse gespeicherten Energie bestimmen, während nachzurüstende Energiespeicher nur die Kapazität zur Verfügung stellen müssen, um die Energie aufzunehmen bzw. abzugeben, die zwischen den Frequenzen mit dem Netz ausgetauscht wird, bei denen sich die Erzeugungsanlagen nicht vom Netz trennen sollen, d. h. von 47,5 Hz bis 51,5 Hz.
Es ist dennoch davon auszugehen, dass der Erwerb von ICs zunächst, insbesondere solange noch ein ausreichendes Angebot an ICs durch die im Netz befindlichen „konventionellen“ Anlagen besteht, die kostengünstigere Variante darstellt. Erst wenn diese Quellen von ICs erschöpft sind, wird das Anbieten von zusätzlicher Schwungmasse durch eigens dafür vorgesehene Anlagen wie Schwungradspeicher oder Phasenschieber mit zusätzlicher Schwungmasse ein valides Geschäftsmodell. Ein Konzept dieser Art ist auch kompatibel mit den Eigenschaften von Wasserkraftanlagen: Laufwasserkraftwerke sind meist am Netz und können ihre Schwungmasse daher dauernd zur Verfügung stellen. Pumpspeicherkraftwerke erlauben einen Phasenschieberbetrieb, in dem Schwungmasse verlustarm verfügbar ist. Durch zusätzliche synthetische Schwungmasse können diese Anlagen einen zusätzlichen Ertrag erwirtschaften, speziell wenn in ein zukünftiges Handelsmodell ein Faktor für instantan eingespeiste Leistung eingebracht wird.