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Open Access 2025 | OriginalPaper | Buchkapitel

2. Bildung in Zeiten der Klimakrise und sozial-ökologischer Transformation

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Zusammenfassung

In diesem Kapitel werden die Entwicklung, Zielsetzung und bildungspolitische Implementierung des Konzeptes Bildung für nachhaltige Entwicklung im internationalen und nationalen Zusammenhang nachgezeichnet (2.1). Am Beispiel zweier im bundesdeutschen Bildungskontext relevanter Kompetenzmodelle – das Modell der Gestaltungskompetenz (de Haan, 2008) und das des Orientierungsrahmens des Lernbereichs Globale Entwicklung (KMK & BMZ, 2016) – wird aufgezeigt, welche Bildungsziele, Fähigkeiten und Fertigkeiten als in schulischen Bildungsprozessen zu fördernd bestimmt werden, um Schüler*innen aller Altersgruppen Orientierung in einer globalisierten Welt zu ermöglichen. Die Kompetenzmodelle werden im Hinblick auf das politikdidaktische Bildungsziel der politischen Urteilsbildung diskutiert (2.2), wobei sich zeigen wird, dass der im Lernbereich angestrebte kritische und engagierte Umgang mit den politischen, ökologischen, ökonomischen und sozialen Herausforderungen relativ vage adressiert wird.
In diesem Kapitel werden die Entwicklung, Zielsetzung und bildungspolitische Implementierung des Konzeptes Bildung für nachhaltige Entwicklung im internationalen und nationalen Zusammenhang nachgezeichnet (2.1). Am Beispiel zweier im bundesdeutschen Bildungskontext relevanter Kompetenzmodelle – das Modell der Gestaltungskompetenz (de Haan, 2008) und das des Orientierungsrahmens des Lernbereichs Globale Entwicklung (KMK & BMZ, 2016) – wird aufgezeigt, welche Bildungsziele, Fähigkeiten und Fertigkeiten als in schulischen Bildungsprozessen zu fördernd bestimmt werden, um Schüler*innen aller Altersgruppen Orientierung in einer globalisierten Welt zu ermöglichen. Die Kompetenzmodelle werden im Hinblick auf das politikdidaktische Bildungsziel der politischen Urteilsbildung diskutiert (2.2), wobei sich zeigen wird, dass der im Lernbereich angestrebte kritische und engagierte Umgang mit den politischen, ökologischen, ökonomischen und sozialen Herausforderungen relativ vage adressiert wird. Im Anschluss wird der Forschungsstand hinsichtlich der theoretisch-konzeptionellen Grundlagen beleuchtet, indem kritische Perspektiven auf das Konzept einer Bildung für nachhaltige Entwicklung diskutiert werden (2.3). Darauffolgend wird der Fokus auf die Anforderungen und Herausforderungen im Umgang mit komplexen Problemstellungen gelegt und die empirische Befundlage skizziert (2.4). Vor dem Hintergrund der theoretischen und empirischen Erkenntnisse des Forschungsdiskurses werden im Anschluss der fachspezifische Beitrag zum fächerübergreifenden Konzept sowie Anknüpfungspunkte einer politischen Nachhaltigkeitsbildung hergeleitet (2.5). Abschließend werden Konsequenzen für die vorliegenden Studien gezogen (2.6).

2.1 Bildungspolitische Antworten auf das Anthropozän: Bildung für nachhaltige Entwicklung als Konzept und schulische Querschnittsaufgabe

Ursprünglich aus der Forstwirtschaft des 18. Jahrhunderts stammend, avancierte der Begriff der Nachhaltigkeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum internationalen Leitbild einer zunehmend vernetzten Weltgesellschaft (Pufé, 2017, S. 37–65). Die bis heute einflussreichste Definition geht auf den Brundtland-Bericht (Our Common Future) aus dem Jahre 1987 zurück, veröffentlicht von der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen (WCED, 1987), die 1983 gegründet worden war: Eine nachhaltige Entwicklung dient den Bedürfnissen der jetzigen Generation, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre Bedürfnisse befriedigen zu können (Pufé, 2017, S. 42–47).
Das Konzept einer nachhaltigen Entwicklung wurde 1992 auf der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro als internationales Leitbild anerkannt (UN, 1992). Das in diesem Kontext verabschiedete Aktionsprogramm Agenda 21 formulierte Leitlinien für das 21. Jahrhundert und adressierte dabei politische Akteur*innen auf staatlichen bis kommunalen Handlungsebenen. Dabei stellte das Konzept bewusst eine Kompromissformel der internationalen Zusammenarbeit dar, um die Zielkonflikte zwischen Umweltschutz und wirtschaftlicher Entwicklung in diplomatisch-konstruktiver Weise zu thematisieren (Borowy, 2014). Zugleich wurde die Bedeutung von Bildung für einen globalen Wandel herausgestellt – mit insgesamt 486 Nennungen in dem 500-seitigen Dokument (Wickenberg, 1999, S. 106).
Die internationale Verankerung transformativer Bildungsbemühungen war anschlussfähig an verschiedene langjährig etablierte Bildungsansätze wie der Umweltbildung und das Globale Lernen, mit einem stärkeren entwicklungspolitischen Schwerpunkt (Bolscho & Seybold, 1996; Rieß, 2006, S. 10). In den Fachdiskursen der jeweiligen Konzepte wurde sich mit Blick auf das Leitbild ab 1992 neu ausgerichtet, auch wenn die jeweiligen spezifischen Anliegen bestehen blieben (Künzli David et al., 2010). In den darauffolgenden Jahren wurde die internationale Diskussion über globale Umweltfragen intensiviert und das Vorhaben konkretisiert, das Konzept einer Bildung für nachhaltige Entwicklung in den Bildungssystemen der Mitgliedstaaten zu verankern. Im Jahre 2002 riefen die Vereinten Nationen die UN-Dekade Bildung für nachhaltige Entwicklung (2005–2014) beim Weltgipfel für eine nachhaltige Entwicklung in Johannesburg aus (Stevenson, 2012). Vor dem Hintergrund multipler globaler Herausforderungen wie Armut, Gewalt, Ungleichheit und die Erschöpfung der natürlichen Ressourcen wurde folgendes Ziel formuliert:
The overall goal of the DESD [Decade of Education for Sustainable Development, A.J.] is to integrate the principles, values and practices of sustainable development into all aspects of education and learning. This educational effort will encourage changes in behaviour that will create a more sustainable future in terms of environmental integrity, economic viability and a just society for present and future generations. (UNESCO, 2005, S. 6)
Das von der UNESCO ausgerufene anschließende Weltaktionsprogramm Bildung für nachhaltige Entwicklung (2015–2019) zielte auf eine Verstetigung der Bemühungen – vom „Projekt zur Struktur“ (DUK, 2014; UNESCO, 2013). Zudem wurde im Jahr 2015 die Agenda 2030 mit ihren 17 Sustainable Development Goals verabschiedet und Bildung für nachhaltige Entwicklung als explizites Ziel aufgeführt (siehe SDG 4.7; UN, 2015). Die bundesdeutsche Umsetzung des Weltaktionsprogramms wurde 2017 in einem Nationalen Aktionsplan festgehalten (Nationale Plattform Bildung für nachhaltige Entwicklung, 2017).
Empirische Befunde des nationalen Monitorings zur Beurteilung der Umsetzung einer BNE in verschiedenen Bereichen des Bildungssystems bilanzieren im Jahr 2020, dass der Implementationsprozess an enormer institutioneller Dynamik gewonnen hat. Gleichwohl zeigen sich große Unterschiede zwischen den Bildungsbereichen, Bundesländern sowie in der Tiefe und Qualität der Vermittlung (Holst et al., 2020). Im Jahr 2021 trat in Niedersachsen der sogenannte „BNE-Erlass“ in Kraft und stellte damit eine Weiche für die schulische Arbeit – mit dem verbindlichen Ziel, „BNE systematisch in Unterricht und Schulkultur zu verankern und qualitativ weiterzudenken“ (Niedersächsisches Kultusministerium, 2021, S. 1). Trotz dieser positiven Entwicklungen ist der Lernbereich BNE aber noch weit davon entfernt, als etabliert zu gelten (Brock & Holst, 2022; Holst, 2023).
Trotz der zunehmenden Verbindlichkeit, Nachhaltigkeitsbildung als Querschnittsaufgabe in der Schule zu etablieren, sowie auch eines ausgeprägten Interesses von Jugendlichen an Nachhaltigkeitsthemen (Albert et al, 2019; Michelsen et al., 2016) geben im Rahmen des nationalen BNE-Monitorings aus dem Jahre 2022 30 % der befragten jungen Menschen zwischen 14 und 24 Jahren (N = 2.481) an, in ihrer derzeitigen Bildungsinstitution noch nicht mit nachhaltigkeitsbezogenen Themen konfrontiert worden zu sein (Grund & Brock, 2022, S. 11). Das Monitoring ergab außerdem, dass die Präsenz von nachhaltigkeitsbezogenen Themen in verschiedenen Lebensbereichen wie Medien, Familie und Freizeit gestiegen ist, jedoch nicht in den Bildungsinstitutionen (ebd., S. 1). Zudem besitzen die befragten jungen Menschen im Durchschnitt ein „sehr hohes nachhaltigkeitsbezogenes Problembewusstsein“ (ebd.), allerdings sehen sich weniger als ein 25 % der Befragten jungen Menschen durch Bildungsinstitutionen „in die Lage versetzt, effektiv zur Lösung von Nachhaltigkeitsprobleme beitragen zu können“ (ebd.). Das Monitoring aus dem Jahr 2018 verdeutlichte, „dass sich die jungen Menschen deutlich mehr Bezüge zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, zwischen globalen und regionalen Sachverhalten“ sowie ein „Zusammendenken der ökologischen, sozialen und ökonomischen Dimension wünschen“ (Grund & Brock, 2018, S. 4). Es wird sich überdies eine stärkere „Ermutigung für die Bildung einer eigenen Meinung“ gewünscht (ebd.). Die Diskrepanz zwischen dem hohen Interesse der heranwachsenden Generation auf der einen und der mangelnden Integration von Nachhaltigkeitsthemen auf der anderen Seite deckt sich auch mit internationalen Befunden (Berglund et al., 2014; Boeve-de Pauw et al., 2015).
Diese Diskrepanz lässt sich u. a. dadurch erklären, dass die Institution Schule durch eine starke top-down gerichtete Steuerung sowie eine Vielzahl an Reformen geprägt ist (von Seggern, 2019, S. 125 f.). Die Befragung von Expert*innen im Schulkontext ergab, dass ein Spannungsverhältnis zwischen einer verstärkten „Ergebnis- und Lernzielorientierung im Hinblick auf fachliche Kompetenzen“ sowie einer „Orientierung am Erreichen von quantifizierbaren Lernzielen“ einerseits und der „Integration fachübergreifender Themen im Rahmen von BNE und einer Öffnung von Bildungseinrichtungen im Hinblick auf gesellschaftliche Herausforderungen“ andererseits konstatiert wird: „Eine stärkere Ergebnis- und Lernzielorientierung wird dabei als starke Fokussierung auf voneinander abgrenzbare Fächer aufgefasst, die dem fächerübergreifenden Lernansatz von BNE tendenziell entgegensteht“ (ebd.). Diese Befunde machen nicht nur auf die systemimmanenten Fallstricke aufmerksam, sondern verdeutlichen „gleichzeitig die starke Relevanz einer fachspezifischen Anbindung von BNE“ (ebd., S. 126). Dabei werden die Entwicklung zur Ganztagsschule sowie der Ausbau lokaler Bildungslandschaften als günstige Bedingungen beschrieben, Kooperationen mit außerschulischen Akteur*innen wie beispielsweise Nichtregierungsorganisationen zu etablieren (Fischbach et al., 2015, S. 15–17).
Der Zwischenbericht des Nationalen Aktionsplans BNE (2020, S. 61) hält fest, dass eine weitere strukturelle Verankerung von BNE anvisiert wird – wobei zwei Perspektiven genannt werden, die für das vorliegende Forschungsprojekt besonders relevant sind. Zum einen soll der Orientierungsrahmen Globale Entwicklung mit einem Schwerpunkt auf das fachliche und wissenschaftspropädeutische Lernen für die gymnasiale Oberstufe erweitert werden, zum anderen wird eine stärkere Thematisierung des Zusammenhangs von BNE und Demokratiebildung angestrebt. Das Unterrichtsprojekt, welches als Forschungsrahmen dient, knüpft an diese Aspekte an und setzt ein Lehr-Lern-Arrangement samt außerschulischer Kooperationen als Ansatz einer politischen Nachhaltigkeitsbildung in der gymnasialen Oberstufe um (siehe Kap. 5 „Landwirtschaft und Ernährung als komplexe Problemstellung einer nachhaltigen Entwicklung: eine didaktische Intervention“).

2.2 Kompetenzmodelle der Nachhaltigkeitsbildung

Um eine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft zu verwirklichen, stellt Bildung einen entscheidenden Schlüsselfaktor dar. Lernende sollen dazu befähigt werden, an der Gestaltung einer nachhaltigen Entwicklung zu partizipieren; zugleich erfordert ein gesellschaftlicher Transformationsprozess in Richtung Nachhaltigkeit nicht zuletzt einen mentalen Wandel (de Haan, 2008, S. 24). In der Empfehlung der Kultusministerkonferenz und der deutschen UNESCO-Kommission aus dem Jahr 2007 heißt es:
BNE dient dazu, dass Schülerinnen und Schüler Kompetenzen für eine nachhaltige Entwicklung erwerben. Dabei geht es darum, Probleme nicht-nachhaltiger Entwicklung erkennen und bewerten zu können und Wissen über nachhaltige Entwicklung anzuwenden. BNE gibt Empfehlungen für die Gewinnung von Kompetenzen zur Gestaltung offener Zukünfte. Nachhaltige Entwicklung verbindet umweltgerechte Lösungen mit wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und sozialer Gerechtigkeit. Sie berücksichtigt dabei eine demokratische Politikgestaltung und globale sowie kulturelle Aspekte. (KMK & DUK, 2007, S. 3 f.)
Um dieses Ziel zu erreichen, sollen interdisziplinäres Wissen vermittelt, partizipatives Lernen ermöglicht sowie innovative Strukturen in der schulischen Bildung etabliert werden (ebd., S. 5).
BNE ist ein ganzheitliches Konzept. Es bietet nicht nur Möglichkeiten für die inhaltliche und didaktische Gestaltung des Unterrichts, sondern gibt auch Impulse für die Entwicklung des schulischen Leitbilds, des Schulprofils bzw. des Qualitätsprogramms einer Schule. BNE zeigt Möglichkeiten für die Gestaltung der Schule als erweiterten Lernort auf. Die Öffnung der Schule zum regionalen Umfeld und zur Lebenswirklichkeit der Schüler und Schülerinnen, der Gestaltung der Schulräume und der Lernumgebung, der Erweiterung der Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten sind wichtige Handlungsfelder in diesem Zusammenhang. Es geht nicht nur um den Erwerb von allgemeinem Wissen, sondern auch um dessen Anwendung in konkreten Situationen, in denen die Schülerinnen und Schüler die Auswirkungen des eigenen Handelns einzuschätzen lernen. (KMK & DUK, 2007, S. 4)
BNE zielt mit seinem weitreichenden Anspruch auf einen problemorientierten Zugang, der zum Bewerten nicht-nachhaltiger Entwicklungspfade befähigen soll. Die Etablierung von BNE als schulische Querschnittsaufgabe setzt dabei curricular sowie auch außercurricular im Sinne des whole institution approach (KMK & BMZ, 2016, S. 412) an. Das Bildungskonzept ist getragen von der didaktischen Annahme, dass der lernende Umgang mit den komplexen gesellschaftlichen Herausforderungen handlungs- und erfahrungsorientierter Lernformen und -räume bedarf.
Im deutschsprachigen Raum gelten zwei Kompetenzmodelle als besonders viel rezipiert (Grundmann, 2017, S. 29 ff.; Overwien, 2013): das Modell der „Gestaltungskompetenz“ (de Haan, 2008) und das des „Orientierungsrahmens für den Lernbereich Globale Entwicklung im Rahmen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (KMK & BMZ, 2016). Beide Modelle stützen sich sowohl auf den Kompetenzbegriff nach Weinert (2001)1 als auch auf die Schlüsselkompetenzen der OECD. De Haan (2008) definiert die „Gestaltungskompetenz“ als
die Fähigkeit […], Wissen über nachhaltige Entwicklung anwenden und Probleme nicht nachhaltiger Entwicklung erkennen zu können. Das heißt, aus Gegenwartsanalysen und Zukunftsstudien Schlussfolgerungen über ökologische, ökonomische und soziale Entwicklungen in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit ziehen und darauf basierende Entscheidungen treffen, verstehen und individuell, gemeinschaftlich und politisch umsetzen zu können, mit denen sich nachhaltige Entwicklungsprozesse verwirklichen lassen. (de Haan, 2008, S. 31)
Die Gestaltungskompetenz umfasst in drei Kompetenzkategorien der OECD insgesamt zwölf Teilkompetenzen (siehe Tab. 2.1). Zu jeder Teilkompetenz werden konkrete Ziele und Standards formuliert (de Haan, 2008, S. 32–36).
Tabelle 2.1
Kompetenzmodell der Gestaltungskompetenz
Kompetenzkategorien der OECD
Teilkompetenzen der Gestaltungskompetenz
Interaktive Verwendung von Medien und Tools
TK 1. Kompetenz zur Perspektivübernahme: Weltoffen und neue Perspektiven integrierend Wissen aufbauen
TK 2. Kompetenz zur Antizipation: Vorausschauend Entwicklungen analysieren und beurteilen können
TK 3. Kompetenz zur disziplinenübergreifenden Erkenntnisgewinnung: Interdisziplinär Erkenntnisse gewinnen und handeln
TK 4. Kompetenz zum Umgang mit unvollständigen und überkomplexen Informationen: Risiken, Gefahren und Unsicherheiten erkennen und abwägen können
Interagieren in heterogenen Gruppen
TK 5. Kompetenz zur Kooperation: Gemeinsam mit anderen planen und handeln können
TK 6. Kompetenz zur Bewältigung individueller Entscheidungsdilemmata: Zielkonflikte bei der Reflexion über Handlungsstrategien berücksichtigen können
TK 7. Kompetenz zur Partizipation: An kollektiven Entscheidungsprozessen teilhaben können
TK 8. Kompetenz zur Motivation: Sich und andere motivieren können, aktiv zu werden
Eigenständiges Handeln
TK 9. Kompetenz zur Reflexion auf Leitbilder: Die eigenen Leitbilder und die anderer reflektieren können
TK 10. Kompetenz zum moralischen Handeln: Vorstellungen von Gerechtigkeit als Entscheidungs- und Handlungsgrundlage nutzen können
TK 11. Kompetenz zum eigenständigen Handeln: Selbständig planen und handeln können
TK 12. Kompetenz zur Unterstützung anderer: Empathie für andere zeigen können
Die Bezüge, die zur politischen Urteilsbildung hergestellt werden können, sind je nach Weite des Begriffsverständnisses für mindestens sieben der zwölf Teilkompetenzen ableitbar (TK 1, 2, 3, 4, 6, 9, 10): In dem Kontext nachhaltigkeitsbezogener Urteilsbildung geht es darum, Perspektiven zu koordinieren und zu integrieren, Entwicklungen zu analysieren und zu beurteilen, einen interdisziplinären Umgang mit Komplexität, Kontingenz und Ungewissheit einzuüben, Handlungskonflikte zu bewältigen, Leitbilder zu hinterfragen sowie auch ethische Maßstäbe in der Beurteilung von Situationen und Problemlagen heranzuziehen.
De Haan (2008) grenzt die Ansprüche einer transformativen, zukunftsbezogenen Bildung „grundlegend von einer Lernkultur, die am Prinzip des additiven, kumulativen und archivarischen Wissenserwerbs schulischen Lernens orientiert ist“, ab (S. 28). Stattdessen gehe es bei BNE um „innovatives Wissen“ sowie um „kontextualisierte, zum Handeln befähigende Möglichkeiten der Problembewältigung“ (ebd., S. 28 f.). Die retrospektiv ausgerichteten Strategien zum Lösen von Problemen, die die formale Bildungspraxis nach wie vor prägen, müssen de Haan zufolge um prospektive Strategien ergänzt werden. Diese „suchen nach einer Vielzahl von Informationen, gehen von den gefundenen Fakten aus und entwickeln kreative Hypothesen, die in die Zukunft hineinreichen“ (ebd., S. 27).
Das zweite Kompetenzmodell entstammt dem Orientierungsrahmen des Lernbereichs Globale Entwicklung (KMK & BMZ, 2016), der sich explizit am Leitbild der Nachhaltigkeit und dem Konzept einer BNE orientiert (S. 26 f.), wobei starke Bezüge zum Globalen Lernen auszumachen sind. Zentrales Bildungsziel ist es,
Schülerinnen und Schülern eine Orientierung in der zunehmend globalisierten Welt [zu] ermöglichen, die sie im Rahmen lebenslangen Lernens weiter ausbauen können. Unter dem Leitbild nachhaltiger Entwicklung zielt sie insbesondere auf den Erwerb grundlegender Kompetenzen für eine entsprechende Gestaltung des persönlichen und beruflichen Lebens, gesellschaftliche Mitwirkung und globale Mitverantwortung. (Ebd., S. 84)
In den Kompetenzbereichen Erkennen, Bewerten und Handeln werden insgesamt elf Kernkompetenzen unterschieden, die an den kompetenzorientierten Fachunterricht anschlussfähig sein sollen. Die Tabelle 2.2 zeigt die Kernkompetenzen des Lernbereichs Globale Entwicklung.
Tabelle 2.2
Kernkompetenzen des Lernbereichs Globale Entwicklung
Kompetenzbereiche
Kernkompetenzen
Erkennen
1. Informationsbeschaffung und -verarbeitung: Informationen zu Fragen der Globalisierung und Entwicklung beschaffen und themenbezogen verarbeiten
2. Erkennen von Vielfalt: Die soziokulturelle und natürliche Vielfalt in der Einen Welt erkennen
3. Analyse des globalen Wandels: Globalisierungs- und Entwicklungsprozesse mit Hilfe des Leitbildes der nachhaltigen Entwicklung fachlich analysieren
4. Unterscheidung von Handlungsebenen: Handlungsebenen vom Individuum bis zur Weltebene in ihrer jeweiligen Funktion für Entwicklungsprozesse erkennen
Bewerten
5. Perspektivenwechsel und Empathie: Sich eigene und fremde Wertorientierungen in ihrer Bedeutung für die Lebensgestaltung bewusst machen, würdigen und reflektieren
6. Kritische Reflexion und Stellungnahme: Durch kritische Reflexion zu Globalisierungs- und Entwicklungsfragen Stellung beziehen und sich dabei an der internationalen Konsensbildung, am Leitbild nachhaltiger Entwicklung und an den Menschenrechten orientieren
7. Beurteilen von Entwicklungsmaßnahmen: Ansätze zur Beurteilung von Entwicklungsmaßnahmen (bei uns und in anderen Teilen der Welt) unter Berücksichtigung unterschiedlicher Interessen und Rahmenbedingungen erarbeiten und zu eigenständigen Bewertungen kommen
Handeln
8. Solidarität und Mitverantwortung: Bereiche persönlicher Mitverantwortung für Mensch und Umwelt erkennen und als Herausforderung annehmen
9. Verständigung und Konfliktlösung: Zur Überwindung soziokultureller und interessenbestimmter Barrieren in Kommunikation und Zusammenarbeit sowie zu Konfliktlösungen beitragen
10. Handlungsfähigkeit im globalen Wandel: Die gesellschaftliche Handlungsfähigkeit im globalen Wandel vor allem im persönlichen und beruflichen Bereich durch Offenheit und Innovationsbereitschaft sowie durch eine angemessene Reduktion von Komplexität sichern und die Ungewissheit offener Situationen ertragen
11. Partizipation und Mitgestaltung: Die Schülerinnen und Schüler können und sind auf Grund ihrer mündigen Entscheidung bereit, Ziele der nachhaltigen Entwicklung im privaten, schulischen und beruflichen Bereich zu verfolgen und sich an ihrer Umsetzung auf gesellschaftlicher und politischer Ebene zu beteiligen
Vor dem Hintergrund der in diesem Forschungsprojekt betrachteten Urteilsbildung sind alle drei Kompetenzbereiche von Bedeutung. Im Kontext analytischer Fähigkeiten wird explizit auf die Notwendigkeit „eine[r] systemorientierte[n] Betrachtungsweise“ verwiesen, die sich aus dem „hohen Komplexitätsgrad“ „globale[r] Entwicklungsprozesse“ ergibt und die Integration interdisziplinären Wissens erfordert (Rost, 2005, S. 14; siehe auch KMK & BMZ, 2016, S. 91). Der Kompetenzbereich Bewerten fokussiert die „kritische Reflexion und das Erkennen und Abwägen unterschiedlicher Werte sowie um Identitätsentwicklung auf der Grundlage wertorientierter Betrachtung“ in einer explizit handlungsbefähigenden Absicht (KMK & BMZ, 2016, S. 91). Entsprechend der favorisierten Zugangsweise des Globalen Lernens geht es vor allem um einen reflektierten und dialogischen Umgang mit Werten, gerade „im Rahmen interkultureller Begegnung“ (ebd.) sowie ein Überschreiten der eigenen Weltsicht:
Perspektivenwechsel kann dabei zwischen ganz unterschiedlichen Positionen vollzogen werden: zwischen Handelnden und Beobachtern, zwischen Akteuren und Betroffenen, zwischen unterschiedlichen Kulturen, Staaten und Institutionen, Altersgruppen und Geschlechtern, Mächtigen und Machtlosen. Er erfasst die faktischen Unterschiede ebenso wie die durch verschiedene Wertorientierungen und Interessen geprägten Einstellungen und emotionalen Reaktionen. (Ebd., S. 91 f.)
Hierbei wird betont, dass Bewertungskompetenz auch bedeute, „dass das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung, sein universaler Anspruch sowie normative Zuschreibungen hinterfragt, individuell interpretiert und weiterentwickelt werden können“ (ebd., S. 92). Die nachhaltigkeitsbezogenen Handlungskompetenzen zielen auf Kooperation und Kommunikation sowie Partizipation und Mitgestaltung von Transformationsprozessen ab. Auch diesbezüglich wird der einzuübende Umgang mit Komplexität hervorgehoben: „Komplexe Situationen und schneller Wandel erfordern dabei die Fähigkeit, mit Ungewissheit und widersprüchlichen Ansprüchen – wie Verschiedenartigkeit und Universalität – umgehen zu können“ (ebd.).
Die Konkretisierung der Kompetenzbereiche findet im Orientierungsrahmen in Rahmen der fächerspezifischen Umsetzung des Lernbereichs Globale Entwicklung statt. Für die Politische Bildung der Sekundarstufe I, als Beitrag zum gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenfeld, wurde dies von Ingo Juchler formuliert und aus der ersten Auflage aus dem Jahre 2007 unverändert übernommen – eine Überarbeitung des gesamten Orientierungsrahmens und eine Erweiterung für die gymnasiale Oberstufe (Sekundarstufe II) findet derzeit statt. Mit Blick auf den fachspezifischen Beitrag wird „die Fähigkeit zur politischen Urteilsbildung“ als „die zentrale Kompetenz“ der Politischen Bildung herausgestellt sowie darüber hinaus ihre „herausragende[…] Bedeutung“ für den Orientierungsrahmen hervorgehoben (ebd., S. 214). Konturiert in dem Zusammenhang wird die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, die im politikdidaktischen Diskurs
mit der Fähigkeit zur erweiterten Denkungsart erfasst [wird], welche den spezifischen Modus der politischen Urteilsbildung qualifiziert: Das politische Urteil weist sich durch das verständigungsorientierte Abwägen des Eigeninteresses des Individuums mit den tatsächlichen oder vorgestellten Interessen anderer nach Maßgabe politischer Werte aus. (Ebd.)
In der fachbezogenen Ausdifferenzierung der Kernkompetenzen im Bereich Bewerten (ebd., S. 217) zeigt sich entsprechend der Konturierung der Perspektivenübernahme sodann die Präsenz des Fachkonzepts des Interesses sowie das Rekurrieren auf einen rechtlichen Funktionszusammenhang (siehe Tab. 2.3).
Tabelle 2.3
Fachbezogene Teilkompetenzen im Kompetenzbereich Bewerten
 
Kernkompetenzen
Fachbezogene Teilkompetenzen
Bewerten
5. Perspektivenwechsel und Empathie: Sich eigene und fremde Wertorientierungen in ihrer Bedeutung für die Lebensgestaltung bewusst machen, würdigen und reflektieren
5.1 …die eigenen Interessen mit ihrer Wertgebundenheit wahrnehmen.
5.2 …die Interessen anderer wahrnehmen bzw. antizipieren.
5.3 …die eigenen Interessen sowie die Interessen anderer unter Maßgabe politischer Werte beurteilen und bei ihrer politischen Urteilsbildung berücksichtigen.
6. Kritische Reflexion und Stellungnahme: Durch kritische Reflexion zu Globalisierungs- und Entwicklungsfragen Stellung beziehen und sich dabei an der internationalen Konsensbildung, am Leitbild nachhaltiger Entwicklung und an den Menschenrechten orientieren
6.1 …die Relevanz von Good Governance für eine nachhaltige Entwicklung erkennen und bewerten.
6.2 … Menschenrechte in ihren verschiedenen politischen Ausprägungen begründen und durch Bewertungsunterschiede entstehende Spannungen reflektieren.
7. Beurteilen von Entwicklungsmaßnahmen: Ansätze zur Beurteilung von Entwicklungsmaßnahmen (bei uns und in anderen Teilen der Welt) unter Berücksichtigung unterschiedlicher Interessen und Rahmenbedingungen erarbeiten und zu eigenständigen Bewertungen kommen
7.1 … die Auswirkungen politisch-rechtlicher Maßstäbe auf verschiedene gesellschaftliche Gruppierungen erkennen.
7.2 …. die Bedeutung politisch-rechtlicher Maßnahmen für die nachhaltige Entwicklung einschätzen.
Im Hinblick auf die Fähigkeit zur politischen Urteilsbildung lassen sich im Vergleich der Kompetenzmodelle bereits Schnittstellen und Unterschiede in der Domänen- und Fachspezifik skizzieren. Beide Kompetenzmodelle weisen grundsätzlich Überschneidungen mit den Kompetenzbereichen der Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE, 2004) auf: politische Urteilsfähigkeit, politische Handlungsfähigkeit und methodische Fähigkeiten (siehe Abschn. 3.​2.​2 „Normative Anforderungen an eine politische Urteilsbildung“). Ihre Bezogenheit auf Nachhaltigkeitsfragen weisen sie primär in einer zeitlichen bzw. intergenerationalen und räumlichen bzw. globalen Hinsicht sowie im Hinblick auf Kooperationsfähigkeit und der explizit formulierten Bereitschaft zum Engagement nach.
Grundmann (2017) stellt im Vergleich der Kompetenzmodelle beim Orientierungsrahmen des Lernbereichs Globale Entwicklung „ein höheres Maß an inhaltlicher Konkretisierung“ (2017, S. 34) fest, während das Modell der Gestaltungskompetenz einen überfachlichen Schwerpunkt im Sinne von Schlüsselkompetenzen setze (KMK & BMZ, 2016, S. 85). Im Modell der Gestaltungskompetenz mit der „Kompetenz zur Perspektivübernahme: Weltoffen und neue Perspektiven integrierend Wissen aufbauen“ (TK 1) spiegelt sich ein wenig interessenbezogenes und kaum konflikthaftes Verständnis gesellschaftlicher Perspektivität wider. Entscheidungsdilemmata und Zielkonflikte werden als individuell zu bewältigen adressiert (TK 6) und nicht politische Lösungen erwähnt, sondern moralisches Handeln (TK 10) anvisiert. Das Konzept der Gestaltungskompetenz nimmt eine Fokussierung auf Sachurteile vor (Lillie & Meya, 2016, S. 12), während Werturteile im engeren Sinne unterbelichtet bleiben (siehe Abschn. 3.​2.​2) – lediglich in Teilkompetenz 9 und 10 werden die Reflexion von Leitbildern sowie die Integration von Gerechtigkeit als Maßstab im eigenen Entscheidungsprozess aufgeführt.
Im Kompetenzmodell des Orientierungsrahmens zeigt sich eine stärker domänenspezifische Ausrichtung (KMK & BMZ, 2016). Das Analysieren von Globalisierungs- und Entwicklungsfragen (KK 6) sowie das Beurteilen von Entwicklungsmaßnahmen (KK 7) werden explizit aufgeführt, wobei sich das Anliegen einer entwicklungspolitischen Bildung in der Tradition des Globalen Lernens deutlich zeigt (Overwien, 2013). Perspektivität wird, wie bereits oben geschildert, als Facette einer Weltgesellschaft (der Einen Welt) gedacht – etwa mit Blick auf Perspektiven des Globalen Südens und Nordens – und mit der Fähigkeit zum „Perspektivwechsel und [zur] Empathie“ (KK 5) verbunden. Im Unterschied zum Konzept der Gestaltungskompetenz werden jedoch unterschiedliche Handlungsebenen differenziert (KMK & BMZ, 2016, S. 47; KK 4). Unterschiedliche Interessen und rechtliche Rahmenbedingungen finden erst in der fachbezogenen Konkretisierung ausdrückliche Berücksichtigung – dort heißt es etwa, die Schüler*innen sollen befähigt werden „die eigenen Interessen sowie die Interessen anderer unter der Maßgabe politischer Werte [zu] beurteilen und bei ihrer politischen Urteilsbildung [zu] berücksichtigen“ (ebd., S. 217).
Kooperations- und Kommunikationsfähigkeiten nehmen in beiden Kompetenzmodellen einen hohen Stellenwert ein, während im politikdidaktischen Zusammenhang hingegen die Konfliktfähigkeit der Lernenden von elementarer Bedeutung ist (Petrik, 2007, S. 346). Von den heranwachsenden Bürger*innen wird im Rahmen der Gestaltungskompetenz eine „Kompetenz zur Motivation“ (TK 8) erwartet, d. h. „sich und andere motivieren [zu] können, aktiv zu werden“ (de Haan, 2008, S. 34). Im Orientierungsrahmen wird mit Blick auf die Gefahr einer Überwältigung bescheidener argumentiert. Juchler hält fest: „Auch in einem normativ orientierten Lernbereich ist es den einzelnen Schülerinnen und Schülern selbst vorbehalten, sich aufgrund ihrer politischen Urteilsbildung zum (politischen) Engagement zu entscheiden oder davon Abstand zu nehmen“ (KMK & BMZ, 2016, S. 215).
Die vergleichende Betrachtung der Kompetenzmodelle der Gestaltungskompetenz (2008) und das des Orientierungsrahmens Globale Entwicklung (KMK & BMZ, 2016) hat unterschiedliche Schwerpunktsetzungen – mit Blick auf die Schlüsselkompetenzen sowie den entwicklungspolitischen Ansatz des Globalen Lernens (Overwien, 2013) – offenbart. Aus politikdidaktischer Perspektive ist anzumerken, dass Konfliktlinien, strukturelle Interessengegensätze sowie politische Wege der Problembewältigung kaum Erwähnung finden, auch wenn sie in der fachspezifischen Konkretisierung des Orientierungsrahmens vage aufgegriffen werden.

2.3 Zwischen pädagogischem Funktionalismus und gesellschaftlicher Verantwortung: Kritische Perspektiven auf eine Bildung für nachhaltige Entwicklung

Der umfassende Anspruch des Konzepts einer nachhaltigen Entwicklung wurde in den letzten drei Jahrzehnten vielfach kritisiert – es wird vor allem Kritik am wachstumsorientierten Modernisierungsparadigma sowie der harmonisierten und konsensorientierten Vorstellung eines Einklangs der verschiedeneren Dimensionen der Nachhaltigkeit (Grunwald & Kopfmüller, 2022, S. 77 ff.) sowie an der Aktualisierung (post-)kolonialer Macht- und Wissen-Regime im Rahmen von BNE-Bildungsangeboten (Danielzik, 2013) geübt. Moulin-Doos konstatiert, dass das Konzept einer nachhaltigen Entwicklung „[n]ach der Euphorie der 2000er Jahre […] heute zweifellos vor einer Krise [steht], die allerdings noch nicht in den Bildungsinstitutionen angekommen ist“ (2020, S. 176). Eine theoretische und konzeptuelle Weiterentwicklung ist folglich angezeigt. Im Folgenden werden kritische Perspektiven ausschließlich auf das Konzept einer Bildung für nachhaltige Entwicklung skizziert, die die Normativität des Ansatzes, die Funktionalisierung und die Individualisierung von Bildung betreffen, und mit Blick auf etwaige Implikationen für das Forschungsvorhaben diskutiert.
Normativität und das demokratische Paradoxon
BNE tangiert Fragen der Normativität in zweifacher Hinsicht: Zum einen werden im Rahmen einer BNE in vielfältiger Weise politische, d. h. normative Themen und Fragen, tangiert oder explizit aufgeworfen. Andererseits stellt BNE selbst eine normative Praxis dar, insofern der Unterricht einen spezifischen Aushandlungsprozess darstellt. In Lernsituationen sollen Problemstellungen einer nachhaltigen Entwicklung in ihrer ökologischen, ökonomischen, politischen und sozialen Dimension nicht nur betrachtet, sondern auch beurteilt und Handlungsoptionen abgeleitet werden. Dabei geraten je nach didaktischer Ausrichtung und fachlichem Anspruch die ökologischen Kosten ressourcenintensiver Lebensstile und Produktionsbedingungen sowie Wege der Transformation hin zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft ins Visier der Analysen (Inkermann & Eis, 2022). Wie die globale Gesellschaft die Herausforderungen des Klimawandels bewältigen kann, ist dabei eine vielfach offene und strittige Frage.
Insbesondere im internationalen Forschungsdiskurs des Bereichs Environmental and Sustainability Education (ESE) bzw. Education for Sustainable Development (ESD) wurden die normativen Voraussetzungen und konzeptionellen Herausforderungen einer Nachhaltigkeitsbildung von Beginn an diskutiert und reflektiert. Dieser Vielfalt an theoretischen und empirischen Arbeiten steht Hamborg (2018) zufolge „im deutschsprachigen Raum eine überwiegend anwendungsorientierte und politischer Gestaltung nahestehende BNE-Forschung“ gegenüber, „die nur geringe (selbstkritische) Distanz zu ihrem zentralen Konzept ‚BNE‘ aufweist“ (ebd., S. 97).
Die Diskussion um die Frage, ob BNE zu bestimmten Werten erziehen soll oder darf, wurde bereits in den 1990er-Jahren diskutiert (Jickling, 1992; Jickling & Spork, 1998; Sauvé, 1999). Jickling und Spork (1998) kritisieren, es werde zu einer bestimmten gesellschaftlichen Vision erzogen, was einen unprofessionellen Umgang mit Wertefragen darstelle. Bis in die Gegenwart wird diese unauflösbare normative Herausforderung als democratic problem (Sund & Öhman, 2013) oder democratic paradox (Van Poeck et al., 2016; Van Poeck & Östman, 2020) diskutiert. Die dahinterstehende Frage ist:
Zielt BNE auf die Entwicklung von ergebnisoffenem, kritischem und autonomem Denken und Handeln, dessen Ergebnis im Zweifel auch im Widerspruch zu einer nachhaltigen Entwicklung stehen kann, oder ist eine nachhaltige Entwicklung das oberste Ziel und die Lernenden sollen dazu gebracht werden, die ‚richtigen‘ Entscheidungen und Sichtweisen zu entwickeln? Steht also der individuelle Bildungsanspruch im Zentrum von BNE oder dominiert der kollektive, gesellschaftliche Anspruch einer nachhaltigen Entwicklung? (Hamborg, 2018, S. 99)
Ein Zusammenfallen von gesellschaftlichen und pädagogischen Zielen käme einer Funktionalisierung von Bildung und Instrumentalisierung der lernenden Subjekte gleich. Sofern Bildung den Zweck hat, zu einem bestimmten Leitbild oder einem bestimmten Verhalten zu erziehen, würde das Ziel einer Befähigung zur politischen Selbstbestimmung und Mündigkeit verfehlt werden (Autorengruppe Fachdidaktik, 2017, S. 13). Wie sich bereits in der Terminologie Bildung für nachhaltige Entwicklung zeigt, ist der Bildungsansatz auf das Konzept einer nachhaltigen Entwicklung fokussiert und mit dem Ziel verbunden, ein Denken und Handeln im Sinne des Leitbildes zu fördern: „Bildung für nachhaltige Entwicklung bleibt […] in der Hervorbringung ‚gestaltungskompetenter‘ Subjekte funktional auf das Ziel nachhaltiger Entwicklung gerichtet“ (Hamborg, 2018, S. 100). Wals (2010) zufolge nehme die Versuchung eines instrumentellen Ansatzes angesichts des zunehmenden gesellschaftlichen Handlungsdrucks zu: „It is suggested that these tendencies are quite crucial, but are also at odds with the increasing sense of urgency in dealing with sustainability challenges and a corresponding temptation to revert to instrumentalism“ (Wals, 2010, S. 143).
Im Kontext des politikdidaktischen Diskurses stellt der Beutelsbacher Konsens aus dem Jahre 1976 einen wichtigen Referenzpunkt und gewissermaßen Mindeststandard für den reflektierten Umgang mit normativen Fragen in Bildungskontexten dar. Formuliert wird ein Überwältigungs- bzw. Indoktrinationsverbot, ein Kontroversitätsgebot und das Prinzip der Schüler*innenorientierung.2 Politische Bildung soll „Schüler*innen dabei unterstütz[en], bevormundungsfrei ein selbstbestimmtes Urteil zu fällen sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne ihrer Interessen zu beeinflussen“ (Besand, 2019, S. 270). Insbesondere die ersten beiden Prinzipien als Neutralitätspflicht auszulegen, ist ein verbreitetes Missverständnis von Lehrkräften, das auch für den Bereich der schulischen Nachhaltigkeitsbildung nachgewiesen wurde (von Seggern, 2019, S. 133). Overwien (2016, S. 264) zufolge sei das dritte Prinzip, nach dem Schüler*innen zur Analyse ihrer eigenen Interessenlage befähigt werden sollen, in den Schulen kaum bekannt.
Auch Sund und Öhman (2013) betonen: „[O]ne of the greatest challenges now facing the development and implementation of ESE is the search for balanced ways of dealing with values and normativity in education“ (2013, S. 12). Sie problematisieren die kosmopolitische Ausrichtung und die damit einhergehende Fokussierung einer BNE auf vermeintlich universelle Werte. Vor dem Hintergrund einer poststrukturalistischen Kritik wird argumentiert, dass Politik als ein Prozess verstanden werden muss, in dem Werte als Maßstab für ein gesellschaftliches Zusammenleben im Diskurs (erst noch) gefunden werden (ebd., S. 2). Sie plädieren dafür, BNE nicht als eine Wertevermittlung zu verstehen, die danach strebt, den Lernenden vorgefasste universelle Werte einzuprägen, sondern die Bildungsbemühungen insofern zu repolitisieren, dass der kritische Umgang mit universellen Werten selbst Teil des Bildungsprozesses wird.
Die Debatte um das Spannungsverhältnis zwischen den Bedenken um Instrumentalisierung (Biesta, 2006) und der Notwendigkeit eines umfassenden gesellschaftlichen Engagements zur Bewältigung der Klimakrise (Block et al., 2018) wirft die Frage nach der Rolle der Bildung in diesem gesellschaftlichen Transformationsprozesses fortwährend auf (Van Poeck & Östman, 2020). Die politischen und ethischen Herausforderungen verlangen eine Berücksichtigung im Forschungsdiskurs und der Bildungspolitik, entscheiden sich aber auch und vor allem situativ in Lernsituationen im Zusammenspiel von Intention, Inhalt und Vermittlungsweisen und erfordern deshalb einen Beitrag aus der Perspektive der Politischen Bildung. Kirsop-Taylor et al. (2020) stellen einen „lack of appropriate pedagogies“ fest: „There is an ongoing need to discern the tools and mechanisms for inserting the political into environmental education“ (S. 2). Zugleich stellt die Integration der Nachhaltigkeitsbildung in die Politische Bildung ebenfalls nach wie vor eine Entwicklungsaufgabe dar, wie sich zeigen wird (siehe Abschn. 2.5.1).
Individualisierung und die Pädagogisierung gesellschaftlicher Probleme
Die Gefahren der Instrumentalisierung und Funktionalisierung von Bildung für ein bestimmtes Denken und Handeln sind aufs Engste verknüpft mit einem gesellschaftlichen Mechanismus, nach dem gesellschaftliche Probleme zu Problemen von Individuen gemacht werden (Buschmann & Sulmowski, 2018; Van Poeck & Vandenabeele, 2012). Eine nachhaltige Entwicklung ist zweifellos auf Lernprozesse angewiesen; zugleich stellt sich die Frage nach der pädagogischen Adressierung der lernenden Subjekte als Handelnde in Bildungskontexten. In Lernsituationen im Kontext einer BNE besteht die Gefahr, die komplexen Problemstellungen didaktisch reduzieren zu müssen und auf diese Weise – durch die didaktische Anforderung eines handlungsorientierten Zugangs – lediglich die Handlungsebene des einzelnen Individuums in den Blick zu nehmen. Die systemische und strukturelle Dimension kann dadurch thematisch vernachlässigt werden, während es zu einer Verschiebung der Problematik ins Private als individuelle Konsumfrage kommt, wie es Fischer et al. (2015) in den Untersuchungen von Schüler*innenvorstellungen belegen konnten.
Jene Verschiebung stellt sich nicht nur als ein spezifisches Problem der Nachhaltigkeitsbildung dar, sondern reiht sich ein in spätmoderne Verantwortungskonstellationen, in denen angesichts der „Komplexität der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Problemlagen und [der] Vermehrung der Akteure […] klare Zuordnungen zunehmend prekär oder unmöglich werden“ (Eis & Moulin-Doos, 2014, S. 408). Dies zeigt sich an einer Delegierung öffentlicher Aufgaben an Expert*innen oder die „eigenverantwortlichen“ Subjekte selbst:
In verschiedenen Politikfeldern wie Bildung, Umwelt, Gesundheit wird auf das Prinzip der Eigenverantwortung abgehoben, das als strukturelle Reaktion auf den Verlust der zentralen Steuerungsfunktion des Staates verweist. Tatsächlich tragen die Mechanismen von sozialer und moralischer Verantwortung einen immer größeren Anteil der Regulierung kollektiver Probleme und zielen auf die Änderung der funktional differenzierten sozialen Praktiken (nachhaltiges Konsumieren, lebenslanges Lernen zur Aufrechterhaltung der Beschäftigungsfähigkeit, private Gesundheits- und Altersvorsorge etc.). Die politische Ebene scheint sich auf eine »Gewährleistungsverantwortung« des Staates zu beschränken, die weitreichende Aufgaben der Leistungsübernahme und »Erfüllungsverantwortung« in die Selbststeuerung der gesellschaftlichen Subsysteme und die Eigenverantwortung der Subjekte verlagert (…). (Eis & Moulin-Doos, 2014, S. 414)
In pädagogischen Kontexten findet diese Entgrenzung politischer Verantwortung Niederschlag in Leitbildern sozialen und moralischen Lernens und in einer Fokussierung auf individuelle Kompetenzentwicklung (ebd.). Dies korrespondiert mit den Analysen von Hedtke (2016) zum pädagogischen Funktionalismus in partizipationsfördernden Bildungsmaßnahmen: „Pädagogischer Funktionalismus entspringt also politischem Funktionalismus. Er neigt zur Instrumentalisierung, denn er steuert das individuelle Lernen und die persönliche Entwicklung junger Bürgerinnen zwecks Erfüllung von Systemanforderungen“ (ebd., 2016, S. 136; siehe auch: Biesta, 2009; 2011; für den Bereich BNE: Van Poeck & Vandenableele, 2012).
Im Kontext der Nachhaltigkeitsbildung besteht die Gefahr, dass das lernende Subjekt nicht zuvorderst als Bürger*in adressiert wird, sondern dem Prinzip der Eigenverantwortung folgend als Verbraucher*in bzw. Konsument*in. Moulin-Doos (2020) kritisiert, dass die Nachhaltigkeitsthematik „überwiegend als moralische Frage ausgeflaggt [wird], während eine kollektive politische Dimension kaum berücksichtigt wird. Im Fokus steht die Verantwortung des Einzelnen und sein schlechtes Gewissen“ (Moulin-Doos, 2020, S. 176).
Bereits 1998 attestierte Hedtke dem Tätigkeitsfeld der Umweltbildung eine mangelnde sozialwissenschaftliche Grundlage und plädierte dafür, die Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln „nicht einfach [als] individuelle Defekte, sondern viel eher [als] unvermeidliche Strategien […] in einem differenzierten, hochkomplexen, kontingenten und konfliktären gesellschaftlichen Umfeld“ (Hedtke, 1998, S. 2) zu begreifen. Der umfassende Anspruch einer BNE scheint auch in der Gegenwart noch nicht eingelöst. Trotz der zunehmend gesellschaftspolitischen Sensibilisierung einer BNE dominieren Eis (2022) zufolge „weiterhin individualisierte Verantwortungszuschreibungen und technische Lösungen im Sinne eines nachhaltigen Verwaltungshandelns“ (S. 198). Eis & Moulin-Doos (2014) plädieren aus politikdidaktischer Perspektive für eine „Wiederaneignung von Handlungsräumen kollektiver Verantwortung […] statt das»Politische« in individueller, moralischer Verhaltenskoordinierung aufzulösen“ (S. 416, H. i. O.), was für die didaktische Ausrichtung einer politischen Nachhaltigkeitsbildung ein vielversprechender Bezugspunkt sein kann.
Kompetenzorientierung
Die Schwierigkeiten und Grenzen einer Kompetenzorientierung im Feld der Politischen Bildung hat Oeftering (2013) systematisch herausgearbeitet: Dem Kompetenzbegriff liege ein „an ökonomischen Verwertbarkeitskriterien ausgerichtetes und damit verkürztes Verständnis von Bildung“ zugrunde, „das im Widerspruch zu einem am Leitziel der Mündigkeit orientierten Bildungsverständnis steht, weil die emanzipative Seite von Bildung zugunsten der (ökonomischen) Integration in die bestehenden Verhältnisse vernachlässigt wird“ (ebd., S. 87). Die dargestellten kritischen Perspektiven zur Funktionalisierung und Individualisierung des Bildungskonzepts kulminieren in einer Kritik an der – insbesondere im deutschsprachigen Forschungsdiskurs überwiegend (Hamborg, 2018, S. 100) – kompetenzorientierten Ausrichtung einer BNE.
Van Poeck und Vandenabeele (2012) nehmen die Unterscheidung von Lawy und Biesta (2006) zwischen citizenship-as-achievement und citizenship-as-practice zum Ausgangspunkt und kritisieren eine Kompetenzorientierung im Sinne eines citizenship-as-achievement. Die problematischen Tendenzen eines pädagogischen Funktionalismus sowie einer Individualisierung und Pädagogisierung finden Ausdruck in einem kompetenzorientierten Zugriff, in dem Individuen als Ursache adressiert und zu gestaltungskompetenten Problemlöser*innen durch das Aufbauen bestimmter Kompetenzen qualifiziert werden (Hamborg, 2017, S. 22). Als Alternative zu einer kompetenzorientierten Ausrichtung plädieren Van Poeck und Vandenabeele (2012) für eine Perspektive im Sinne einer citizenship-as-practice und damit einer Fokussierung „on the democratic nature of the spaces and practices in which citizenship can develop“ (ebd., S. 544). Die Problemstellungen einer nachhaltigen Entwicklung seien in konkreten schulischen Lernsituationen als konflikthafte, in ihrer Lösung potenziell ungeklärte public issues zu vermitteln (ebd.).
Aus der Perspektive der Politikdidaktik wird diese Kritik an einer kompetenzorientierten BNE vielfach geteilt. Fischer et al. (2016) weisen im Kontext ihrer Studie zu Schüler*innenvorstellungen über Globalisierung auf die Gefahr hin, „dass gesellschaftspolitische Ambivalenzen durch die Fokussierung auf einen didaktischen Kompetenzbegriff für die Didaktik unsichtbar werden“, indem eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen offenen Fragen vermieden werde (S. 15). Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass bei den Schüler*innen ein individualisiertes Handlungsmodell verbreitet ist, in dem Einflussnahme vor allem mit Konsumverhalten assoziiert wird (ebd., S. 16). Diese „Marginalisierung der Dimension des Politischen“ erfordere aus diesem Grund eine didaktische Antwort jenseits des Kompetenzparadigmas (ebd., S. 17).
Die Ausführungen zu den kritischen Perspektiven auf eine Bildung für nachhaltige Entwicklung haben verschiedene konzeptionelle Fallstricke dargelegt, die in der Übersetzung eines gesellschaftlichen Problems in eine Lernproblematik entstehen können. Sie sind in besonderer Weise für eine Politische Bildung, die zur Emanzipation mündiger Subjekte und zu einer Förderung der politischen Urteilsfähigkeit beitragen will, relevant und Ausgangspunkt für Ansätze einer politischen Nachhaltigkeitsbildung.
Das Spannungsverhältnis zwischen der Gefahr zur Instrumentalisierung der Lernenden und Pädagogisierung politischer Problemlagen einerseits und dem zunehmenden Handlungsdruck und der Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Transformation angesichts des Klimawandels andererseits ist nicht aufzulösen, erfordert aber theoretisch-didaktische Perspektiven und empirische Befunde einer Politischen Bildung. Hamborg (2017) problematisiert, dass sich die BNE-Forschung auf einem Kontinuum zwischen Involviertheit und Distanz bewege, wobei für die deutschsprachige Forschung ein hohes Maß an (bildungs-)politischer Involviertheit kennzeichnend sei:
Die einen laufen in ihrer Distanzlosigkeit Gefahr, ihre Fähigkeit zur Differenz zu verlieren und mitunter das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse dem politischen Gestaltungsimpetus unterzuordnen. Die anderen richten sich bequem in ihrer Position des distanzierten Kritikers oder Beobachters ein, der befreit ist von der Verantwortung und den alltäglichen Handlungszwängen der Politik und Bildungspraxis und der sich weigert, jenseits fachwissenschaftlicher Diskurse in den Ring gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse zu treten. (Hamborg, 2017, S. 25)
Für den Forschungsdiskurs der Politischen Bildung ist lange Zeit ein hohes Maß an Distanziertheit gegenüber Nachhaltigkeitsthemen und dem Bildungsansatz einer BNE kennzeichnend gewesen (siehe Abschn. 2.5.1). Vor diesem Hintergrund der kritischen Reflexion sowie des konzeptionellen Entwicklungsbedarfes der Politikdidaktik ist es notwendig, die politische Dimension einer BNE in Theorie und Praxis zu stärken und didaktische Gestaltungsprinzipien zur Förderung der politischen Urteilsbildung herzuleiten und zu erproben.

2.4 Lernen, Urteilen, Handeln – Herausforderungen im Umgang mit komplexen Problemstellungen einer nachhaltigen Entwicklung

Im folgenden Kapitel werden die Anforderungen und Herausforderungen thematisiert, die mit Bildungsprozessen angesichts der Komplexität, Ambivalenz und Ungewissheit verbunden sind. „The specificity of sustainability problems challenges traditional educational practice“, halten Van Poeck et al. (2019, S. 1) fest. Was kennzeichnet komplexe Problemstellungen einer nachhaltigen Entwicklung und inwiefern fordern sie Lernen und traditionelle Vermittlungspraktiken heraus? Im Folgenden werden theoretische und empirische Befunde des Forschungsstandes zum lernenden Umgang mit komplexen Problemstellungen einer nachhaltigen Entwicklung skizziert, um auf diese Weise mögliche Schwierigkeiten einer politischen Urteilsbildung aufzuzeigen und Förderperspektiven abzuleiten.

2.4.1 Komplexität als Herausforderung im Lernprozess

Das Interesse der pädagogisch-psychologischen Forschung an komplexen Problemstellungen entwickelte sich in den 1970er-Jahren aus der Kritik an der klassischen Problemlöseforschung, die lediglich einfache und wenig realistische Problemstellungen untersuchte (Dörner, 1976; Dörner & Funke, 2017). Mithilfe computersimulierter Szenarien und Mikrowelten wurde das komplexe Problemlösen von Proband*innen untersucht – wie etwa im computersimulierten Szenario „Lohhausen“ (Dörner et al., 1983). Den Proband*innen wurde aufgetragen, sich um das Wohl einer Kleinstadt zu kümmern, wobei sie sich mit einem komplexen Zusammenspiel von Variablen konfrontiert sahen.
Komplexe Problemstellungen sind in formaler Hinsicht charakterisiert durch die Vielzahl der zu beachtenden Elemente bzw. Variablen, den hohen Grad an Vernetztheit jener Elemente, die Vielfalt und ggf. auch Konfliktstruktur zwischen verschiedenen Zielen (Polytelie), die Intransparenz der verschiedenen Wirkungsbeziehungen sowie einen hohen Grad an Dynamik, was Voraussagen und Interventionen schwierig macht (Funke, 2003; Dörner & Funke, 2017).
Problemstellungen im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung weisen jene Charakteristika des komplexen Problemlösens zweifellos auf. Transformationen in Bereichen der Energieversorgung, der Mobilität, dem Wohnen oder dem Agrar- und Ernährungssystem (siehe Abschn. 5.​1) erfordern komplexe gesellschaftliche, technische, wirtschaftliche und soziale Veränderungsprozesse (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen [WBGU], 2011). Typische kognitive Herausforderungen im Verstehen und Umgang mit komplexen Systemen sind dabei, dass nicht lineare, sondern komplexe Wirkungsbeziehungen sowie räumliche und zeitliche Distanzen zu erfassen sind (Ernst, 2010, S. 133 f.). Einzelinteressen und das Gemeinwohl können auseinanderfallen, müssen abgewogen und in ein Werturteil integriert werden. Sweeney und Sterman (2007) konnten zeigen, dass die Fähigkeit zum Systemdenken von Schüler*innen wie auch Erwachsenen (bezüglich der Systeme Natur, Wirtschaft und Gesellschaft) deutliche Defizite aufweist, da vor allem die zeitliche Dimension unzureichend berücksichtigt wird – ein Befund, der mit Blick auf Fragen des Klimawandels von Bedeutung ist. In der naturwissenschaftsdidaktischen Schüler*innenvorstellungsforschung konnten eine Vielzahl von Studien ein fragmentiertes Verständnis von Klima und globaler Erwärmung nachweisen, da Schwierigkeiten bestehen, Klima als komplexes, dynamisches System zu erfassen (Calmbach et al., 2016; Gorr, 2021; Shepardson et al., 2011). Auch vor dem Hintergrund einer zunehmenden Komplexität gesellschaftlicher Tatbestände und der Mehrdimensionalität des Nachhaltigkeitskonzeptes ist die gezielte Förderung systemischen bzw. vernetzten Denkens (Ossimitz, 2000; Siebert, 2007) sowie ein reflektierter Umgang mit Komplexität (de Haan, 2008; Rieckman, 2013, S. 84 f.) und Ungewissheit (Asbrand, 2009) im Rahmen einer BNE von elementarer Bedeutung (vgl. u. a. BNE-Konsortium COHEP 2013; Bollmann-Zuberbühler et al., 2016; Rieß, 2013; Wiek et al., 2011). In den vorgestellten Kompetenzmodellen findet sich diese Zielstellung zum Umgang mit Komplexität vorrangig in den Teilkompetenzen 1 bis 4 der Gestaltungskompetenz (de Haan, 2008) und in den Kernkompetenzen 1 bis 4 des Modells des Orientierungsrahmens Globale Entwicklung (KMK & BMZ, 2016) wieder (siehe Abschn. 2.2). In einem politischen Sinne ist darüber hinaus anzumerken, dass die Herausforderung darin besteht, Komplexität eben nicht nur zu erfassen, sondern darin handlungsfähig zu sein. Dies umfasst für eine Politische Bildung eine Reflexion von Verantwortungszuschreibungen und Verständnissen intra- und intergenerationeller Gerechtigkeit trotz zeitlicher und räumlicher Ferne zu den Mitmenschen (Holfelder, 2018, S. 72–75; Marchand, 2015, S. 18).

2.4.2 Die Diskrepanz zwischen Wissen, Werten und Handeln

Zum Umgang mit komplexen Problemstellungen einer nachhaltigen Entwicklung sowie der Wirkung des Bildungskonzept BNE und des Globalen Lernens auf schulische Lernprozesse ist kaum bildungswissenschaftliche und politikdidaktische Forschung vorhanden (Fischer et al., 2016; Wettstädt & Asbrand, 2014). Im Bereich des Globalen Lernens – welcher als ein Teilbereich der BNE aufgefasst werden kann (KMK & BMZ, 2016, S. 32 f.) – wurden mehrere rekonstruktiv-qualitative Forschungsprojekte mit Jugendlichen am Gymnasium durchgeführt, die mit Blick auf die politische Urteilsbildung von Interesse sind. Asbrand (2009) zeigt in einer Untersuchung und rekonstruktiven Interpretation von Gruppendiskussionen mit Jugendlichen zu globalen Fragen, dass ein umfassendes Wissen vorhanden ist und die Jugendlichen auch nachhaltigkeitsbezogene Werte im Sinne des Leitbildes kommunizieren, diese aber nicht handlungsleitend werden. Einen ähnlichen Typus konnte auch Uphues (2007) quantitativ nachweisen: Die stark vertretene Gruppe der „Global-Kognitiven“ zeichnet sich durch ein hohes Maß an Wissen über globale Zusammenhänge und ein geringes Maß an Handlungsbereitschaft aus (ebd., S. 121 ff.). Auch Wolfensberger (2008) zeigt in einer inhaltsanalytischen Auswertung von Unterrichtsgesprächen zu socio-scientific issues, dass eine umweltbewusste und nachhaltigkeitsbezogene Werthaltung von jugendlichen Schüler*innen in der Regel lediglich reproduziert werde. Jene Befunde deuten sich auch in jüngeren Studien an.
Kater-Wettstädt (2015; siehe auch Wettstädt & Asbrand, 2014) nimmt die Unterrichtsdynamik in den Blick und untersucht die Lernprozesse von Schüler*innen zu Themen des Lernbereichs Globale Entwicklung sowie den Umgang der Lernenden mit Handlungsaufforderungen, die im Rahmen unterschiedlich strukturierter Lehr- und Lernarrangements durch die Lehrkräfte selbst und Unterrichtsmaterialien transportiert wurden. Die Anliegen der Nachhaltigkeitsbildung, gesellschaftliche Verhältnisse und das eigene Leben im Sinne des Leitbildes der Nachhaltigkeit zu gestalten (siehe Abschn. 2.2), werden in Bildungspraktiken übersetzt, in denen Handlungsoptionen entsprechend häufig thematisiert werden (siehe hierzu Wettstädt & Asbrand, 2012). Es konnte festgestellt werden, dass Lehrkräfte Handlungsaufforderungen in Form von moralischen Appellen formulieren, bestimmte Handlungsoptionen präferieren und in den Unterrichtsdiskurs einbringen. Dabei wird „Handeln angesichts weltgesellschaftlicher Probleme […] als individuelles Handeln gerahmt und an die Verantwortung der Lernenden appelliert“ (Wettstädt & Asbrand, 2014, S. 6). Aufseiten der Schüler*innen hat dies entweder die Reproduktion der Handlungsaufforderungen oder Reflexionen über das Nicht-Handeln, in denen die eigene Passivität legitimiert und individuelle Verantwortung zurückgewiesen wird, zufolge. In offen strukturierten und diskursiv geprägten Lehr-Lern-Arrangements wurde hingegen eine „Reflexion über Handlungsaufforderungen als politisches Thema“ (ebd., S. 9) im Unterrichtsdiskurs beobachtet, in der Schüler*innen in der Lage waren, Handlungsoptionen selbstständig zu konstruieren (ebd., S. 11). Im Fallvergleich der Lerngruppen zeigt sich:
Je mehr Fachwissen sich die Jugendlichen aneignen konnten und je mehr sie Perspektivität und Vielfalt von Informationen und Positionen erfahren und erkennen konnten, umso anspruchsvoller sind ihre Reflexionen über Handlungsmöglichkeiten. Im Fallvergleich zeigt sich, dass explizite oder implizite moralische Appelle kritisch hinterfragt und zurückgewiesen werden; die Möglichkeit des eigenen Handelns wird verneint. Dagegen wird eine Haltung, die Handeln nicht per se für unmöglich hält, offensichtlich eher erworben, wenn ein Lehr-Lernarrangement Ko-Konstruktionsprozesse der Schülerinnen und Schüler und den diskursiven Austausch zu verschiedenen Positionen zulässt bzw. fördert. (Wettstädt & Asbrand, 2014, S. 11)
In der aktuelleren Untersuchung von Holfelder (2018) zu Orientierungen von Jugendlichen zu Nachhaltigkeitsthemen zeigt sich ebenfalls eine Diskrepanz zwischen den explizit geäußerten Werthaltungen und den urteils- und handlungsleitenden impliziten Wissensbeständen (S. 383 ff.). Vor dem Hintergrund der Wissenssoziologie Mannheims (Mannheim et al., 1980) werden „implizite Wissensbestände“ rekonstruiert, „sogenannte Orientierungen, die das tägliche Denken, Urteilen und Handeln bestimmen“ (Holfelder, 2018, S. 423). Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit im eigenen nachhaltigen Handeln werde von den Jugendlichen „theoretisierend bearbeitet“, was in der konkreten Stichprobe als Merkmal eines gymnasialen Habitus (Asbrand, 2009; Bohnsack, 1989) gedeutet wird: Es zeigen sich primär Relativierungen, die das eigene Nicht-Handeln entschuldigen und Vergleiche mit anderen Nationalstaaten ziehen, sowie Reflexionen über das eigene Nicht-Handeln (Holfelder, 2018, S. 390). „Nachhaltiges Handeln stellt für die Jugendlichen (trotz positiver Bewertung nachhaltigen Handelns) einen negativen Gegenhorizont dar und damit keine Handlungsoption“ (ebd., S. 392). Die Ergebnisse von Holfelder (2018) zeigen, dass weder Wissen noch entsprechende Bewertungen eine handlungspraktische Relevanz für die Jugendlichen besitzen: Die weitverbreitete Annahme, „dass sich Gestaltungskompetenz durch die Vermittlung differenzierten Wissens fördern ließe“, lasse sich „nicht bestätigten“ (Holfelder, 2018, S. 401).
Moralische Kommunikation und Bewertungen können nicht als Hinweis auf Handlungsbereitschaft gedeutet werden, sondern müssen vielmehr als Umgang mit der implizierten Anrufung der Schüler*innen als moralisch handelnde Subjekte verstanden werden. (Holfelder, 2018, S. 419)
Die Schwierigkeiten der Lernenden im Umgang mit Komplexität – korrespondierend mit den Befunden hinsichtlich des systemischen Denkens – zeigen sich in einer starken Nahbereichsorientierung und dichotomischen Vorstellungen des Nord-Süd-Gefälles der Lernenden (Holfelder, 2018), der Fokussierung auf das individuelle Konsumverhalten (Fischer et al., 2016; Marchand, 2015) bei gleichzeitiger Moralisierung, Zurückweisung und Relativierung, die möglicherweise aber auch auf die unterrichtliche Ansprache der Lehrkräfte zurückzuführen ist (Wettstädt & Asbrand, 2014). Diese Orientierungen können als lernbereichsspezifische Komplexitätsreduktionen bzw. als spezifische Strategien aufseiten der Lernenden und Lehrenden verstanden werden, mit dem Ziel, Komplexität zu bewältigen. Die Neigung zu monokausalen Erklärungen und einfachen Urteilsheuristiken bei komplexen Problemlösungen ist ein viel belegter Befund der modernen Problemlöse- und Entscheidungsforschung (Kruse-Graumann, 2014, S. 204), der aber noch wenig Eingang in die politikdidaktische Diskussion gefunden hat. Der Befund, dass die vermittelten Werte und Einstellungen im Kontext einer BNE und Globalen Lernens für die Schüler*innen offenbar nicht notwendigerweise handlungsleitend sind, korrespondiert mit den Studien zum value-action-gap sowie mit dem knowledge-action-gap: Umweltwissen und nachhaltigkeitsbezogene Werte führen nicht zwangsläufig zu einem entsprechenden Handeln (Blake, 1999; Kollmuss & Agyeman, 2002; Kruse, 2011).
Mit Blick auf den Forschungsgegenstand der politischen Urteilsbildung sind mehrere Punkte festzuhalten. Die Ergebnisse der rekonstruktiven Studien geben den Anlass, die Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln aus politikdidaktischer Perspektive als Leerstelle zu begreifen. Die Befundlage sensibilisiert einerseits dafür, nicht nur die kognitive Dimension in Lernprozessen anzusprechen, sondern auch affektive und motivationale Voraussetzungen zu berücksichtigen (Holfelder, 2018, S. 23; Asbrand & Martens, 2013, S. 48). Zum anderen lässt sich im Forschungsdiskurs eine pädagogisch-funktionalistische Fokussierung auf die Handlungsfähigkeit der Schüler*innen als erwünschter Outcome feststellen (Fischer et al., 2016; siehe Abschn. 2.3), anstatt die komplexe Dynamik zwischen Wissen, Werten und Handeln als Prozesse politischer Urteilsbildung in den Blick zu nehmen.

2.4.3 Interesse, Emotionen und Affekte

Nachhaltigkeitsthemen sind vielfältig mit positiven sowie negativen Emotionen verknüpft, die den Lern- und Urteilsprozess bestimmen können. Bundesweite repräsentative Studien belegen, dass Nachhaltigkeit für Heranwachsende zwischen 15 und 24 Jahren einen hohen Stellenwert genießt und das Interesse sowie die Motivation für eine intensive Auseinandersetzung bestehen (Michelsen et al., 2016; Grund & Brock, 2018; 2022). Zugleich existiert die Erwartungshaltung, dass sich die ökologischen Verhältnisse verschlechtern werden (BMU, 2018; siehe auch Albert et al., 2019, Shell-Jugendstudie 2019; Grund & Brock, 2022). Auch eine Studie im Rahmen des nationalen BNE-Monitorings ergab, dass die Mehrheit der Befragten negative Zukunftsentwürfe in den Bereichen Digitalisierung und Technik, soziale Gerechtigkeit und Klimawandel für wahrscheinlicher halten als positive (Grund & Brock, 2019). Neben einem ausgeprägten Problembewusstsein für die multiplen Krisen lässt sich dennoch eine (zweck-)optimistische Grundhaltung bei Jugendlichen feststellen (Calmbach et al., 2024, SINUS-Jugendstudie 2024). Emotionen stellen auch einen bedeutenden Einflussfaktor für die Motivation, Probleme zu lösen, dar und können die Qualität und die Ergebnisse kognitiver Prozesse erheblich beeinflussen (Moors et al., 2013).
Die rekonstruktiven Studien von Asbrand (2009), Kater-Wettstädt (2015) und Holfelder (2018) liefern bereits Hinweise auf die Tendenz zur affektiven Abwehr normativer Schließungen etwa in Form moralischer Appelle. Dollase (2002) weist darauf hin, dass die Vorstellung vornehmlich individueller Handlungsmacht Überforderung auslösen und dies wiederum eine Abwehr negativer Gefühle erzeugen könne – entsprechend kann die gezielte Förderung von individueller Handlungsbereitschaft genau das Gegenteil hervorbringen: Statt sich mit der Diskrepanz zwischen Wissen, Werten und Handeln auseinanderzusetzen und auch eine emotionale Beunruhigung zuzulassen, zeigt sich ein Modus der Distanzierung qua Theoretisieren als Umgangsform von Jugendlichen mit komplexen Nachhaltigkeitsthemen (Holfelder, 2018, S. 417).
Die Komplexität der Problemstellungen einer nachhaltigen Entwicklung kann im Rahmen des Wissenserwerbs Empfindungen der Überforderung auslösen und Frust sowie bewusstes oder unbewusstes Ausweichverhalten evozieren. Der Cognitive-Load-Theorie (Sweller et al., 2011) zufolge wird von hoher intrinsischer Belastung (intrinsic load) gesprochen, wenn sich diese auf die Stoffkomplexität bezieht, d. h. Lernende mehrere Aspekte zeitgleich zu beachten haben (Renkl, 2020, S. 10). Vor diesem Hintergrund scheint es erforderlich, Komplexität zu reduzieren „sowie [durch] die angemessene Verbindung unterschiedlicher Repräsentationsformen das Arbeitsgedächtnis [zu] entlasten“, um die Informationsverarbeitung zu erleichtern (Lipowsky, 2020, S. 82; siehe auch: Chandler & Sweller 1991). Lipowsky (2020) weist außerdem auf die zunehmende Bedeutung der fachlich orientierten und fachdidaktischen Strukturierung zentraler Konzepte sowie der Entwicklung entsprechender Lerngelegenheiten in aktuelleren Ansätzen hin (ebd.; Renkl, 2011; Schmidt & Maier, 2009). Diese Schwerpunktverschiebung ist mit dem Anliegen einer BNE, Komplexität nicht nur zu reduzieren, sondern auch in bildender Absicht zu inszenieren, kompatibel. Im Sinne einer emotionssensiblen didaktischen Aufbereitung von komplexen Lerngegenständen ist damit angezeigt, das Spannungsverhältnis zwischen den Extrempolen einer Reduktion als Verkürzung etwa in Form von Handlungsaufforderung und der vollumfänglichen Komplexität als Überforderung auszutarieren, denn beide können ein Vermeidungsverhalten zur Folge haben.

2.5 Ansatzpunkte einer politischen Nachhaltigkeitsbildung

In diesem Unterkapitel werden Ansatzpunkte einer politischen Nachhaltigkeitsbildung herausgearbeitet, die im Forschungsdiskurs der Politischen Bildung und BNE diskutiert werden und mit Blick auf das Forschungsvorhaben der vorliegenden Studie bedeutsam sind. Hierfür wird in einem ersten Schritt das distanzierte Verhältnis zwischen Politischer Bildung und einer Bildung für nachhaltige Entwicklung in den Blick genommen (2.5.1). In einem darauffolgenden Schritt wird ein Verständnis einer Problem-, Konflikt- und Erfahrungsorientierung als didaktische Prinzipien einer politischen Nachhaltigkeitsbildung vor dem Hintergrund des BNE-bezogenen und politikdidaktischen Forschungsdiskurses entwickelt (2.5.2).

2.5.1 Das Verhältnis zwischen Politischer Bildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung

Wie in Abschnitt 2.1 dargestellt, kann die Entwicklung der Umweltbildung und entwicklungspolitischen Bildung hin zu einer Bildung für nachhaltige Entwicklung als eine Politisierung jener Bildungsansätze betrachtet werden (Overwien, 2021). Vor diesem Hintergrund ist es überraschend, dass die Diskurse der Politikdidaktik und der BNE oft noch „weitgehend getrennt voneinander“ verlaufen (Lillie & Meya, 2016, S. 11). Bis in die 2020er-Jahre hinein spielen Nachhaltigkeitsfragen sowie Fragen der globalen Entwicklung in der Didaktik der politischen Bildung eine untergeordnete Rolle (Overwien, 2020a). Trotz des hohen Stellenwerts in den sozialwissenschaftlichen Bezugsdisziplinen fanden die Themen in der schulischen Politischen Bildung kaum bzw. nur unzureichend Berücksichtigung (Peter et al., 2011, S. 124). Brunold plädierte bereits 2009 für eine „systematische politikdidaktische Aufarbeitung, um Tendenzen zur Entpolitisierung relevanter Themengebiete […] zu verhindern“ (2009, S. 320). Während lange Zeit nur wenige Beiträge der Nachhaltigkeitsbildung der Politikdidaktik entstammten (Brunold, 2009; Humpert, 2009; Overwien, 2013; Peter et al., 2011; Zeuner, 2008) und der BNE-Diskurs vor allem erziehungswissenschaftlich geprägt war (Brunold & Ohlmeier, 2013, S. 10), kann gegenwärtig eine wachsende Aufmerksamkeit im politikdidaktischen Forschungsdiskurs verzeichnet werden (u. a. Eicker et al., 2022; Eis, 2022; Friedrichs, 2021b; Inkermann & Eicker, 2021; Kenner, 2021; Moulin-Doos, 2017; 2020; Pelzel & Butterer, 2022). Interdisziplinäre Verknüpfungen sowie empirische Erkenntnisse über das politische, nachhaltigkeitsbezogene Lernen und Lehren im schulischen Kontext bestehen, wie bereits erläutert, nach wie vor kaum.
In einer vergleichenden Betrachtung des Bildungskonzeptes BNE und der Politischen Bildung zeigen sich Schnittstellen, aber auch didaktisch-konzeptuelle Unterschiede. Jene Unterschiede bieten neben den in Abschnitt 2.3 skizzierten kritischen Perspektiven möglicherweise weitere Erklärungsansätze für die zurückhaltende Rezeption des Konzeptes in der Politikdidaktik.
Die unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen deuten sich etwa in den didaktischen Prinzipien an, in denen die zentralen Prämissen der fachdidaktischen Theorieansätze kulminieren und aus denen sich eine didaktische Strukturierung von Inhalt und Zugang ableiten lässt. Lillie und Meya (2016) legen in einem Vergleich didaktischer Entsprechungen vor, die der Tabelle 2.4 zu entnehmen sind.
Tabelle 2.4
Entsprechung didaktischer Prinzipien der BNE in der Politischen Bildung, aus Lillie & Meya, 2016, S. 12
Bildung für nachhaltige Entwicklung (BLK, 1998)
Politische Bildung (Reinhardt, 2009; Sander, 2014)
System- und Problemlösungsorientierung
Wissenschafts-, Zukunfts- und Problemorientierung
Verständigungs- und Werteorientierung
Konfliktorientierung
Kooperationsorientierung
Situations-, Handlungs- und Partizipationsorientierung
Handlungs- und Adressatenorientierung
Ganzheitlichkeit
(Handlungsorientierung)
Selbstorganisation
Schnittmengen werden etwa zwischen der Systemorientierung einer BNE (BLK, 1998, S. 28) und der interdisziplinären und multiperspektivischen Ausrichtung der Politischen Bildung mit ihren verschiedenen Bezugsdisziplinen festgestellt. Zugleich ist anzumerken, dass der Systembegriff im Konzept der nachhaltigen Entwicklung lange Zeit vorwiegend mit ökologischen Systemen assoziiert und systemische Interventionen im Sinne einer naturwissenschaftlichen, technologischen Rationalität gedacht wurden (von Braunmühl & von Winterfeld, 2003, S. 32). Systemisches Denken im gesellschafts-wissenschaftsdidaktischen Horizont betrifft die Reflexion systemischer Zusammenhänge mit Blick auf das demokratische System und Prozesse zwischen Einzelperson, Zivilgesellschaft und staatlichen Institutionen sowie auch des kapitalistischen Wirtschaftssystems (Reinhardt, 2004).
Sowohl im Rahmen einer BNE als auch in der Politischen Bildung spielt das Prinzip der Problemorientierung eine wichtige Rolle, jedoch liegen unterschiedliche Verständnisse zugrunde (Lillie & Meya, 2016, S. 11 f.): Während im Rahmen des BNE-Diskurses der Fokus auf der Förderung „kreative[r] Problemlösekompetenz“ (BLK, 1998, S. 27 f.) liegt, „werden Probleme in der Politikdidaktik allerdings primär zum Gewinn von Einsichten in das Politische […] thematisiert“ (Lillie & Meya, 2016, S. 11 f.). In einem politikdidaktischen problemorientierten Zugang geht es nicht nur um die inhaltliche Dimension der Probleme (policy), sondern auch um Akteur*innen- und Interessengruppen (politics) sowie institutionelle demokratische Verfahrensweisen der Problembearbeitung (polity) (ebd.).
Des Weiteren wird im Bildungskonzept BNE der Schwerpunkt auf zwischenmenschliche Verständigung und Kooperation, auch vor dem Hintergrund der Idee einer Weltgesellschaft, gelegt. Interessen- und Zielkonflikte werden zwar bedacht, betont wird aber der konstruktive und konsensorientierte Umgang damit (BLK, 1998, S. 29). Dies steht einem politikdidaktischen Konfliktverständnis entgegen, demzufolge Interessengegensätze strukturell bedingt sind und nicht aufgelöst werden können, sondern nur ein Ausgleich erzielt werden kann. Eine konfliktorientierte Zugangsweise vermittelt Konflikte als „unvermeidlich, als berechtigt, sogar als sinnvoll“ (Reinhardt, 2022, S. 81).
Ähnlich unterschiedlich ist auch das Verständnis der Handlungsorientierung: Während Schüler*innen im Kontext von BNE explizit zum Handeln und Gestalten in Alltagspraktiken befähigt werden sollen, wird hingegen in politikdidaktischer Perspektive, etwa von Reinhardt (2014, S. 280), deutlicher „auf die Gefahr verwiesen, dass Handeln im sozialen Nahraum unpolitisch wird, sofern es nicht demokratisch-konflikthaft ist und im Zusammenhang mit politischen Institutionen steht“ (Lillie & Meya, 2016, S. 12). Der Fachdiskurs der Politischen Bildung positionierte sich hinsichtlich ganzheitlicher Ansätze lange Zeit insgesamt deutlich zurückhaltender, wie auch im Kontext aktuellerer Betrachtungsweisen kritisch angemerkt wird (Besand et al., 2019).

2.5.2 Politische Zugänge zu Nachhaltigkeitsbildung: Problem-, Konflikt- und Erfahrungsorientierung

Welchen spezifischen Beitrag die Politische Bildung zur Bildung für nachhaltige Entwicklung leisten kann, kann auch im Vergleich zu anderen domänenspezifischen Zugängen und hinsichtlich möglicher Schnittmengen konzeptualisiert werden. In verschiedenen theoretischen und empirischen Studien konnten drei Vermittlungstraditionen (teaching traditions) der Nachhaltigkeitsbildung unterschieden werden: die faktenbasierte, die normative und die pluralistische Traditionslinie (Öhman & Östman, 2019). Diese drei Linien unterscheiden sich in ihrem Nachhaltigkeitsansatz, ihrem didaktischen Ansatz, ihrer Perspektive auf Fakten und Werte sowie ihrer Perspektive auf Demokratie und Bildung und sind alle in der schulischen Praxis präsent (Borg et al., 2014). In der faktenbasierten Tradition erscheinen Nachhaltigkeitsprobleme als Wissensprobleme: Bürger*innen haben entweder nicht genug Wissen oder aber ignorieren jenes Wissen (Öhman & Östman, 2019). Die Vermittlungspraxis fokussiert sich auf wissenschaftliche Fakten und technische Lösungen. Auf einer Wissensbasis werden Schlussfolgerungen und Handlungsweisen ermöglicht – die individuelle Urteilsbildung der Schüler*innen wird aber nicht als Teil der Vermittlungspraxis betrachtet, sondern dem privaten Bereich zugewiesen. In der normativen Traditionslinie steht insbesondere die moralische Dimension nachhaltigkeitsbezogener Problemstellungen im Mittelpunkt. Die Vermittlungspraxis zielt auf die Vermittlung umweltfreundlicher und nachhaltiger Werte und Lebensstile, deren Übernahme eine individuelle Verantwortung der Lernenden darstellt (ebd.).
Anschlussfähig für einen politikdidaktischen Beitrag und eine politisch orientierte Nachhaltigkeitsbildung ist die pluralistische Traditionslinie. In ihr werden die Komplexität, Mehrperspektivität und Kontroversität sowie die Ungewissheit, die mit Nachhaltigkeitsproblemen in Verbindung steht, in den Mittelpunkt gerückt (Öhman & Östman, 2019):
Sustainability problems are understood as conflicts between different human interests, values and ideologies. This implies that these problems are seen as political issues. […] This conflict-based approach to ESE is characterised by a striving to highlight different perspectives, views and values when dealing with questions and problems concerning the future of our world. […]. We could say that the aim of pluralistic education is to enhance students’ competence to critically evaluate different perspectives of environmental and development issues, to take a stand and participate in debates, discussions and decisions at a private everyday level and a comprehensive societal level. (Ebd., S. 75)
Fakten wie etwa der anthropogene Klimawandel können geteilt und anerkannt werden, aber es gibt unterschiedliche Sichtweisen darauf, worin das Problem konkret besteht und welcher Weg zur Lösung und Gestaltung zu beschreiten ist. Öhman und Östman (2019) zufolge ist im pluralistischen Ansatz der demokratische Prozess Teil der Bildungssituation selbst. In der normativen Tradition ist der demokratische Prozess der Vermittlung, in Form von Aushandlungsprozessen zwischen Expert*innen und Politiker*innen, vorgelagert; in der faktenbasierten Tradition ist er nachgelagert, insofern das Bewerten und Handeln als privater und subjektiver Akt aus der Wissensvermittlung folgt. Die Schwierigkeiten der faktenbasierten oder normativen Traditionslinien entsprechen den kritischen Perspektiven auf den Bildungsansatz BNE, wie sie in Abschnitt 2.3 skizziert wurden.
Aus den theoretischen und empirischen kritischen Befunden lässt sich die Notwendigkeit einer stärker politischen Ausrichtung einer BNE ableiten (siehe Abschn. 2.3 und 2.4; vgl. Hedtke, 1998; Fischer et al., 2016; Riß & Overwien, 2010; Sund & Öhman, 2013; Van Poeck & Vandenabeele, 2012). Hierbei meint das Politische nicht die Verpflichtung auf eine bestimmte politische Agenda, sondern ein Verständnis der Probleme als öffentliche und diskursiv auszuhandelnde Angelegenheiten in einer pluralen Gesellschaft.
Im Folgenden werden didaktische Prinzipien vorgestellt, die sich aus einem pluralistischen Zugang ergeben und im Kontext der Politischen Bildung etablierte politikdidaktische Heuristiken zur Gestaltung von Lehr-Lern-Prozessen darstellen. Sie werden im Rahmen der didaktischen Ausrichtung der Lerneinheit realisiert und erprobt (siehe Kap. 5).
Problemorientierung
In pluralistischer Perspektive einer BNE sollen Probleme als gesellschaftliche, öffentliche Angelegenheiten (public issues; Poeck & Vandenabeele, 2012) markiert und diskursiv bearbeitet werden, anstatt diskursschließende Dynamiken zu praktizieren (siehe auch Wettstädt & Asbrand, 2014). Van Poeck und Östman (2020) plädieren dafür, dass dem Spannungsverhältnis zwischen der Gefahr der Instrumentalisierung und der Gefahr der Untätigkeit durch Zurückhaltung nur in einer didaktischen Perspektive begegnet werden kann: „Authentic engagement with […] sustainability problems can open up a space for newness, creativity, freedom and pluralism in education“ (ebd., S. 1010). Zur Entfaltung des didaktischen Potenzials sind Lernarrangements mit vereindeutigten und vordefinierten Lernergebnissen zu vermeiden (siehe auch Goll, 2022; Gräsel, 2009). Stattdessen ist es zielführend, die Lernenden in die authentische Bearbeitung eines kollektiven Anliegens zu involvieren: „Authentic problems are problems for which neither the students nor the teacher knows the solution and which thus require an authentic inquiry – and not a pseudo-inquiry that systematically guides students towards the ‘right’ solution“ (Van Poeck & Östman, 2020, S. 1012). Um den Lernenden zu ermöglichen, sich als Subjekte des Wandels zu begreifen, ist für die Absicht einer transformativen Bildung die Kombination von Problem- und Erfahrungsorientierung angezeigt (ebd.).
Konfliktorientierung
Kontroversen, Zielkonflikte und Widersprüche prägen die Problemstellungen einer nachhaltigen Entwicklung. Dementsprechend besteht in jüngeren Positionen zunehmend das Einvernehmen, jene Kontroversität und Konflikthaftigkeit zu einem Ausgangspunkt nachhaltigkeitsbezogener Bildungsprozesse zu erheben (Eis, 2022; Kehren, 2022; Krüger & Zorn, 2022) und damit das in der Politikdidaktik zentrale Prinzip der Konfliktorientierung (Gieseke, 1997) im Bereich der Nachhaltigkeitsbildung geltend zu machen. Dies spiegelt sich auch im 16. Kinder- und Jugendbericht wider (BMFSFJ, 2020, S. 557). Dieser
sendet diesbezüglich ein deutliches Signal, die politische und damit kritische Perspektive im Lernbereich BNE, Globales Lernen und der Menschenrechtsbildung zu stärken. Er spricht sich für die Notwendigkeit aus, Kontroversen, Zielkonflikte und Widersprüche in der thematischen Auseinandersetzung sichtbarer zu machen, was etwa in der Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Akteuren Ausdruck finden kann (…). (Eis, 2022, S. 200)
Eine politische Nachhaltigkeitsbildung gehe Eis (2022) zufolge über den Appell an das individuelle Konsumverhalten und die persönliche Mitverantwortung hinaus und befähige Lernende dazu, „globale soziale und ökonomische Strukturkonflikte zu verstehen“ (S. 195). Für Kehren (2022) stellt erst die Auseinandersetzung mit dem Dissens um Nachhaltigkeit die Voraussetzung dafür dar, diesbezüglich Urteils- und Handlungsfähigkeiten entwickeln zu können.
Die Einsicht in und das Verstehen der Widersprüche globaler Re-Produktion werden zur notwendigen Bedingung der Ermöglichung von Urteils- und Handlungsfähigkeit im Sinne des Leitbildes. Armut, Klimawandel, Produktion, Konsum, Ernährung oder Mobilität etc. sind als umstrittene gesellschaftliche Konfliktfelder zu identifizieren, in die wir Einzelnen weltweit sehr unterschiedlich verwickelt sind. (Kehren, 2022, S. 104)
Die gesellschaftlichen Handlungsfelder – Ernährung, Wohnen und Bauen, Mobilität, Energie, Klimawandel, Wasser, Arbeit und Landwirtschaft (Grunwald & Kopfmüller, 2022, S. 153 ff.) – stellen Konfliktfelder dar. Die Konfliktlinien ziehen sich nicht nur durch Interessenkonstellationen, sondern auch durch Verantwortungsdiskurse zwischen staatlicher Steuerung und individueller Verantwortung, durch Werte und kulturelle Praktiken, durch globale und regionale Perspektiven. Die innewohnenden Ambivalenzen bilden die Bedingungen des Wandels und Voraussetzungen des individuellen Handels. Krüger und Zorn (2022) sehen gerade in der Bearbeitung der Kontroversen den spezifischen Beitrag der Politischen Bildung im Rahmen einer BNE, weshalb die Politische Bildung gewissermaßen eine „Metaebene in den Bildungsprozess“ einbringe (ebd., S. 37).
Neben der fachwissenschaftlich diskutierten und lebensweltlich relevanten Konflikthaftigkeit ist die Thematisierung jener Kontroversen auch vor dem Hintergrund der empirischen Befunde essenziell, wie sie in Abschnitt 2.4 skizziert wurden. Wettstädt und Asbrand (2014) betonen etwa die Wichtigkeit, „dass auch Handlungsmöglichkeiten als kontroverse Inhalte kontrovers thematisiert werden müssen, um eine Überwältigung der Schülerinnen und Schüler zu vermeiden“ und „den Umgang mit Ungewissheit einzuüben“ (ebd., S. 11). Zugleich gilt es, die Tendenzen zur Vereinseitigung kritisch zu befragen: Die Fokussierung auf das individuelle Konsumverhalten (Fischer et al., 2016; Marchand, 2015) sowie die Nahbereichsorientierung (Holfelder, 2018) in den Vorstellungen von Jugendlichen weisen auf die Notwendigkeit einer kritischen Ausdifferenzierung hin – etwa Handlungsebenen analytisch zu unterscheiden und auch kollektiven Praktiken zu betonen.
Erfahrungsorientierung
In dieser problem- und konfliktorientierten Perspektive von Van Poeck und Östman (2020) wird die didaktische Aufbereitung authentischer, problemhaltiger und konflikthafter Themenstellungen in einen Zusammenhang mit dem erfahrungsorientierten und forschenden Lernen gesetzt (zur Nähe von forschendem und problemorientierten Lernen siehe Detjen, 2022; Huber & Reinmann, 2019). Wie bereits im vorherigen Abschnitt angemerkt, besteht hinsichtlich einer ganzheitlichen, handlungsorientierten Zugangsweise in der Politikdidaktik Skepsis, was sich beispielsweise an der lange vernachlässigten Bedeutung von Emotionen für das politische Lernen zeigt (Besand, 2014). In Abschnitt 2.4.3 wurde bereits herausgestellt, inwiefern gerade im Umgang mit komplexen Problemstellungen ein emotionssensibles Vorgehen relevant ist. Vor diesem Hintergrund machen Van Poeck und Östman (2020) auf die Wichtigkeit von Räumen, Situationen und Arrangements aufmerksam, in denen dem Urteilen und Handeln eine Untersuchung im Sinne einer sorgfältigen Beobachtung und Reflexion vorausgeht:
After all, offering educative spaces, i.e. spaces where judgement and action are preceded by inquiry (careful observation and reflection), is perhaps what is most needed in the face of severe crises such as the current sustainability crisis. (Van Poeck & Östman, 2020, S. 1015)
Für die Gestaltung sei ein erfahrungsorientierter Zugang deshalb notwendig, um den Schüler*innen die Möglichkeit zu geben, sich durch Primärerfahrungen als „subject of change“ zu erleben (ebd., S. 1012). Kritisch anzumerken ist jedoch auch, dass in Bildungskontexten durch didaktische Reduktion immer auch spezifische Formen der Agency (Handlungsfähigkeit) vermittelt werden.
Die Befunde zur Diskrepanz zwischen Wissen und Bewerten einerseits und Handlungsbereitschaft andererseits verdeutlichen, dass die didaktische Aufmerksamkeit verstärkt auf die Prozesse der politischen Urteilsbildung gerichtet werden sollte. Vereinfachende und vereindeutigende Lehr-Lern-Arrangements stellen Strategien der Komplexitätsreduktion dar, aber können Gefahr laufen, Reaktanz zu erzeugen und inhaltliche Verkürzungen zu befördern. Wie oben beschrieben, kann in einer erfahrungsorientierten Absicht die sorgfältige Beobachtung, das Verstehen und die Reflexion angeregt und damit Urteilsbildung, beispielsweise durch außerschulische Begegnungen, angebahnt werden (siehe Kap. 4).

2.6 Implikationen für die vorliegenden Studien

Aus dem vorangegangenen Kapitel konnte sowohl in theoretisch-konzeptioneller als auch empirischer Hinsicht ein Forschungsdesiderat identifiziert werden. Mit der Darlegung des Forschungsdiskurses zum Bildungsansatz Bildung für nachhaltige Entwicklung sowie der Skizzierung kritischer Perspektiven konnte gezeigt werden, dass aus theoretisch-konzeptueller Perspektive die Notwendigkeit einer stärker politisch orientierten Nachhaltigkeitsbildung besteht. Sowohl Stimmen aus dem umweltpädagogischen, politikdidaktischen als auch dem internationalen nachhaltigkeitsbildungsbezogenen Forschungsdiskurs machen auf diesen Bedarf aufmerksam. Die didaktisch-konzeptionelle Ausrichtung politischer Bildungsprozesse an Pluralismus und Kontroversität sind für die Verwirklichung demokratischer Prinzipien essenziell. Nachhaltigkeitsbezogene Bildung kann das politisch-diplomatische und insofern konsensorientierte Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung nicht ohne Weiteres in ein Bildungsprogramm übersetzen. Kontroversen, Widersprüche und Ambivalenzen sind als Teil der Bildungspraxis zu konzeptualisieren (Lundegård & Wickman, 2007; Öhman & Öhman, 2013; Rudsberg & Öhman, 2010; Sund & Öhman, 2013; Van Poeck & Vandenabeele, 2012).
A central challenge for ESE practitioners is, accordingly, how to create opportunities for students to get involved in discussions so that they can discover and experience the differences and conflicts that are embedded in issues related to sustainable development. (Sund & Öhman, 2013, S. 17)
Die Politisierung der Nachhaltigkeitsbildung zeigt sich also nicht zuletzt im Bildungsprozesses selbst, etwa in Gestalt pluraler, kontroverser Unterrichtsdiskurse, sondern auch, indem die politische Dimension in der Auswahl und Aufbereitung der Lerngegenstände stärker berücksichtigt wird (Wohnig, 2021). Dabei ist es entscheidend, Nachhaltigkeitsthemen als Angelegenheiten von öffentlichem Interesse zu markieren, anstatt sich ausschließlich auf den Erwerb individueller Kompetenzen zu konzentrieren (Van Poeck & Vandenabeele, 2012) und damit Gefahr zu laufen, das politische Themenfeld zu moralisieren (Moulin-Doos, 2020). In dieser pluralistischen Perspektive werden der Prozess und die Schwierigkeit politischer Urteilsbildung zu einem zentralen Anliegen (ebd., S. 14).
Im Hinblick auf die politische Urteilsbildung im Kontext von Nachhaltigkeitsthemen lassen sich, wie beschrieben wurde, vielfältige Schwierigkeiten feststellen. Die hohen Anforderungen an individuelle Urteilsprozesse ergeben sich aus der Komplexität, die die Problemstellungen einer nachhaltigen Entwicklung charakterisieren. Die Darlegung des Forschungsstandes hat gezeigt, dass der Umgang mit komplexen Problemstellungen immer bereits ein urteilender ist. Die Tendenz zu verkürzten und vereinfachten Erklärungsmustern steht dem Ziel entgegen, strukturelle und systemische Betrachtungen zu ermöglichen. Die implizite oder explizite Vermeidung von Komplexität etwa in Form von sachlich unangemessenen Komplexitätsreduktionen (wie Moralisierungen) betrifft unmittelbar den Prozess politischer Urteilsbildung.
Ein Forschungsbedarf besteht hinsichtlich der Untersuchung und Förderung von Urteilsprozessen bei Jugendlichen angesichts dieser Befunde. Wie können Prozesse der Urteilsbildung unterstützt werden? Problem- und konfliktorientiertes Lernen kann als geeignet angesehen werden, um der Komplexität politikdidaktisch zu begegnen. Zugleich weisen Erkenntnisse aus der Cognitive-Load-Theorie (Sweller et al., 2011) auf die Sinnhaftigkeit hin, Themenstellungen fachdidaktisch zu strukturieren und Lernsituationen zu entwickeln, in denen das Arbeitsgedächtnis durch verschiedene Repräsentationsformen des Lerngegenstandes entlastet wird (Lipowsky, 2020, S. 82; siehe auch Schmidt & Maier, 2009; Renkl, 2011). Infolgedessen wird der problem- und konfliktorientierte Ansatz mit der Integration außerschulischer Begegnungen in die Unterrichtseinheit kombiniert. Hierbei stellt sich die Frage, wie sich politische Schüler*innenurteile unter dem Eindruck von Begegnungen mit verschiedenen Akteur*innen und damit konfligierenden Perspektiven entwickeln.
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Fußnoten
1
Kompetenzen sind „die bei Individuen verfügbaren oder von ihnen erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ (Weinert, 2001, S. 27 f.).
 
2
1. Überwältigungsverbot: „Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der „Gewinnung eines selbständigen Urteils“ zu hindern. Hier genau verläuft nämlich die Grenze zwischen Politischer Bildung und Indoktrination. […]“. 2. Kontroversitätsgebot: „Diese Forderung ist mit der vorgenannten aufs engste verknüpft, denn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten. […]“, 3. Schüler*innenorientierung: „Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen.“ (Wehling, 1977, S. 179 f.)
 
Metadaten
Titel
Bildung in Zeiten der Klimakrise und sozial-ökologischer Transformation
verfasst von
Annegret Jansen
Copyright-Jahr
2025
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-46149-2_2