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08.03.2022 | Biowerkstoffe | Interview | Online-Artikel

"Das Interesse an Biokunststoffen steigt in allen Wirtschaftsbranchen"

verfasst von: Thomas Siebel

10 Min. Lesedauer

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In verschiedenen Branchen wächst die Nachfrage nach biobasierten und bioabbaubaren Kunststoffen. Im Interview geht Constance Ißbrücker auf Marktentwicklungen, Nachhaltigkeit und die Zukunft von Biokunststoffen ein.

Springer Professional: Biokunststoff ist ein Sammelbegriff für biobasierte und für bioabbaubare Kunststoffe, die wiederum erdöl- oder pflanzenbasiert sein können. Wie gestaltet sich der Markt aktuell?

Constance Ißbrücker: Die meisten Biokunststoffe auf dem Markt sind biobasiert, und mehr als die Hälfte davon auch biologisch abbaubar und kompostierbar. Nur wenige der bioabbaubaren Polymere, wie PBAT, sind noch vorwiegend erdölbasiert, und es gibt auch hier schon teilbiobasierte Lösungen. PBAT beziehungsweise Blends mit PBAT finden sich häufig im Verpackungsbereich. Das ist der nach wie vor dominierende Sektor, sowohl bei Biokunststoffen als auch bei konventionellen Kunststoffen.

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Biokunststoffe – Hintergründe

Vor dem Hintergrund globaler gesellschaftlicher Herausforderungen, wie dem Klimawandel und der Endlichkeit fossiler Ressourcen, steht die Entwicklung hin zu einer biobasierten Ökonomie seit einigen Jahren im Fokus der Forschung und Politik.

Für welche Biokunststoffe rechnen Sie in den nächsten Jahren mit dem stärksten Wachstum?

Weiteres Wachstum erwarten wir bei Biokunststoffen, die für die Herstellung von Verpackungen relevant sind. Nicht zuletzt zeigt auch das ebenfalls schon im Markt etablierte PLA eine Zunahme der globalen Produktionskapazitäten in den nächsten Jahren. An biobasierten Lösungen sind dabei zunehmend auch Sektoren interessiert, in denen eine bestimmte Funktionalität der Polymere wichtig ist. Für biobasierte Polyamide wird ebenfalls ein starkes Wachstum projiziert. Sie werden teilweise schon seit vielen Jahrzehnten aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt und spielen unter anderem im Automobilbereich eine wichtige Rolle. Doch auch sogenannte Drop-in-Lösungen, wie Bio-PE und Bio-PP, wird es bald vermehrt auf dem Markt geben.

Welche Bedeutung haben Biokunststoffe in Deutschlands größter Industrie, dem Automobilbau?

Die Automobilbranche nutzt Biokunststoffe bereits seit einigen Jahren mit nach wie vor steigender Tendenz. Tatsächlich hat aber schon vor über 100 Jahren Henry Ford mit nachwachsenden Rohstoffen und Materialien basierend auf Weizen oder Soja gearbeitet. Heute kommen vielfach Performancepolymere wie beispielsweise PTT oder eben bestimmte biobasierte Polyamide zum Einsatz. Einige biobasierte Polyester bieten zum Beispiel eine bessere Temperaturwechselbeständigkeit oder leichtere Verarbeitung als vergleichbare konventionelle Kunststoffe, die im gleichen Bereich angewendet werden.

Welche andere Sektoren setzen auf Biokunststoffe?

Zum Beispiel die Spielzeugbranche, die zunehmend nach nachhaltigeren Lösungen sucht. Dort hat sich das Verhalten der Konsumenten, überwiegend der Eltern, in den letzten Jahren immer mehr in diese Richtung entwickelt. Daneben findet man Biokunststoffe im Elektronikbereich, bei textilen Anwendungen und auch im Bauwesen. In der Medizintechnik steigt das Interesse ebenfalls, da es viele Einweganwendungen gibt und diese aufgrund der Kontaminierung nur eingeschränkte Entsorgungsmöglichkeiten aufweisen. Hier lohnt es sich auf biobasierte Lösungen zu setzen, da im Falle der Verbrennung des Materials biogener Kohlenstoff als CO2 wieder freigesetzt wird, der vorher aus der Luft – durch Photosynthese der Pflanzen – gespeichert wurde. So schließt sich, vereinfacht gesprochen, der Kohlenstoffkreislauf.

Welche Entwicklungen sind nötig, damit sich Biokunststoffe noch stärker im Kunststoffmarkt etablieren?

Ich denke, entscheidend wird sein, welcher Weg in Zukunft politisch gegangen wird. Es gibt, bis auf einzelne Ausnahmen wie zum Beispiel Kunststofftragetaschen, keine EU-Gesetzgebungen, die Biokunststoffe in irgendeiner Form besonders hervorhebt oder unterstützt. Das wird sich dieses Jahr ändern, denn die Kommission plant politische Rahmenbedingungen für biobasierte, bioabbaubare und kompostierbare Kunststoffe auf den Weg zu bringen. Welchen Einfluss das auf die Biokunststoffindustrie haben wird und ob dieser eher positiv oder negativ sein wird, bleibt abzuwarten. Die Grundlagen und notwendige Studien sind vorhanden.

Die Biokunststoffindustrie könnte auch Steine in den Weg gelegt bekommen?

Theoretisch gibt es für jeden fossil-basierten Kunststoff auch eine biobasierte Alternative und bezüglich technischer Eigenschaften, wie zum Beispiel die im Verpackungsbereich wichtigen Barriereeigenschaften, brauchen sich Biokunststoffe alles andere als verstecken. Im Gegenteil: Einige neue Polymere, wie PEF, zeigen sogar bessere Barrierewirkungen als das vergleichbare PET. Dazu kommt natürlich, dass viele Biokunststoffe auch kompostierbar und in vielen Fällen auch unter anderen Bedingungen biologisch abbaubar sind. Außerdem darf man nicht vergessen, dass die meisten Biokunststoffe trotzdem auch noch mechanisch recyclingfähig sind!

Gibt es für das End-of-Life denn schon umfassende Standards?

Vor allem für die biologische Abbaubarkeit von Kunststoff unter Kompostierungsbedingungen gibt es bereits ausreichend Standardspezifikationen, insbesondere für die industrielle Kompostierung. Hier sind die Regularien weitestgehend ausformuliert. Auch für Mulchfolien gibt es bereits einen EU-Standard mit klaren Anforderungen für die biologische Abbaubarkeit im Boden. Sowohl für die Kompostierbarkeit in Industrieanlagen oder im Gartenkompost als auch für den Abbau von Biokunststoff im Boden gibt es Zertifizierungen und zugehörige Labels.

Wie sieht es mit dem Abbau im Meer aus?

Um den Abbau im Meer zu bestimmen, wurden diverse internationale Testmethoden entwickelt. Allerdings ist dieser Bereich mit besonderer Vorsicht zu betrachten: die Kommunikation mariner biologischer Abbaubarkeit, zum Beispiel von Verpackungen, gegenüber dem Verbraucher, sollte nicht das Ziel sein. Diese Produkte sollten natürlich in einer Mülltonne entsorgt werden und dann mechanisch recycelt oder, wenn möglich, kompostiert werden und nicht im Meer landen. Für bestimmte Anwendungen, wie zum Beispiel Fischereigeräte, kann marine Abbaubarkeit aber durchaus sinnvoll sein.

Wer prägt den Markt: die etablierte Kunststoffindustrie oder neue, kleinere Unternehmen?

Mittlerweile haben wir eine gute Mischung. Pioniere sind aber tatsächlich eher kleinere Unternehmen, die sich vollkommen dem Biokunstoff verschrieben haben. Einige davon sind Ausgründungen größerer Unternehmen und haben sich über die Jahre selbst einen guten Namen gemacht. Auch die ganz großen Chemiefirmen haben Biokunststoffe schon seit längerer Zeit im Blick. Derzeit gibt es auch bei den seit langem etablierten großen Kunststofffirmen kaum noch eine, die nicht in irgendeiner Form eine Lösung aus erneuerbaren Ressourcen im Portfolio hat.

Wie ernst meinen es die großen Unternehmen mit den Biokunststoffen?

Die Bedeutung von Biokunststoffen in den Geschäftsstrategien der Unternehmen ist natürlich sehr verschieden, aber der Trend ist eindeutig zu sehen. Entscheidend ist auch, wie denn Biokunststoffe und die damit verbundenen Vorteile den Verbraucher erreichen. Hier sind vor allem Brandowner sowie Einzelhändler die treibende Kraft und auch hier sehen wir nach wie vor ein kontinuierlich steigendes Interesse.

Fokussiert sich die etablierte Kunststoffindustrie nicht eher auf der Kreislaufwirtschaft mit fossilbasierten Kunststoffen?

Wie schon gerade erwähnt: Auch die großen Kunststoffhersteller haben verschiedene nachhaltige Lösungen schon seit längerer Zeit im Blick. Da es wenig politischen und gesellschaftlichen Druck gab und der Fokus eher auf einer Stärkung und Verbesserung des mechanischen Recyclings lag und nach wie vor liegt, spielen Kunststoffe aus nachwachsenden Rohstoffen leider immer noch eine eher  nebensächliche Rolle. In letzter Zeit steigt jedoch das Interesse an biobasierten Kunststoffen auch bei größeren Firmen. Dabei wird auch auf Lösungen gesetzt, die auf dem Massenbilanz-Prinzip basieren. In diesem Bereich gibt es mittlerweile Standards und Zertifizierungen, die übrigens auch für die Nutzung von mechanisch und chemisch recycelten Rohstoffen genutzt werden.

Bis zum Jahr 2045 will die EU klimaneutral wirtschaften. Wie könnte der Kunststoffmarkt bis dahin aussehen?

Die Ideallösung wäre, durch verschiedene Recyclingverfahren Kunststoffe beziehungsweise deren Polymere und Monomere so lange wie möglich im Kreislauf zu halten. Da es den idealen Kreislauf ohne Verlust von Material oder auch Polymerqualität nicht geben wird, sollte notwendiges Neumaterial aus nachwachsenden Rohstoffen bereitgestellt werden. So macht man sich unabhängig von fossilen Ressourcen und den damit verbundenen klimaschädlichen Förderungsverfahren. Bei entsprechender politischer Förderung ist dieses Szenario in 20 Jahren durchaus zu erreichen.

Nachwachsende Rohstoffe wachsen auf Agrarflächen. Wie kann sichergestellt werden, dass der Anbau für Biokunststoffe nicht mit der Nahrungsmittelproduktion konkurriert?

Es ist ein Mythos, der sich leider hartnäckig hält, dass Kunststoffe aus biobasierten Rohstoffen mit der Produktion von Nahrungsmitteln konkurrieren. Die Fläche, die derzeit für den Anbau von Biokunststoffen weltweit benötigt wird, beträgt derzeit circa 700.000 Hektar. Das sind gerade einmal 0,01% der gesamten weltweiten Agrarfläche. Selbst bei dem vorhergesagten Wachstum werden es in einigen Jahren nicht mehr als 0,1% sein. Nachhaltige Beschaffung ist natürlich ein Muss, aber in diesem Fall stellen sich eher Fragen nach gerechter Lebensmittelverteilung, Lebensmittelverschwendung in westlichen Ländern sowie die Notwendigkeit des derzeit hohen Fleischverbrauchs in eben diesen Gegenden. Der mit Abstand größte Teil der globalen Agrarfläche wird derzeit als Weideland für Nutztiere genutzt beziehungsweise um Futter für diese anzubauen.

Manche bioabbaubaren Kunststoffe lassen sich nicht auf herkömmlichem Wege recyceln. Wie muss sich die Entsorgung auf die wachsenden Biokunststoffmengen einstellen?

Rein theoretisch könnte man natürlich alle Kunststoffe und damit auch Biokunststoffe in irgendeiner Art und Weise recyceln. Entscheidend sind die Stoffströme, denn hier gibt es bekanntermaßen eine Positivsortierung entsprechend der Kunststoffe mit dem höchsten Marktvolumen, also zum Beispiel HDPE, LDPE, PP oder PET. Die entsprechenden biobasierten Drop-in-Lösungen können hier natürlich einfach mit verwertet werden. Zudem kann die heutzutage immer häufiger eingesetzte Nahinfrarottechnik alle Polymere auf dem Markt problemlos unterscheiden. Was nicht zu den eben genannten relevanten Recyclingströmen gehört, wird aussortiert und in der Regel einer Restverwertung zugeführt.

Wie sieht es mit den Biokunststoffen aus, die keine Drop-in-Lösungen sind?

So ein innovatives, neueres Material ist beispielsweise PLA. PLA ist industriell kompostierbar, aber es ist auch mechanisch – und übrigens auch chemisch – rezyklierbar. Aufgrund der geringen Marktmenge wird es derzeit meist noch aussortiert und bisher nur sehr wenige Recyclingunternehmen in Europa verwerten das Material zu rPLA. Mit steigendem Marktvolumen kann sich das aber bereits in wenigen Jahren ändern.

Grundsätzlich ist es aber auch so, dass bioabbaubare Anwendungen, damit meine ich solche die kompostierbar sind und daraufhin geprüft und zertifiziert sind, gar nicht in den mechanischen Recyclingströmen landen sollten. Die Idee ist, dass solche Produkte mit dem Bioabfall entsorgt werden, denn nachgewiesenermaßen helfen sie, dass mehr Biomüll gesammelt und dann auch kompostiert wird. Damit werden wiederum andere Entsorgungsströme, wie zum Beispiel das mechanische Recycling, vor Kontamination geschützt.

Die EU fördert Biokunststoffe nur, wenn sie erwiesenermaßen nachhaltiger sind als fossile Kunststoffe. Welche heute bekannten Biokunststoffe dürften es in Zukunft schwer haben?

Das kann man nicht pauschal beantworten. Im ersten Moment würde man vielleicht an die kleine Gruppe Biokunststoffe denken, die derzeit noch erdöl-basiert sind, aber unter bestimmten Bedingungen biologisch abbaubar sind. Aber selbst diese Polymere werden zunehmend aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt werden. Das ist die derzeitige Tendenz in Forschung und Entwicklung, so dass langfristig in diesem Bereich keine Diskussion mehr nötig sein wird. Es bleibt die Frage, wie man dieses "nachhaltiger" bewertet.

Wären Ökobilanzen kein geeignetes Mittel?

Vergleichende Ökobilanzen, so zeigt sich immer mehr, können derzeit keine Grundlage sein, um solche Aussagen zu treffen. Ganz besonders, wenn der Vergleich mit fossil-basierten Polymeren angestrebt wird. Nachhaltigkeitsbewertung schließt aber natürlich auch nicht nur Umweltfragen mit ein, sondern sollte auch immer eine sozio-ökonomischen Aspekt beinhalten. Hier bekennt sich die Biokunststoffindustrie bereits dazu, wichtige Kriterien zu erfüllen – auch hier gibt es bereits etablierte Zertifizierungsstandards. Wichtig bleibt, sich zu verinnerlichen, das nachhaltige Beschaffung und ihr Nachweis für Biokunststoffe unerlässlich ist. Gleiches muss aber auch für konventionelle Kunststoffe gelten. Wenn von diese nicht im gleichen Maße ein Nachweis über ihre Nachhaltigkeit erbringen, weder ökologisch und noch weniger im ökonomischen oder sozialen Bereich, kommt dies einem Freifahrtschein gleich. Wenn hier endlich einheitliche Wettbewerbsbedingungen gefunden werden, sollten es die meisten Biokunststoffe in Zukunft eher leichter haben. Nicht zuletzt, weil schon viel Vorarbeit in diesem Bereich geleistet wurde.

Vielen Dank für das Interview, Frau Ißbrücker.

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