"Nachhaltigkeit muss prozessstabil sein"
- 30.10.2025
- Biowerkstoffe
- Interview
- Online-Artikel
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Im Interview spricht Biofibre-Chef Dr. Jörg Dörrstein über den neuen Werkstoff SilvaTherm, technische Grenzwerte biobasierter Compounds und die Rolle intelligenter Recyclingpfade.
Biofibre-CEO Dr. Jörg Dörrstein setzt auf naturfaserbasierte Hochleistungswerkstoffe. Mit SilvaTherm will er zeigen, dass Biopolymere auch in industriellen Prozessen bestehen können.
Springerprofessional.de: Herr Dr. Dörrstein, Sie bezeichnen Ihre Neuentwicklung SilvaTherm als "disruptiven" Werkstoff. "Disruptiv" hört man dieser Tage oft, sehr oft. Was genau unterscheidet SilvaTherm technisch von bestehenden biobasierten Compounds?
Dr. Dörrstein: SilvaTherm verbindet biobasierte Herkunft mit Eigenschaften, die Biowerkstoffen bislang selten zugeschrieben wurden. Durch die naturfaserbasierte Verstärkungsarchitektur entsteht ein Werkstoff mit hoher Wärmeformbeständigkeit und ausgeprägter Schwerentflammbarkeit ohne halogenierte Flammschutzmittel. Wir fokussieren auf reproduzierbare Performance bei industrieller Verarbeitung für eine stabile Qualität auf vorhandenen Anlagen. Das ist der Kern des Unterschieds zu vielen biobasierten Compounds, die allzu oft entweder in der Performance oder in der Prozessstabilität zu starke Kompromisse verlangen.
Sie betonen die Vorteile bei Wärmebeständigkeit und verzögerter Entflammbarkeit. Können Sie bereits belastbare Testergebnisse oder Zertifizierungen vorweisen?
Interne Prüfungen zeigen eine hohe Wärmeformbeständigkeit deutlich über 90 °C sowie eine klare Flammhemmung gegenüber beispielsweise klassischen PP-basierten Compounds, die unter anderem Innenraumanwendungen genutzt werden. Zielklassen sind UL 94 V 0 oder HB. Externe Tests nach DIN EN 60695 sind in Vorbereitung. Für Anwendungen in der Automobilindustrie orientieren wir uns an FMVSS 302 sowie VDA 270 und VDA 278. Bis zur Vorlage der Zertifikate kommunizieren wir erreichte Performances nach internen Testverfahren mit der gebotenen Vorsicht. Die von unabhängiger Seite geprüften Ergebnisse veröffentlichen wir nach Abschluss.
Wie hoch ist aktuell der Anteil biobasierter Rohstoffe im Compound, und wo liegen noch fossile Anteile?
Der biobasierte Anteil ist flexibel einstellbar. Wir kombinieren Naturfasern aus nachwachsenden Rohstoffen mit mineralischen Füllstoffen aus verantwortungsvoll bewirtschafteten Quellen und setzen eine biobasierte Matrix als „Kitt“ ein. Diese Matrix kann bis zu hundert Prozent biogenen Ursprungs sein. Auf Wunsch sind auch Varianten mit anteilig petrobasierten Bausteinen in den Copolymeren der Matrix möglich, um beispielsweise Budgetanforderungen zu erfüllen. Die Performance bleibt in beiden Fällen auf dem geforderten Niveau. Jede Rezeptur wird technisch validiert und ökologisch bewertet.
Biobasierte und kompostierbare Kunststoffe klingen vielversprechend – doch wie sieht die Realität in industriellen Recyclingkreisläufen aus?
Heute scheitert vieles an der Recycling-Praxis. Sammelsysteme sind breit aufgestellt, um die Komplexität zu reduzieren. Für viele technische Kunststoffe, beispielsweise aus Fahrzeugen, aber oft zu unspezifisch. In einer Tonne Kunststoffabfall treffen unterschiedliche Polymere, Farben, Additive und Faser- und Füllstoffanteile aufeinander. Sortieranlagen erkennen das nicht immer trennscharf und häufig fehlen kritische Mengen. Industrielle Kompostierung ist regional verfügbar und man arbeitet in der Regel mit strikten Annahmekriterien. Das passt nicht automatisch zu jedem Produktdesign und das bleibt auch mittelfristig unseres Erachtens die Realität.
Was kann man tun?
Wir fahren zweigleisig. Beim mechanischen Recycling setzen wir auf sortenreinen Rücklauf dort, wo es möglich und sinnvoll ist. Klare Materialkennzeichnung, reduzierte Vielfalt an Materialfamilien und projektbezogene Rücknahme halten dann die Qualität im Kreislauf. Die industrielle Kompostierung kommt dort zum Einsatz, wo das stoffliche Recycling oder die thermische Verwertung an Grenzen stößt und eine biologische Verwertung sinnvoll ist. Zum Beispiel zum Humusaufbau und der Erhaltung von Nährstoffen in der Komposterde oder wenn das Produkt einen hohen Wassergehalt und niedrigen Heizwert aufweist und eine Reinigung unwirtschaftlich ist.
Viele innovative Biowerkstoffe scheitern in der Skalierung oder am Preis. Wie wettbewerbsfähig ist SilvaTherm gegenüber etablierten thermoplastischen Kunststoffen?
SilvaTherm läuft auf vorhandenen Spritzgießmaschinen und im 3D-Druck. In den frühen Projekten sehen wir eine wettbewerbsfähige Gesamtkostenbetrachtung, wenn Nachhaltigkeitsziele und regulatorische Anforderungen berücksichtigt werden und nicht nur der Kilopreis entscheidet. Der reine Kilopreis kann höher liegen. Wir können das aber über das stabile Prozessfenster bei niedrigeren Temperaturen, designbedingte Gewichts- oder Bauteilreduktion und über die regulatorischer sowie unternehmensseitiger Nachhaltigkeitsziele weitgehend ausgleichen. Zahlen und Annahmen legen wir projektspezifisch offen.
Sie planen eine deutliche Steigerung der Produktionskapazität. Welche Investitionen sind dafür notwendig, und wie stellen Sie eine gesicherte Rohstoffversorgung sicher?
Der Ausbau umfasst Compoundierlinien, Qualitätssicherung und Logistik. Wir investieren stufenweise und skalieren mit Kundenprojekten. Auf der Rohstoffseite setzen wir auf eine Mehrquellenstrategie mit qualifizierten Erst und Zweitlieferanten. Das Netzwerk ist geografisch diversifiziert und wird laufend validiert. Sicherheitsbestände für Kernrohstoffe schaffen zusätzliche Resilienz.
Welche Rolle spielt die Zusammenarbeit mit der TU München bei der Weiterentwicklung, und welche Forschungsthemen stehen aktuell im Vordergrund?
Die TU München ist ein wichtiger Partner in der Vorentwicklung. Aktuelle Schwerpunkte sind naturfaserbasierte Verstärkungsmechanismen, biologische Abbaubarkeit, Flammhemmung ohne halogenierte Systeme und Prozessfenster für stabile Serienfertigung. Parallel bereiten wir externe Nachweise vor. Dazu zählen UL 94, DIN EN 60695, FMVSS 302 sowie die CO₂-Bilanzierung nach ISO 14067. Die Ergebnisse fließen direkt in Rezeptur und Designempfehlungen ein.