Standardisiert, roboterisiert, verlagert: So könnte die Bordnetzproduktion der Zukunft aussehen. Aber nur, wenn die Bordnetzhersteller zusammenarbeiten.
Kabelbäume ziehen sich kilometerlang und gut 50 kg schwer durch die Fahrzeuge.
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Vergleicht man ein Fahrzeug mit einem menschlichen Körper, so ist das Bordnetz das Nervensystem. Es ist für die Stromversorgung sowie den Informationsfluss zwischen Komponenten und Steuergeräten verantwortlich. Das Bordnetz "besteht physikalisch aus dem Kabelsatz bzw. aus mehreren Teilkabelsätzen", erklären die Springer-Autoren Gerhard Babiel und Markus Thoben im Kapitel Einführung Bordnetzstrukturen des Buchs Bordnetze und Powermanagement. In den Kabelsätzen moderner Pkw seien einige Kilometer an Kabeln und Leitungen verbaut sowie einige tausend Kontaktstellen verbunden. Die Leitungsstränge erreichen ein Gewicht von rund 50 kg. Mit Elektrofahrzeugen oder etwa den zukünftigen Entwicklungen bei selbstfahrenden Systemen muss immer mehr Elektronik auf möglichst kleinem Platz und mit möglichst wenig Gewicht untergebracht werden.
Für Bordnetze bedeutet die Elektrifizierung und das automatisierte Fahren einen Paradigmenwechsel. "Waren sie früher reine Commodity-Produkte, wandeln sie sich nun zu sicherheitskritischen Komponenten. Für die Hersteller der Bordnetze ergeben sich daraus ganz neue Anforderungen an die Qualität und Rückverfolgbarkeit ihrer Produkte", sagt Bernd Jost Geschäftsführer bei DiIT, einem Spezialisten für integrierte Softwaresysteme in der Kabelsatzproduktion. Die Anforderungen ließen sich mit digitalen Zwillingen erfüllen, wie er im Gastkommentar Die Automatisierung der Bordnetzproduktion beginnt beim Design aus der ATZelektronik 5-2022 ausführt. Diese digitalen Repräsentanzen der Bordnetze sollen eine durchgängige Rekonstruktion ihrer Produkt- und Prozesshistorie erlauben.
Keine Automatisierung, keine Wettbewerbsfähigkeit
Zwingende Voraussetzung dafür: eine weitere Automatisierung der Bordnetzproduktion. Im Gegensatz zu vielen anderen kabelverarbeitenden Branchen sei die Bordnetzproduktion immer noch durch zahlreiche manuelle Prozesse geprägt, erklärt DiIT. Das Zuschneiden der Kabel erfolge zwar hochautomatisiert, die Vormontage der Bordnetze werde dann aber mehrheitlich manuell erledigt und ihre Endmontage – meist in "Best Cost Countries" – sogar komplett per Hand ausgeführt.
Diese manuellen Prozesse verhinderten eine Digitalisierung der Branche, so DiIT. Sie stünden einer durchgängigen Erhebung und Verarbeitung von Daten im Weg – und ohne sie könnten Bordnetzhersteller die steigenden Anforderungen der Automobilkonzerne an die Qualität und Rückerverfolgbarkeit ihrer Produkte nicht erfüllen. "Bordnetzhersteller müssen ihre Produktion durchgängig automatisieren, sonst droht ihnen der Verlust der Wettbewerbsfähigkeit", heißt es von DiIT.
Automatisierung beginnt beim Design
Doch wie muss die Produktion von Bordnetzen aussehen, um für künftige Anforderungen gut aufgestellt zu sein? Für DiIT ist das künftige Bordnetz durch drei Aspekte charakterisiert:
Standardisierung
Ein wesentlicher Grund für die mangelnde Automatisierung sei die fehlende Standardisierung der Bordnetze, was wiederum daran liege, dass die Architektur heutiger Bordnetze auf kundenspezifische Ausstattungsvarianten ausgelegt sei. "Eine durchgängig automatisierte Herstellung von Bordnetzen beginnt deshalb bei ihrem Design: Sie müssen so konstruiert sein, dass sie sich überhaupt automatisiert herstellen lassen. Dafür bedarf es einer Modularisierung und Standardisierung der Bordnetzarchitektur", so Bernd Jost im Gastkommentar.
Deshalb werde kein Weg daran vorbeiführen, dass die Branche automationsfähige Komponenten definiert. Diese Standards müssten die Varianz von Komponenten wie Leitungen, Kontaktteilen und Steckern drastisch reduzieren und nicht automationsfähige Komponenten wie Schrumpfschläuche oder Tüllen komplett ausschließen. So sei ein Projekt des Forschungscampus Arena2036 die Entwicklung einer Norm (DIN 72036) für automatisierungstaugliche Bordnetze. Allerdings widerspricht "dieser Ansatz bisherigen Wettbewerbsgedanken der Bordnetzhersteller und kann deshalb nur unternehmensübergreifend realisiert werden", so Jost.
Roboterisierung
Auf Basis dieser Standards könnten Bordnetzhersteller dann ihre Prozessketten Stück für Stück umbauen, um ihre Produktion durchgängig zu automatisieren. Eine besonders große Herausforderung sei dabei, so DiIT, die Endmontage der Bordnetze am Legebrett. Denn die Kabel-Querschnitte, die Stecker und die Verbindungen sind mittlerweile so klein geworden, dass eine manuelle Verarbeitung schwierig und zeitraubend ist. Eine naheliegende Möglichkeit zur Automatisierung dieses Prozessschritts wäre der Einsatz von Robotern.
Zum Beispiel wurde an der Hochschule Karlsruhe ein Verfahren zur automatisierten Herstellung und Montage von Kabelbäumen entwickelt. Durch Abkühlen der Kabel wird ein biegesteifer Zustand erreicht, sodass Industrieroboter zur Herstellung von Kabelbäumen flexibel und wirtschaftlich eingesetzt werden können. Die Vorteile des Verfahrens seien laut der Forschenden eine deutliche Verkürzung der Produktionszeiten sowie die bessere Planbarkeit und Verkürzung der Lieferkette, da die Produktion aufgrund der Kostenoptimierung durch Automatisierung in Industrieländer rückverlagert werden könne. Dies wirke sich wiederum auch positiv auf die Qualitätssicherung aus. Zudem soll sich die Durchlaufzeit verringern lassen, weil erforderliche Kabelbäume nicht lange im Voraus bestellt werden müssten. Das Projekt "ProP4CableSim" arbeitet hingegen mit Simulationen, die den Einbau von Kabeln in Fahrzeuge erleichtern sollen.
Verlagerung
Bislang waren DiIT zufolge Roboter für die Endmontage der Bordnetze wirtschaftlich nicht darstellbar. Die steigenden Löhne in den "Best Cost Countries" könnten die Rechnung aber verändern. Hinzu kämen die geopolitischen Verwerfungen und das steigende Risiko eines Ausfalls der dortigen Zulieferbetriebe. Eine mit Robotern automatisierte Endmontage in unmittelbarer Nähe der Automobilhersteller könnte künftig kosteneffizienter und sicherer sein als die derzeitige Praxis, so DiIT.
Bordnetzhersteller müssen sich zusammenschließen
Klar ist: Die wachsende Komplexität im Bordnetz muss mit einer automatisierten Fertigung Hand in Hand gehen. Allerdings: "Dreh- und Angelpunkt für die Automatisierung der Bordnetzproduktion ist Standardisierung. Bordnetze müssen so konstruiert sein, dass sie sich überhaupt automatisiert herstellen lassen", erklärt Bernd Jost. Er kommt zu dem Schluss: "Diese Herausforderung kann die Branche aber nur gemeinsam stemmen, da sie dem bisherigen Wettbewerbsgedanken der Bordnetzhersteller widerspricht. Unternehmen müssen sich zusammenschließen und gemeinsam automatisierungstaugliche Standards entwickeln."