3.1 Brüche in der Beratungspraxis
Im Bereich der klinischen Supervision hat sich gezeigt, dass sich das Konzept der Allianzbrüche auch auf andere Beratungsformate erfolgreich übertragen lässt (z. B. Watkins et al.
2019). Ähnlich wie bei therapeutischen Behandlungen treten Brüche in der klinischen Supervision relativ häufig auf – zumindest aus Sicht der Supervisand/innen (Moskowitz und Rupert
1983; Nicam et al.
1997). Mittlerweile wurden in der Forschung verschiedene Quellen identifiziert, die einen Bruch der Arbeitsbeziehung zwischen Supervisor/in und therapeutisch tätigem/tätiger Supervisand/in verursachen können: Eher allgemeinere Quellen, wie
eine fehlende Passung zwischen Erwartungen und
interpersonelle Dynamiken (Bernard und Goodyear
2019), aber auch für klinische Supervision spezifischere Quellen, wie
unterschiedliche Ansichten über Patient/innen, die von den Supervisand/innen behandelt werden (Hedegaard
2016). Hedegaard (
2020) zeigte in einer Untersuchung von Supervisionsgruppen, dass die
Gruppe durch die mit ihr einhergehenden gruppendynamischen Prozesse ebenfalls eine wichtige Setting-spezifische Quelle für Brüche darstellt.
Im Bereich Coaching werden Brüche der Arbeitsbeziehung bisher kaum thematisiert. Gleichwohl deutet die Forschung darauf hin, dass es auch im Coaching regelmäßig zu Brüchen kommen kann. Deutlich wird dies z. B. in einer der ersten Untersuchungen kritischer Momente im Coaching. Die Forschungsgruppe um Haan (Day et al.
2008) fand eine Mehrzahl an Hinweisen auf wahrgenommene Brüche (z. B. Ärger, Rückzug, Missverständnisse) in den Schilderungen der befragten Coaches. In ihren späteren Studien zeigte sich, dass die Befragten, wenn überhaupt, nur noch als Ausnahme wahrgenommene Brüche im Zusammenhang mit kritischen Momenten thematisierten. Eine mögliche Erklärung: Die Coaches gaben in der besagten Studie für sie bedeutsame Momente an, die sie während eines längeren Zeitraums ihrer
gesamten Coaching-Karriere erlebt hatten. Befragte in späteren Untersuchungen berichteten hingegen hauptsächlich Momente aus einer kurz zuvor stattgefundenen Coaching-Sitzung (Haan und Nieß
2015). Demnach scheint es sich bei
wahrgenommenen Brüchen der Arbeitsbeziehung zwischen Coach und Coachee um seltenere Phänomene zu handelt. Gleichzeitig wissen wir aus der Psychotherapieforschung, dass viele Brüche nicht von allen beteiligten Parteien gleichermaßen detektiert und berichtet werden.
Auch an anderen Stellen der Coaching-Prozessforschung lassen sich Sachverhalte beobachten, die durch Brüche bedingt sind, diese kennzeichnen und/oder begünstigen können. Ein Beispiel hierfür sind die im Rahmen eines unserer aktuellen Forschungsprojekte identifizierten wiederkehrenden inhaltlichen Aspekte, die Coaches als schwierig erleben. Diese Aspekte sind durchaus auch dazu geeignet, einen Bruch zu begünstigen (Hedegaard
2016) oder auf diesen hinzuweisen. Zu nennen sind hier u. a.:
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Verhaltensweisen der Coachees (z. B. die Coachee ist wiederholt unpünktlich),
-
Erwartungen der Coachees (z. B. der Coachee erwartet, dass der Coach sofort eine optimale Lösung für ihn findet),
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eine (geringe) Abgrenzung der Coaches (z. B. die Coach findet die Einstellung der Coachee moralisch verwerflich),
-
Verhaltensweisen der Coaches (z. B. der Coach insistiert auf eine Vorgehensweise, die vom Coachee als übergriffig erlebt wird) (Kotte et al.
2019).
Einen Hinweis darauf, welche negativen Folgen „unbehandelte“ Brüche auch im Coaching haben können, geben aktuelle Studien zu negativen Effekten von Coaching (u. a. Schermuly
2014) und Coaching-Abbrüchen (Schermuly
2018). In der Forschung zu negativen Effekten deutet sich an, dass – neben anderen Ursachen – insbesondere auch die Ausprägung der Beziehungsqualität die Häufigkeit des Auftretens dieser Effekte entscheidend beeinflusst (Schermuly und Graßmann
2018). Demnach könnte eine niedrige Beziehungsqualität zu mehr negativen Effekten (z. B. Ärger, Emotionale Erschöpfung, Angst, etwas Falsches zu tun) für Coach, Coachee und/oder Organisation führen. Außerdem zeigte sich bei der Untersuchung vorzeitiger Coaching-Abbrüche, dass – zumindest aus Sicht befragter Coaches – eine geringe Qualität der Coach-Coachee Beziehung Abbrüche begünstigt (Schermuly
2018). Erklärt werden können diese Zusammenhänge durch Theorien des sozialen Austausches wie die Interdependenztheorie (Kelley und Thibaut
1978). Die Interdependenztheorie schlägt vor, dass sich Interaktionspartner/innen durch ihre Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen in einem hohen Maße beeinflussen.
Auf der anderen Seite deutet sich an, dass auch im Coaching ein Mehrwert durch gut „reparierte“ Brüche entsteht, der über das Wiederherstellen einer (guten) Arbeitsbeziehung hinausgeht. Wie u. a. Coutinho et al. (
2009) ausführen, lassen sich Brüche der therapeutischen Allianz auch als Stellen begreifen, an denen persistierende interpersonelle Denk- und Verhaltensmuster beobachtbar werden, und deren „Reparatur“ als mögliche Lernerfahrung, bestehende Muster zu durchbrechen und neu zu gestalten (vgl. Apostolopoulou
2016; Safran et al.
1990; Safran und Muran
2000a,
2000b). Demnach erscheint es möglich, dass auf ähnliche Weise auch im Coaching neue Einsichten (Greif und Riemenschneider-Greif
2018; Jennissen et al.
2018), zumindest aber Momente des Lernens entstehen.
3.2 Ähnlichkeit und Unterschiede zur Psychotherapie
Ähnlich der Psychotherapie hat die Arbeitsbeziehung im Coaching und in der Supervision einen wesentlichen Stellenwert, der sich empirisch abbilden lässt (z. B. Graßmann et al.
2020). Dies unterstreichen Studien, die sich mit der Frage beschäftigen, auf welche Weise Coaching funktioniert, und somit Faktoren in den Fokus nehmen, die sich auf den Coachingprozess auswirken. Sie weisen wiederholt auf den Nutzen einer starken Arbeitsbeziehung hin (Haan et al.
2016).
Nicht nur in der Psychotherapie, sondern auch im Coaching und in der Supervision sind Brüche innerhalb dieser Arbeitsbeziehung nicht nur möglich, sondern auch in der beruflichen Praxis präsent. Dennoch lassen sich nicht alle Erkenntnisse aus der Psychotherapieforschung Eins-zu-eins auf die Beratungsformate übertragen. Zu beachten sind hier grundlegende Unterschiede zwischen den verschiedenen Angeboten, die im Folgenden kurz genannt werden. Sie sind im Zusammenhang mit Brüchen der Arbeitsbeziehung relevant und sollten daher beachtet werden:
-
Unterschiede im Anlass. Im Gegensatz zur Psychotherapie sind Coaching und Supervision keine Heilberufe. Psychische Störungen können und dürfen daher im Rahmen von Beratung nicht behandelt werden. Somit nehmen Menschen Coaching und Supervision in der Regel aus grundlegend anderen Anlässen in Anspruch (u. a. Funktionswechsel bei der Arbeit, Selbstreflexion, Persönlichkeitsentwicklung; Middendorf
2020). Hierbei ist die anlassbezogene Arbeit im Coaching deutlich
zielorientierter als in der Psychotherapie (Grant
2013). Dennoch darf nicht vergessen werden, dass es für Klinet/innen deutlich weniger kränkend ist, sich an eine/n Coach zu wenden, als sich in den Patient/innenstatus zu begeben und um eine Psychotherapie anzufragen. Hilfe im Coaching zu suchen, ist niedrigschwelliger, es müssen oftmals keine langen Wartezeiten für einen Psychotherapieplatz in Kauf genommen zu werden, und die eventuelle Stigmatisierung als psychisch kranke/r Mitarbeiter/in kann vermieden werden (Möller
2018). So ist es von zentraler Bedeutung, dass Coaches die Kontraindikation ihres Angebots für Menschen mit psychischen Störungen ernst nehmen. Da Coaches selten über ausreichendes klinisches Wissen verfügen, sollten sie im Zweifel psychotherapeutisch ausgebildete Kolleg/innen zur diagnostischen Abklärung hinzuziehen, um sich in ihrer Differenzialindikation für ein Coaching sicher zu sein. Ein Kunstfehler hingegen ist es, wenn nicht psychotherapeutisch ausgebildete Coaches Kund/innen mit einem klinisch relevanten Störungsbild beraten. Schermuly (
2014) konnte in seiner Untersuchung zu negativen Effekten zeigen, dass es aus Sicht der Coaches einer der zentralen negativen Effekte im Coaching ist, wenn sie mit den im Coaching angestoßenen Prozessen überfordert sind. 26 % der Befragten gaben an, dass durch das Coaching bei dem/der Klient/in tiefergehende Probleme angestoßen wurden, die nicht bearbeitet werden konnten.
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Unterschiede im Vorhandensein psychischer Störungen und starrer (interpersoneller) Muster. Da sich die Anlässe für die einzelnen Formate grundlegend unterscheiden, ist es im Coaching und in der Supervision seltener der Fall, auf Personen mit psychischen Störungen und/oder maladaptiven persistierenden interpersonellen Denk- und Verhaltensmuster zu treffen.
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Unterschiede in der Intensität der Themenbearbeitung. Verbunden mit den sich unterscheidenden Anlässen geht auch eine unterschiedliche Problemtiefe (Greif
2008) einher, in der einzelne Themen bearbeitet werden. In aller Regel fällt die Arbeit in Psychotherapien tiefergehend und emotionaler aus.
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Unterschiede in der Dauer des Beratungsprozesses. Nach Middendorf (
2020), der Ende 2019 bis Anfang 2020 aktuelle Zahlen zum deutschen Coaching-Markt erhoben hat, umfasst ein durchschnittlicher Coaching-Prozess derzeit im Mittel 12 h (Median = 8 h). Eine Psychotherapie dauert oftmals deutlich länger. Dies wird beispielsweise in einer Untersuchung der ambulanten psychotherapeutischen Versorgungslage in Deutschland deutlich: Gallas et al. (
2010) nennen auf Grundlage der Untersuchung privat Versicherter Sitzungszahlen im Median zwischen 25 (für Verhaltenstherapie) und 101 h (für analytische Psychotherapie).
Die aufgeführten Unterschiede legen nahe, dass Brüche in der Psychotherapie (1) häufiger auftreten, diese (2) tendenziell schwerwiegender ausfallen und somit (3) aufwendiger zu reparieren sind. Dabei ließen sich unterschiedliche Formen und Stärken des Einflusses von Brüchen und deren Reparatur in Coaching und Supervision annehmen: (1) Aufgrund des weniger für Brüche prädestinierenden Anlasses, der kürzeren Dauer und Tiefe der Themenbearbeitung kommt es weniger oft zu Brüchen der Arbeitsbeziehung, oder aber diese sind leichter zu reparieren. (2) Aufgrund derselben Faktoren müssen Brüche besser und schneller erkannt und bearbeitet werden, um ein gutes Coaching- und Supervisionsergebnis zu erzielen. (3) Manche der den Bruchphänomenen zugrundeliegenden Faktoren, wie etwa eine mangelnde Übereinstimmung bezüglich der Ziele und Aufgaben, sind in Coaching und Supervision relevanter für das Ergebnis als etwa die emotionale Verbindung. (4) Bestimmte Lösungsstrategien sind in Coaching und Supervision naheliegender als in der Psychotherapie, sodass sie entweder mehr verwendet werden, mehr Wirkung zeigen oder ein Abweichen von möglicherweise erwartbaren Auflösungsstrategien eine andere Bedeutung bekommt als in der Psychotherapie. In zukünftiger Forschung gilt es, diese Annahmen und Überlegungen empirisch zu überprüfen.
3.3 Fallbeispiele
3.3.1 Der „geschickte Kunde“
Eine Führungskraft in der Versicherungsbranche wird ein zweites Mal im 360 Grad-Feedback von seinen Mitarbeiter/innen schlecht bewertet. Das Unternehmen ist mit seinen Umsatzzahlen mehr als zufrieden und möchte ihn halten. Er ist intern aufgestiegen, und fachlich gibt es keinerlei Kritik an seinem Verhalten. Dennoch sorgt sich die Unternehmensspitze, die sich mit dem Ziel Mitarbeiterzufriedenheit stark identifiziert, um das Teamklima. Der Vorstand sieht Veränderungsbedarf und beauftragt mich (HM) mit einem Coaching, das zum Ziel haben soll, die Mitarbeiter-Führungskraft-Beziehung zu verbessern.
Es nimmt nicht Wunder, dass der Coaching-Kunde auf das Angebot eingeht, die Ablehnung des auch von einer Personalberatungsfirma angeregten Coaching-Prozesses hätte sicherlich negative Folgen in der Organisation für ihn. So kommt er mit einem Als-Ob-Modus in das Coaching und agiert unterschwellig aggressiv. Oberflächlich engagiert wirkend, das Coaching als ein wunderbares Angebot lobend, gibt sich der Coachingpartner dem Unterfangen gegenüber aufgeschlossen.
Sein „nassforsches“ Auftreten im Erstkontakt werte ich als Abwehr. Er wählt den aktiven Modus, und ich nehme sein Verhalten als kontraphobisch wahr. Die angespannte emotionale Beziehung zu mir vermittelt sich deutlich. Dissonanzen und Uneinigkeiten sind spürbar, aber noch nicht in Worte zu fassen. Die Arbeitsbeziehung gleicht einer Pseudoallianz, werde ich doch als Agentin des Vorstands wahrgenommen, die dessen Ziele und nicht die des Kunden verfolgen könnte. Gemeinsame Ziele haben wir noch nicht, denn der Kunde versteht nicht, warum ihn die Mitarbeiter/innen so negativ sehen. Er wirkt kämpferisch, die Konfrontation mit seinem nachvollziehbaren Unwillen läuft ins Leere, er verleugnet ihn.
Wie kommen wir zusammen? Die Analyse der Übertragungsbeziehung hilft mir, die unterschwellige Ablehnung nicht persönlich zu nehmen, sondern produktiv zu wenden. Für den Coaching-Partner stehe ich stellvertretend für die väterliche Instanz (Vorstand), der er sich in seinem Erleben zu unterwerfen habe. Er kämpft einen Kampf mit mir, den er vermutlich nicht nur mit dem Vorstand, sondern auch mit seinem Team (oder mit signifikanten Anderen generell?) ausficht. Dabei wirkt er ganz allein, meine Hypothese lautet: So allein ist er auch im Team. Auf der einen Seite steht sein Streben nach Wirkmächtigkeit (agency), um den Preis der Gemeinschaftlichkeit (communion)? Meine Arbeitsaufgabe lautet dementsprechend: Wie sind diese beiden Strebungen zu verbinden, die mein Coaching-Partner vermutlich als unvereinbaren Konflikt erlebt?
Die erlaubende Haltung: Man darf dieses Coaching nicht mögen, ließ den Widerstand schmelzen. Die Anerkennung seiner Fachlichkeit machte ihn sicherer in der Arbeitsbeziehung. Nach und nach konnte deutlich werden, dass er, der intern aufgestiegen war und einige interne Bewerber ausgestochen hatte, auf eine schwere Zeit zurückblickte. Die nicht berücksichtigten anderen Bewerber waren im Team verblieben und versuchten, ihm die Arbeit schwer zu machen, bis hin zur Sabotage. In seinen Schilderungen seiner Mitarbeiter/innen verblüffte mich seine Fürsorge und Empathie. Diese zu zeigen, hieß für ihn Schwäche, und er vermutete dadurch noch angreifbarer zu werden. Obwohl seine Beförderung Jahre zurücklag, hatte er sein altes Schema: „Alle wollen mir was. Ich muss mich bewaffnen und mich hinter einer hohen Hecke verschanzen“ beibehalten und nicht registriert, dass die ablehnende Haltung im Team einer Kooperationswilligkeit gewichen war. Die Folie von „Dort-Und-Damals“ vom „Hier-Und-Jetzt“ zu trennen, machte den Weg zu den Mitarbeiter/innen frei.
3.3.2 Die Coach mag den Kunden nicht
Ein 45jähriger sehr erfolgreicher Unternehmer wendet sich wegen Unstimmigkeiten im Geschäftsführungsteam an mich. Im Erstkontakt fällt es mir schwer, die Person zu mögen. Er spricht unaufhörlich, weitschweifend, detailreich, ich habe keine Chance, „dazwischen zu kommen“. Ziele zu klären, stellt sich als mühsam bis unmöglich heraus. Das Gleiche gilt für einen Arbeitsfokus, der in den ersten Sitzungen nicht zu erkennen ist. Ist dieser (vermeintlich) gefunden, wird er immer wieder verlassen, durch biografische Erzählungen, die Kränkungen, aber auch Heldengeschichten zum Inhalt haben. Ich fühle mich zur Zuschauerin degradiert, nahezu überflüssig. Unaufgefordert tritt der Kunde auf meine Terrasse, schaut sich um, betritt den Privatbereich, der sich an meine Praxis anschließt. Er interessiere sich für unterschiedliche Blicke auf die Stadt. Auch an dieser Stelle begrenze ich nicht und frage mich, was mich korrumpiert. Ist es der geschäftlich außerordentliche Erfolg des gut zahlenden Kunden, der mich zaghaft werden lässt? Ich erlebe keine funktionierende Arbeitsbeziehung, bin verwundert, als der behandelnde Hausarzt, der mir den Kunden vermittelte, mir davon berichtet, wie sehr der Coaching-Partner von dem Prozess profitiere.
Ich verändere meinen Arbeitsstil in Richtung massiver Direktivität. Unterbreche, führe streng auf den Fokus zurück, mit viel Anstrengung erreichen wir so etwas wie erste Ergebnisse in den einzelnen Sitzungen, die der Kunde als hilfreich für seinen Arbeitsalltag kommentiert. Mögen kann ich ihn immer noch nicht, die Sitzungen sind kraftraubend, ich habe den Eindruck, wir kommen nicht zusammen. Am Ende der Sessions will er die Praxis nicht verlassen, ihm gelingt es, mich noch 15 bis 30 min in weitere Details zu verwickeln, bis er dann auf massives Drängen geht. So etwas ist mir noch nie in meiner langjährigen Coachingtätigkeit widerfahren.
Besser wird es, als es gelingt, mir die psychische Not des Kunden vor Augen zu führen. Ich kann das Anerkennungsvakuum sehen, das sich durch die immer wieder gleichen Geschichten zeigt. Es fehlte biografisch die Bestätigung, ein wohlwollendes Gegenüber wird gleichsam im Coaching erzwungen. In einem Moduswechsel hin zur mütterlichen Begleitung wird es mir leichter, auch freiwillig zu geben, was vermutlich lebensgeschichtlich gefehlt hat. Das vermeidende Geschichtenerzählen und/oder die vielen Themenwechsel können auf ihre Bedeutung hin gemeinsam betrachtet werden. Sie dienten auf der einen Seite der Affektisolation. Sobald die Emotionen durch den Kunden wahrgenommen und berichtet werden, steigt meine Sympathie für ihn. Ich kann erkennen, wie seine Selbstunsicherheit schwindet, wenn er bestätigt wird, wie er ruhiger wird, wenn ich seine Wahrnehmung ratifiziere. Auf der anderen Seite kann ich seine Sprunghaftigkeit auch als Geheimnis seines Erfolgs sehen, unterschiedlichste Ebenen gleichzeitig zu denken und zu bedienen. Die Grenzüberschreitungen und zum Teil dissozial anmutenden Verhaltensweisen gelingt es mir zu reframen. Das internationale Milieu, in dem er erfolgreich ist, unterliegt diesen Regeln, sie sind lediglich mir fremd.
3.3.3 Diskussion aus der Perspektive der 3RS
In beiden Fallbeispielen deuten sich mehrere potenzielle Brüche an. Im ersten Beispiel kann das nassforsche Auftreten auf ein direktes Bemühen des Coachees hinweisen, die Coach kontrollieren zu wollen (Konfrontations-Marker). Die für die Coach spürbaren Dissonanzen und Uneinigkeiten sind möglicherweise Anzeichen dafür, dass die Erzählungen des Coachee nicht zu seinem Affektausdruck passen (Rückzugs-Marker). Das Unverständnis des Coachees für die negative Sicht der Mitarbeiter/innen weist darauf hin, dass er sich gegenüber der Coach verteidigt (Konfrontations-Marker). Im zweiten Fall legt es das ständige Verlassen des Arbeitsfokus nahe, dass der Coachee durch Geschichtenerzählen und Themenwechsel zielführendes Arbeiten an den wahrscheinlich relevanten, aber potenziell schmerhaften und verunsichernden Themen vermeiden möchte (Rückzugs-Marker). Das unaufgeforderte Betreten des Privatbereichs kann als Bemühung seitens des Coachees verstanden werden, die Coach zu kontrollieren (Konfrontations-Marker).
Ebenfalls zeichnen sich in beiden Fallbeispielen Lösungsstrategien ab. Im ersten Beispiel stellt die Coach eine Verknüpfung zwischen dem aktuellen Bruch und einem wiederkehrenden Muster in wichtigen Beziehungen des Coachees her: Sie sieht sich als Stellvertreterin für die väterliche Instanz (den Vorstand). Als weitere Lösungsstrategie verbündet sie sich mit dem Widerstand. Dies drückt sich in der erlaubenden Haltung aus, dass man das Coaching auch nicht mögen darf. Im zweiten Beispiel führt die Coach den Coachee zu den Aufgaben der Sitzung zurück, sobald er sich von diesem entfernt: Sie beschreibt diese Strategie als Veränderung des Arbeitsstils in Richtung massiver Direktivität. Eine weitere Lösungsstrategie besteht darin, eine Verknüpfung zwischen dem aktuellen Bruch und einem wiederkehrenden Muster in wichtigen Beziehungen des Coachees herzustellen. Sie reflektiert das Anerkennungsvakuum, im welchem sich der Coachee befindet.