Coaching in der zweiten Romantik: Abstieg oder Aufstieg?

Es ist Juli/August 2020. Die Welt befindet sich seit längerem in superschnellen und tiefgreifenden Veränderungen, die die Technik, die Gesellschaften und ihre kulturellen Besonderheiten wie auch die nationalen und internationalen Politikverhältnisse, ihre Strukturen und Perspektiven betreffen. Die Lage für das Coaching ist massiv in Bewegung, durch vielfältige politische und gesellschaftliche Veränderungen und insbesondere durch die Digitalisierung. Und die Frage wird sein: Stehen wir vor einer echten Disruption – oder nicht?

„Coaching“ ist ein wichtiges – vielleicht „das“ – heute weltweit bekannteste Lern- und Entwicklungs- Format primär für Einzelne zur persönlichen Entwicklung und mentalen Bewältigung der aktuellen sozialen Veränderungen. Es geht um die erkennbaren vielfältigen und viele Menschen überfordernden Geschwindigkeitssteigerungen in Alltag und Beruf und der immer weiter zunehmenden Komplexität der Inhalte dieser Prozesse. Coaching muss sich nicht nur mit den Veränderungen für das Individuum beschäftigen, sondern darüber hinaus mit der Frage auseinandersetzen: Inwieweit ist Coaching angesichts all dieser enormen externen wie internen Veränderungen und Herausforderungen ein eigenständiger Treiber, ein Mit-Gestalter der eigenen Profession wie der gesellschaftlichen Verhältnisse oder lediglich eine mentale Sternschnuppe mit allmählich leiser werdender und vorübergehender gesellschaftlicher Bedeutung?

Das gesellschaftliche Umfeld von Coaching verändert sich dramatisch - mit hohem Tempo und großer Intensität z. B.: Politik, Medizin, Digitalisierung, Klima, nicht zuletzt durch Corona. Coaching soll diese Entwicklungen reflektieren, sich darauf beziehen und sich mutig beteiligen, um über den Tellerrand der eigenen Begrenztheit auf das Individuum hinaus die allgemeinen gesellschaftlichen und kulturellen Prozesse zu thematisieren. Zudem sollte Coaching Innovationen z. B. aus der Medizin beobachten, auswerten und ggf. für sich nutzen. Ausblicke auf eine große gesellschaftliche Transformation und die Anknüpfungspunkte für Coaching runden das Kapitel ab.

In den letzten Jahren hat sich eine Gesellschaft der Singularitäten herausgebildet, bei der das Individuum seine eigenen Interessen und Bedürfnisse in früher unbekannter und ungeahnter Art und Weise ausleben will. Das Erleben der eigenen und fremder Identitäten wird fluide und in den flexiblen Räumen des Internets nur noch als Prozess erkennbar. Die gesamte Weltwahrnehmung wird singularisiert und bezieht sich nicht nur auf das Subjekt, sondern auch auf Objekte, Personengruppen, Prozesse und Situationen. In diesem Universum wird das kulturelle Leitmotiv der eigenen Glückseligkeit durch die Positive Psychologie unterstützt und vielfach überzogen vorangetrieben. Es geht einher mit den ökonomischen Gedanken des Neo-Liberalismus, übersieht dabei aber nicht ohne kritische Folgen, dass viele Menschen in diesem Wettbewerb nicht bestehen können. Coaching soll demgegenüber verstärkt den Blick auf die systemischen Zusammenhänge öffnen und durch seine offenen – positiven wie kritischen – Stellungnahmen einen konstruktiven Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung leisten. Inneres Erleben und äußere Gesellschaftsentwicklung sollen in ihrer unmittelbaren systemischen Verwobenheit begriffen und konstruktiv weiterentwickelt werden.“

Mit der Digitalisierung von Coaching wollen wir ausgewählte Themen und Felder aufgreifen, die aus unserer Beobachtung eine hohe Relevanz für die zukünftige Entwicklung von Coaching besitzen. Es sind die Facetten des online-Coachings und die Angebote der Coaching-Plattformen, bei denen wir gravierende Veränderungen des Coaching-Prozesses und des Coachingmarktes erwarten, was von einem Großteil des Marktes nicht verstanden bzw. ignoriert wird. Wir sehen weitreichende Disruptionen, die von vielen Coaches derzeit in ihren Auswirkungen nicht wahrgenommen werden. Dabei sollen die Veränderungsprozesse im Coaching (z. B. die Veränderung der Kommunikationsformen) und die Auswirkungen des neuen dreiseitigen Geschäftsmodells als Spiegelbild für die Veränderungen auf gesellschaftlicher Ebene erkannt und in ihrer politisch-gesellschaftlichen Tragweite zumindest im Ansatz betrachtet werden.

Wir beantworten unsere konkreten zu Beginn gestellten Fragen und vermitteln unsere Position, vor allem aber laden wir Sie zu einem Dialog über die Zukunft von Coaching herzlich ein, da wir – wie im Text ausgeführt – eine disruptive Veränderung im Coachingmarkt und im Verständnis von Coaching vermuten, zumal wir annehmen, dass diese Veränderungen als typisch für die zukünftigen Gesellschaftsentwicklungen als Ganzes begriffen werden müssen.