3.1 Theoretischer Zugang: Subjektivierung und Cooling out in Analysepraktiken
Unter Bezugnahme auf praxissoziologische Arbeiten werden Spielanalysen im Folgenden als soziale Praktiken perspektiviert, die zusammen mit weiteren Trainingspraktiken, aber auch Praktiken des Organisierens das Feld Nachwuchsleistungsfußball konstituieren. Das Feld wird dabei als ein „Plenum“ (Schatzki
2016, S. 32) aus verschiedenen Praktiken operationalisiert, die in zeitlicher, räumlicher und personeller Hinsicht miteinander zusammenhängen und zentral auf die Praxis des Spielens und Wettkämpfens bezogen sind. Bei diesen Praktiken handelt es sich um historisch gewachsene, wiedererkennbare Aktivitätenmuster, die durch spezifische Anforderungen und Erwartungen organisiert und auf bestimmte Ziele und Zwecke gerichtet sind (Schatzki
2002, S. 59 ff.). Trainingspraktiken beispielsweise zielen ausdrücklich darauf, ihre Teilnehmer körperlich, aber auch emotional und kognitiv für den Wettkampf bereit und im Feld des Spitzensports „mitspielfähig“ zu machen (Brümmer
2015). Das zentrale praxissoziologische Axiom lautet dabei, dass Praktiken nur in ihrem Vollzug existieren (Alkemeyer et al.
2015). Sie sind stets in konkrete Situationen eingebettet, in denen und über die hinweg sie sich reproduzieren und transformieren (Reckwitz
2003, S. 294 ff.). Praktiken werden in den Interaktionen ihrer Teilnehmer ausgeformt und gewinnen in deren wechselseitigen Bezugnahmen und „Adressierungen“ (Reh und Ricken
2012) ihre spezifische Gestalt. Sie realisieren sich dabei nicht immer auf völlig identische Weise, sind aber aufgrund charakteristischer Merkmale zu identifizieren. Spielanalysen praxissoziologisch zu untersuchen impliziert daher eine besondere Aufmerksamkeit für Typizität und Regelmäßigkeit der Interaktionen und Situationen, in denen sich diese Analysen konkret vollziehen.
Um zu erfassen, wie genau Spieler und Trainer sich selbst und einander in Praktiken der Spielanalyse als mitspielfähige und professionelle Teilnehmer des Feldes hervorbringen, bieten sich ergänzend dazu subjektivierungstheoretische Überlegungen an, wie sie von Foucault entwickelt und unter anderem von Reckwitz (
2007) und Alkemeyer (
2013) in die praxissoziologischen Diskussionen eingebracht wurden. Das Konzept der Subjektivierung nämlich lenkt den Blick darauf, dass sich der Erwerb von Mitspielfähigkeit in Praktiken und Feldern in einem Spannungsfeld von Selbst- und Fremdführungen realisiert (Foucault
1985). Teilnehmer subjektivieren sich einerseits selbsttätig in Praktiken, bringen also ihr Denken, Handeln und Wahrnehmen, ihre Vorhaben, Absichten und Emotionen, ihre Selbst- und Weltverhältnisse „gewußt und gewollt“ (Foucault
1986, S. 18) in eine Form, die den Anforderungen und Erwartungen, Zielen und Zwecken des Feldes entspricht. Andererseits rufen die verschiedenen Teilnehmer einer Praktik sich einander kontinuierlich gegenseitig dazu auf, diesen Anforderungen zu entsprechen, indem sie Aktionen, die ihnen zuwiderlaufen, etwa durch Belehrungen und Anweisungen oder im Falle grober und langfristiger Abweichungen auch durch Ausschlüsse sanktionieren (Schmidt
2012, S. 215). In ihren wechselseitigen Bezugnahmen und Adressierungen machen sie die Anforderungen und aneinander gerichteten Erwartungen explizit, reproduzieren und transformieren sie oder stellen sie voreinander zur Disposition.
Das Konzept der Subjektivierung betont damit die Gleichzeitigkeit von Unterwerfung und Agency, die jedem Einpassungsprozess in eine Praktik und jedem Inklusionsprozess in ein Feld eingeschrieben ist. Nicht zuletzt ermöglicht dies die Thematisierung von Macht: Subjektivierungstheoretische Arbeiten rücken die Machtverhältnisse in den Fokus, die in Praktiken Geltung erlangen und ihren geregelten Vollzug nicht nur tragen, sondern auch unterbrechen oder stören können (Reckwitz
2007). Vor diesem Hintergrund geht es im Folgenden darum, wie sich die Trainingsteilnehmer in ihren alltäglichen Interaktionen, die durch ein qua Institution auf Dauer gestelltes, relationales Positionen- und Machtgefüge „präfiguriert“ sind (Schatzki
2002, S. 44),
5 als Über- und Unterlegene adressieren und dabei Wirkungsdynamiken und Subjektivierungseffekte in Gang setzen, die sie häufig selbst nicht völlig durchschauen.
Im Anschluss daran verspricht Goffmans Theorem des Cooling out eine insbesondere für den Fall des spitzen- und teamsportlichen Trainings vielversprechende analytische Fokussierung und Ergänzung. Grundlegend lenkt Goffmans Aufsatz die Aufmerksamkeit auf Weisen der „Abkühlung“ von Emotionen sowie der Konfliktprävention im Fall von Enttäuschung und Misserfolg. Das Theorem hält aber zugleich auch dazu an, sich für die Wiederherstellung von „Engagement“ (Goffman
1971, S. 44), Motivation und Anstrengungsbereitschaft im Sinne eines komplementären Warming up
6 zu interessieren – und damit die für den vorliegenden Fall besonders relevanten Momente von Subjektivierungs- und Professionalisierungsprozessen in den Fokus zu rücken. Darüber hinaus legt es Goffmans Aufsatz nahe, die in den Analysepraktiken sich vollziehenden Interaktionen und Adressierungen dezidiert im Hinblick auf die Konzepte von „cooler“ und „mark“ zu reflektieren, die Goffman mit Blick auf die Anforderungen des sozialen Reputationsmanagements, die sich aus dem Misserfolg ergeben, rollensoziologisch entfaltet. Eine praxis- und subjektivierungstheoretische Perspektive macht es indes plausibel, hier von „Positionen“ anstelle von „Rollen“ zu sprechen.
Ebenso wie der Anlass für Cooling-out-Prozesse, also der Misserfolg und die darauf folgende Enttäuschung, in Goffmans Beispielen unumstritten feststehen und damit „faktischen“ Charakter haben, sind die Positionen von „mark“ und „cooler“ in seiner Darstellung eindeutig verteilt. Demgegenüber legen subjektivierungstheoretische Erwägungen nahe, diese Festschreibungen analytisch aufzuweichen und zu prozessualisieren. Damit rückt die Frage in den Fokus, wie sich Spieler und Trainer bei der Verarbeitung von Enttäuschung und Misserfolg, also gleichsam im simultanen Prozess des Cooling out, Warming up und „marking“ gegenseitig als „cooler“, „warmer“ und „mark“ adressieren. Wie und unter welchen Voraussetzungen, so gilt es zu untersuchen, nehmen sie diese Positionen an oder weisen sie sie zurück? Wie artikulieren sich in diesem Positionierungsgeschehen sowohl die institutionalisierten als auch die informellen Machtverhältnisse? Und wie subjektivieren sich die Teilnehmer dabei nicht nur, sondern wie verhandeln sie zugleich die Kriterien einer kompetenten und professionellen Mitspielfähigkeit?
Mit Blick auf die Mitwirkung von Videoaufzeichnungen an Trainingspraktiken und Subjektivierungsprozessen bieten sich wiederum praxissoziologische Zugänge an – schließlich erheben diese den Anspruch, sich von anderen soziologischen Theorien insbesondere auch dadurch abzuheben, dass sie die Bedeutung von nicht-menschlichen Entitäten wie Dingen, Artefakte und Technologien für soziale Prozesse systematisch berücksichtigen. In praxissoziologischer Perspektive bildet das Arrangement dieser Entitäten den materiellen Kontext, innerhalb dessen sich die Praktiken entfalten und durch den sie manifest geprägt werden. Das Auftauchen neuer Dinge, Artefakte und Technologien kann so Veränderungen etablierter Praktiken in Gang setzen und das Verschwinden alter sowie die Entstehung ganz neuer Praktiken forcieren (Schatzki
2019).
In praxissoziologischer Perspektive sind dabei bestimmte „Gebrauchssuggestionen“ (Hirschauer
2016, S. 52), Nutzungspotenziale oder Anreizstrukturen in jedes Entitätsarrangement eingeschrieben, die die menschlichen Teilnehmer in Abhängigkeit von ihrer Disponiertheit spezifisch adressieren, affizieren und in ihren Wahrnehmungen, Aufmerksamkeiten sowie Aktivitäten anleiten (Schmidt
2012, S. 63). Die Entitäten können die menschlichen Teilnehmer demzufolge nicht nur in ein spezifisches und gegebenenfalls neues Verhältnis zu sich selbst, sondern auch zueinander setzen – und in diesen Hinsichten subjektivierende Wirkungen entfalten. Praxissoziologisch werden Dinge, Artefakte und Technologien somit nicht als passive Mittel, sondern als aktive Vermittler – und in diesem Sinne als Medien (Latour
2006) – von Praktiken und den damit verbundenen Interaktionen und Subjektivierungsprozessen betrachtet. Diese Entitäten leisten demnach einen genuin eigenständigen Beitrag zur Genese von Praktiken und Subjekten. Für den vorliegenden Fall bedeutet dies auch, dass die Videoaufzeichnungen von den Teilnehmern nicht nur instrumentell gebraucht werden, um bereits verfertigte Zuschreibungen, Bewertungen und Kritik von Leistungen oder Spielereignissen und -ausgängen, Vorhaben und Auffassungen – etwa von Professionalität – um- oder gegen andere durchzusetzen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Aufzeichnungen diese Auffassungen, Bewertungs- und Zuschreibungsprozesse ihrerseits grundlegend mitstrukturieren.
Auf der Basis dieser theoretischen Überlegungen können nun differenzierte Leitfragen formuliert werden, die im empirischen Teil adressiert werden: Aufgrund welcher Dispositionen und zugeschriebenen Qualitäten spielen Videoaufzeichnungen eine so zentrale Rolle im Trainingsalltag von Fußballmannschaften? In welchen Trainingskontexten kommen sie überhaupt zum Einsatz – und wie genau im jeweiligen Fall? Welche neuen Praktiken ermöglichen sie und auf welche gegebenenfalls neue Art und Weise setzen sie die Teilnehmer zu sich selbst und zueinander ins Verhältnis? Wie wirken sie im Kontext des leistungsorientierten Enttäuschungs- und Misserfolgsmanagements an der Subjektivierung professioneller Teilnehmer mit, und wie tragen sie zugleich zur Formierung und Durchsetzung bestimmter Auffassungen kompetenter Mitspielfähigkeit bei? Schließlich: Welchen genuinen Beitrag leisten Videos zu Prozessen des Cooling out, des Warming up und des „marking“? Und wie vermitteln sie damit zusammenhängend Macht‑, Konflikt- und Positionierungsverhältnisse im kompetitiven Feld und im Team?
3.2 Methodik: Ethnografie des Fußballtrainings
Den folgenden Ausführungen liegen Daten einer ethnografischen Studie zugrunde, die im Leistungszentrum eines Vereins der Ersten Bundesliga durchgeführt wurde. Für die Studie wurden Trainings- und Organisationsprozesse in zwei männlichen Nachwuchsmannschaften am Übergang zum Profibereich in ihren natürlichen Habitaten erforscht. Das methodische Primat lag auf videogestützten teilnehmenden Beobachtungen. Das originäre Ziel der Studie war es, die Implikationen des Gebrauchs von Technologien zur Spiel- und Leistungsanalyse – darunter vorrangig Videoaufzeichnungen – für das Training, die Teamorganisation sowie die Subjektivierung der Teilnehmer zu eruieren. Zum Zeitpunkt der Erhebung spielten Fragen nach Enttäuschung und erlebtem Misserfolg noch keine zentrale Rolle, das erhobene Material wurde also für den Zweck des Aufsatzes einer Reinterpretation im Lichte von Goffmans Cooling-out-Theorem unterzogen. In Ergänzung der Beobachtungen wurden ethnografische Gespräche und qualitative Interviews mit neun Spielern, beiden Cheftrainern sowie den Direktoren des Leistungszentrums geführt.
Der Feldaufenthalt erstreckte sich mit zum Teil mehrwöchigen Unterbrechungen zur Datenauswertung und aufgrund von Wettbewerbspausen über insgesamt 18 Monate, wobei meist einmal, in intensiveren Phasen mehrmals pro Woche beobachtend an Trainingseinheiten teilgenommen wurde. Diese lange Dauer ermöglichte es, Muster in Abläufen zu erkennen und so für das Feld typische Praktiken zu identifizieren. Sie erwies sich zudem als notwendig, weil manche der Teilnehmer, die einer lokalen Öffentlichkeit bekannt sind und im Fokus der Massenmedien stehen, nur langsam Vertrauen in die Ethnografin entwickelten und Einblicke gewährten.
Der Einsatz der Videokamera lag vor allem in der Komplexität des Forschungsfeldes und der hierdurch bedingten Überforderung der Aufzeichnungskapazitäten der einzelnen Ethnografin begründet. In die Spielanalysen waren oft mehr als 20 Teilnehmer involviert; zudem galt es nicht nur die Geschehnisse im Hier und Jetzt der Erhebungssituation, sondern auch die vom Video (re-)präsent gemachten Spielereignisse zu erfassen, auf die sich die Teilnehmer immer auch bezogen. Unerwartet erwies sich die Kamera aber auch als Türöffnerin, da sie Beobachtungen in Kontexten ermöglichte, die die Kopräsenz der Ethnografin ausschlossen. Während der Kameraeinsatz bei sogenannten Einzelgesprächen nicht erlaubt wurde, wenn diese besonders brisant waren und im finalen Ausschluss eines Spielers aus dem Kader kulminierten, durften die aus Teilnehmerperspektive kritischen Interaktionen aufgenommen werden. Offenbar befürchteten die Entscheidungsträger, dass die körperliche Anwesenheit einer menschlichen Beobachterin im letzteren Fall die Situation signifikant und für alle Involvierten erschwerend beeinflussen könnte, wohingegen der Kamera kein solcher Einfluss zugeschrieben wurde.
Andere Kontexte der Spielanalyse blieben über die gesamte Dauer des Feldaufenthalts für teilnehmende Beobachtungen unzugänglich. Da die Analysen mitunter im privaten Umfeld stattfanden, beruhen die entsprechenden Ausführungen auf Informationen, die in Gesprächen und Interviews gewonnen wurden. Gespräche und Interviews mit Trainern und Spielern dienten daneben der Erhebung von Informationen zu Geschehnissen, deren Hintergründe sich der Ethnografin in der Beobachtungssituation selbst nicht vollständig erschlossen. Interviews mit leitenden Funktionären halfen beim Verstehen institutioneller Abläufe und Entscheidungswege, etwa bezüglich der Auswahl von Trainern und Spielern für Kader oder auch deren Exklusion. In erster Linie aber wurden Gespräche und Interviews geführt, um die subjektivierenden Effekte der beobachteten Analysepraktiken und ihre Implikationen für die Formierung der Emotionen, Selbstbilder und Weltverhältnisse sowie des Engagements der Teilnehmer für den fußballerischen Wettkampf zu erfassen.
Die Interviews boten den Teilnehmern Raum, um ihre jeweiligen Perspektiven auf die Wirkungen von Videoanalysen auf ihre Mitspielfähigkeit darzulegen, und der Ethnografin zugleich Anlass, ihre eigenen Beobachtungen hieran zu bemessen. Zwar lieferten auch Beobachtungen Aufschlüsse über diese Subjektivierungseffekte, insofern sie teilweise über die im Training sich abspielenden Interaktionen und wechselseitigen Adressierungen der Teilnehmer rekonstruiert werden konnten. Bestimmte Überzeugungen, Emotionen, Enttäuschungen und Zuschreibungen wurden jedoch von Teilnehmern im Training mitunter verborgen und mussten deshalb auf anderem Weg zugänglich gemacht werden. Die Gründe für diese Beschränkungen der Beobachtbarkeit sind wiederum in der spezifischen Strukturlogik des Spitzen- und Teamsports zu finden. So besteht unter Spielern die Angst, unprofessionell und nicht kritikfähig zu wirken, vor den Teamkollegen, die zugleich ihre Konkurrenten sind, ins Hintertreffen zu geraten und von Trainern aussortiert zu werden. Dazu kommt die Furcht, mit bestimmten Äußerungen den Ärger und das Unverständnis der Mitspieler auf sich zu ziehen und so die soziale Integration des Teams zu gefährden. Und auch für Trainer gilt, dass sie mit Blick auf den Mannschaftszusammenhalt eine harsche Kritik an den Leistungen einzelner Spieler und deren „marking“ in Trainingszusammenhängen, an denen das Mannschaftskollektiv teilhat, mitunter unterlassen und sie stattdessen in „intimeren“ Kontexten artikulieren, zu denen nicht immer uneingeschränkter Zugang bestand.
Die Beobachtungen wurden zunächst in detailgenaue Beschreibungen überführt. Dabei wurden auch solche Interaktions- und Wirkungszusammenhänge sowie Subjektivierungseffekte zur Sprache zu bringen versucht, die aufgrund ihrer Selbstverständlichkeit oder Implizitheit von den Teilnehmern weder im Trainingsalltag noch in den Interviews ausdrücklich thematisiert wurden (Breidenstein et al.
2013, v.a. S. 35 f.). Im nächsten Schritt wurden die Beschreibungen auf Regelmäßigkeiten hin durchgesehen und nach den der Grounded Theory entlehnten Methoden des offenen und axialen Kodierens analysiert (ebd., S. 124 ff.). Die Analyse erfolgte in einer Haltung „theoretischer Sensibilität“ (Glaser und Strauss
1998, S. 54), wobei die im vorangehenden Abschnitt erläuterten Theoreme als „sensitizing concepts“ dienten. In der Analyse wurden die Beobachtungen auf induktiv und deduktiv entwickelte Begriffe gebracht und so zugleich systematisiert. Analog wurde mit den sprachlichen Daten verfahren: Die informellen Gespräche wurden in Erinnerungsprotokollen niedergeschrieben, die qualitativen Interviews wörtlich transkribiert. Dann wurden die Protokolle und Transkripte auf wiederkehrende Argumentationsfiguren und Begründungszusammenhänge hin durchgesehen und ebenfalls qua Kodierung und Kategorisierung ausgewertet.