In der folgenden Darstellung der beiden Konstellationen wird zunächst jeweils kurz erläutert, woran sich das Mismatch im Wesentlichen festmacht. Anschließend werden am Beispiel von prägnanten Fällen der Cooling-out-Prozess sowie die Ausprägung der Konstellation im Hinblick auf typische Merkmale der Antriebsstruktur, biographische Prägungen, Handlungsstrategien, markante Eckpunkte der beruflichen Werdegänge und konkrete Erfahrungen der Nichtpassung näher beschrieben.
4.1 Karriereaspirationen kollidieren mit Karriererisiken – Cooling out als Scheiternsprävention
In der ersten Konstellation haben wir es mit Personen zu tun, bei denen sich das Cooling out an einer unzureichenden Übereinstimmung von Karriereaspirationen, Risikobereitschaft und wahrgenommenen Karrierechancen im erwählten Beruf entzündet.
8 Die berufliche Antriebsstruktur dieser Fälle ist durch eine relativ klare Erfolgsorientierung bestimmt, in der ein latentes Motiv des Überbietens elterlicher Karriereerfolge erkennbar ist. Die Fälle starten ihren Berufsweg typischerweise mit klaren Vorstellungen, geraten aber im Laufe ihrer beruflichen Entwicklung in Zweifel, ob ihre ambitionierten beruflichen Ziele unter den im Berufsfeld wahrgenommenen wettbewerblichen Bedingungen einer erfolgreichen Karriere auch erreichbar sind.
Prototypisch für diese Konstellation sind zwei Wissenschaftler*innen, der Biologe Lars Lambrecht und die Physikerin Claudia Ruprecht
9, die herkunftsbedingt für eine wissenschaftliche Karriere eigentlich beide sehr gut ausgestattet sind. Schon die Eltern und zum Teil auch die Großeltern haben eine akademische Ausbildung absolviert und sind in gehobenen beruflichen Positionen tätig, sodass es in beiden Fällen an kulturellem Kapital (Bourdieu
1992) nicht mangelt. Für Claudia Ruprecht war „das akademische Leben schon immer was sehr Konkretes“
10, wo sie sich „auch sehr gut vorstellen konnte in Zukunft zu arbeiten“. Und Lars Lambrecht hat bereits mit „sieben, acht so was“ auf die Frage, was er einmal werden möchte, geantwortet: „Wissenschaftler!“
Bis zum Eintreten der beruflichen Krise beschreiben beide Fälle ihren Werdegang als „sehr geradlinig“ und stellen damit nicht nur ihre klare Zielorientierung, sondern auch ihr intellektuelles Potenzial und ihre Leistungsfähigkeit heraus. Nach der Grundschule wechseln sie wie selbstverständlich auf das Gymnasium, machen dort ein Einser-Abitur und beginnen anschließend ein wissenschaftliches Studium. Lambrecht, dessen Interesse an der Wissenschaft „schon immer“ mit Naturwissenschaft verknüpft war, entscheidet sich für Biochemie und grenzt sich damit vom alltagsweltlichen Bezug der elterlichen Berufe ab – vor allem von dem der Mutter, die er als „Feld-Wald-Wiesenbiologin“ bezeichnet. Er möchte stattdessen ein Wissenschaftler werden, der sich für die „allerkleinsten Zusammenhänge“ interessiert. Ruprecht beginnt ein Studium der Physik. Das Fach hat sie mit Fünfzehn während eines halbjährigen Auslandsaufenthaltes der Familie in den USA für sich entdeckt, wo sie der Physikunterricht, den sie bisher nur langweilig fand, „einfach gepackt (hat)“. Dieses Erweckungserlebnis verschafft ihr endlich auch eine konkrete Vorstellung davon, wie sie die stumme Erwartung der Mutter, Professorin zu werden, mit Inhalt füllen kann. Ihr Interesse gilt der Teilchenphysik: „das zu verstehen im Prinzip, was die Welt im Innersten zusammenhält“.
Mit Beginn des Studiums zeigen sich bei beiden deutliche Züge einer strategischen Optimierung ihrer Biographie. Sie studieren in Regelstudienzeit oder unterbieten diese sogar, absolvieren „aus lebenslauftechnischen Gründen“ (Lambrecht) Praktika und Zusatzkurse in international renommierten wissenschaftlichen Einrichtungen und beginnen nach Abschluss des Studiums umgehend mit der Arbeit an der Dissertation. Auch bei der Wahl der Promotionsstellen spielt das Renommee der Institution eine entscheidende Rolle. So ist für Lambrecht das „hochkarätige Institut“ wichtiger als das Thema, welches ihm „vorgeschlagen“ wurde. Und Ruprecht setzt alle Hebel in Bewegung, um ihre Promotion an jener namhaften internationalen Forschungseinrichtung anfertigen zu können, an der sie schon als Praktikantin tätig war und an der auch ihr kürzlich geehelichter Mann, ebenfalls ein Physiker, arbeitet.
Erste Gefühle von Mismatch kommen bei beiden in der Promotionsphase auf, allerdings aus unterschiedlichen Anlässen. Bei Lambrecht ist es die Wahrnehmung, den neuerdings in der Wissenschaft geforderten Dispositionen (siehe Matthies et al.
2015) – insbesondere dem Anspruch an die performative Inwertsetzung von Leistung, wie sie etwa in Forschungen zur Subjektivierung von Arbeit (Moldaschl
2003), zum unternehmerischen Selbst (Bröckling
2007) oder zu beruflich verwertbarem affektiven Kapital (Penz und Sauer
2016) beschrieben werden – nicht zu entsprechen. Dabei ist Lambrecht durchaus bereit, entgrenzt zu arbeiten und alle anderen Lebensbereiche dem angestrebten Ziel einer Professur unterzuordnen. Dennoch scheitert er – zumindest dem eigenen Eindruck nach – an den neuen Anforderungen an eine wissenschaftliche Persönlichkeit. Auf Konferenzen schafft er es nicht, Aufmerksamkeit und Interesse zu generieren, sondern steht zumeist im Abseits, wie er sagt: „Dass wirklich mal eine Traube von Menschen vor meinem Poster angehalten […] und gesagt hat, ‚ach das ist ja spannend‘, ja solche Erlebnisse sind einfach ausgeblieben“. Laut Selbstbeschreibung hat er kein Gespür für innovative Themen und findet so in der wissenschaftlichen Community kaum „Response“: „Ich hab’ auch gezielt, also mit wirklich schlafwandlerischer Sicherheit […] immer Projekte rausgesucht, die ich total spannend fand und der Rest der Welt total langweilig“.
Vor dem Hintergrund dieser Eindrücke realisiert Lambrecht im Laufe der Promotion schmerzhaft, dass es für eine erfolgreiche Karriere in der Wissenschaft nicht ausreicht, ein Thema mit Fleiß und Sachverstand zu bearbeiten. Dabei misst er sich an einem Kollegen, den er in vergeschlechtlichter Diktion als „toller Hecht“ oder „golden boy“ bezeichnet, sowie an all jenen, die „brennender von ihrem Thema erzählen“, die „interaktiv“ sind, die „Tatendrang“ aufweisen und forsch vorangehen, und ruft damit gleichsam jenes Bündel an ihm fehlenden Dispositionen auf, das Penz und Sauer (
2016, S. 77) als „affektives Kapital“ bezeichnen. Damit zielen sie auf „das Potenzial einer Person [...], andere Menschen zu affizieren, sie anzusprechen, sie zu berühren bzw. anzurühren, ihre Aufmerksamkeit zu erregen“ (ebd.). Affektives Kapital als eine spezifische Form des Bourdieu’schen kulturellen Kapitals wird in Interaktionen aktiviert und ermöglicht die Bildung von sozialem Kapital (vgl. ebd.), und genau diese Aktivierung und Konversion gelingt Lambrecht nicht. Mit seinen Kollegen am Institut ist er kaum vernetzt und von seiner Chefin fühlt er sich zu wenig beachtet. Zunächst empfindet er das als „unfair“, doch im Laufe der Zeit beginnen Selbstzweifel an seiner Eignung für die Agora des wissenschaftlichen Feldes. Ihm wird zunehmend gewahr, dass er das (neue) Ideal des Feldes, intrinsische Motivation, Kreativität und Begeisterung auch performativ in Szene zu setzen und „neue Impulse [zu] entwickel[n]“, praktisch nicht erfüllen kann. Seine eigene Haltung zur Arbeit charakterisiert er demgegenüber relativ offen als extrinsisch motiviert: „Das war eine Aufgabe, die ich zu bewältigen hatte […] was man von außen gegeben bekommt und bei der man erfolgreich ist oder nicht“. Mit dieser Selbsteinschätzung wird das wahrgenommene Mismatch als ein persönliches Defizit (an-)erkannt und mündet in der Einsicht: „Da kann ich nicht wirklich mithalten“. Lambrecht schließt die Promotion zwar noch ab, befasst sich gedanklich aber mit einem Ausstieg aus der Wissenschaft und bewirbt sich auf vakante Stellen außerhalb der Forschung. Als er schließlich an einer großen deutschen Universität eine Stelle als Forschungsreferent findet, ist für ihn „völlig klar: ich bleibe nicht“.
Bei Ruprecht kommt es zu ersten Erfahrungen von Mismatch im Zuge der Realisierung ihres Wunsches nach vielen Kindern, den sie mit ihrem Mann teilt. Vier Kinder sollen es werden, wie in den Familien, in denen beide groß geworden sind. Die familiäre Reproduktion gehört für Ruprecht wie für ihren Partner zu einem gelungenen Leben dazu. Zwei Kinder kommen in der Promotionszeit zur Welt, wobei die zweite Schwangerschaft mit der Fertigstellung der Dissertation zusammenfällt. Sie wird mit magna cum laude benotet und erreicht damit nicht das Niveau von Ruprechts bisherigen Abschlussnoten. Darauf angesprochen sagt sie: „Ich hab’ die Doktorarbeit abgegeben eine Woche bevor mein zweites Kind geboren wurde, und ich hab’ mich mit dem Aufschreiben der Arbeit sehr schwer getan. Und ich hab’ die Doktorprüfung gemacht, da war der Kleine drei Monate alt und ich hab’ ’ne ziemlich schlechte Prüfung hingelegt“. Die Dissertationsnote betrübt sie allerdings nicht allzu sehr, da sie bereits vor dem Abschluss der Promotion ein zweijähriges Research Fellowship ihres Instituts erhalten hat, das in ihren Augen ein größerer Beleg für Exzellenz ist: „Das wiegt viel mehr [...], das ist eine Auszeichnung, das zu bekommen“, sagt sie.
Richtig genießen kann Ruprecht die zwei weiteren Jahre am Institut jedoch nicht, denn die Frage, wie Familienbildung und wissenschaftliche Karriere zusammengebracht werden können, existiert weiterhin. Konkret äußert sich das Problem darin, dass ihr Ehemann sich angesichts der nunmehr zwei Kinder auf die Suche nach einer unbefristeten Anstellung begeben hat und schließlich in einer anderen Stadt außerhalb der Wissenschaft fündig geworden ist. Beiden ist damit klar, dass dieser Ort auch der künftige Lebensmittelpunkt der Familie sein soll. Sie kaufen dort ein Haus, richten es nach ihren Wünschen her und nach Beendigung des Fellowship zieht auch Ruprecht mit den beiden Kindern in das neue Heim.
Während die Familie nunmehr wieder zusammenleben kann, nimmt für Ruprecht die Verunsicherung hinsichtlich ihrer beruflichen Zukunft zu. Zwar findet sie am neuen Wohnort sofort eine Fünfjahresstelle an einem ebenfalls renommierten Forschungsinstitut und kann dort ihre wissenschaftlichen Arbeiten fortsetzen, doch mit der dritten Schwangerschaft, die kurz darauf beginnt, fragt sie sich: „Wo soll’s denn jetzt eigentlich hingehen und was kommt dann danach?“ Für das Ziel, Professorin zu werden, rechnet sie sich aufgrund der familialen und räumlichen Bindung inzwischen „ganz schlechte Chancen“ aus. Dabei sind ihre Überlegungen wie bei Lambrecht von dem Eindruck getragen, mit den anderen nicht mithalten zu können; als Vergleichsfolie hat auch sie einen männlichen Wissenschaftler im Auge. Sie misst sich an einem Kollegen, der „jeden Tag im Büro zehn Stunden sitzt und natürlich eine ganz andere Publikationsliste (hat)“, und fürchtet, dass sie im Wettkampf um die wenigen vakanten Professuren am Ort gegen solche Konkurrenten ohne Zusatzbelastung durch Care-Arbeit chancenlos ist. Am Ende ihrer Überlegungen und Zweifel kommt sie zu dem Schluss, dass es keinen Sinn hat, weiter an diesem Wettbewerb teilzunehmen: „Bevor ich mit den inzwischen drei Kindern wirklich ewig arbeite, ’nen richtigen Stress mache und dann irgendwann mit knapp vor 40 feststelle, hat doch nicht geklappt, lass ich’s lieber bleiben und geh ’nen anderen Weg“. Schon im Zuge des Ortswechsels hatte sie sich parallel auch in der Industrie beworben, war dort aber erfolglos. Nach Entbindung des dritten Kindes unternimmt sie über den Weg einer Jobmesse einen erneuten Anlauf und bekommt bei einem Ingenieurdienstleister eine unbefristete Stelle angeboten, die sie nach kurzem Überlegen annimmt.
Für Lambrecht wie für Ruprecht wurde der Cooling-out-Prozess durch die Erfahrung ausgelöst, dass es zwischen ihrem ambitionierten Karriereziel und den Erfolgsaussichten im beruflichen Feld eine große Ungewissheitszone gibt, auf die sie sich nicht einlassen wollten. Dabei spielt weniger eine Rolle, ob die beiden ihre Karrierechancen realistisch eingeschätzt haben, als der Umstand, dass sie für den Umgang mit dem Hasard des wissenschaftlichen Berufs habituell offensichtlich nicht gut genug ausgerüstet sind. Diese Wahrnehmung hat bei beiden zu einer erheblichen persönlichen Krise geführt, die erst nach Auffinden einer für sie versöhnlichen beruflichen Alternative bewältigt werden konnte. Eine wichtige Rolle spielte dabei das Finden eines Narrativs, mit dem sie das Scheitern an den eigenen Ansprüchen zugleich als Stärke beschreiben konnten – der Stärke nämlich, dass sie selbst es waren, die zu einer realistischeren Einsicht ihrer Möglichkeiten gelangt sind. Lambrecht, der mit der festen Überzeugung in die Wissenschaft gestartet ist, „in der akademischen Laufbahn (zu) bleiben“, trifft die Erkenntnis, in diesem Feld keine Anerkennung zu finden, ausgesprochen hart und lässt ihm seinen eingeschlagenen Berufsweg sinnlos erscheinen. Er fragt sich: „Was mache ich hier? Weshalb bin ich Biochemiker und promoviere, wenn das Ergebnis keine Professur sein soll? [...] Was mache ich denn dann mit meinem Leben?“ Im Lauf dieser Auseinandersetzung gelangt er zu der Erkenntnis, dass sein eigentliches Interesse gar nicht das Erzeugen, sondern die Rezeption von (bereits bestehendem) Wissen ist: „Ich hab’ gemerkt, mir reicht es, über die Dinge zu erfahren [...], an einem guten Seminar teilzunehmen und einem spannenden Vortrag zuzuhören oder ein Paper zu lesen, das gut und spannend geschrieben ist“, beschreibt er diesen Prozess der gedanklichen Umorientierung. Am Ende sucht er systematisch nach beruflichen Alternativen, die bei ihm einen Reiz auslösen. Er recherchiert nach „großen Organisationen“ und „großen Initiativen“ sowie „diesen ganzen supranationalen Sachen“ und fragt sich: „Könnte ich mich hier sehen?“ Das Renommee seines potenziellen Arbeitgebers scheint ihn in gewissem Maße mit einer abgebrochenen Wissenschaftskarriere zu versöhnen und das Versprechen zu bergen, im Zentrum relevanter, beachteter und sozial anerkannter Arbeit zu stehen, anstatt kaum wahrgenommen in der wissenschaftlichen Peripherie zu verbleiben. Als gelöst empfindet er die Krise, nachdem er für seine Zukunft „diesen Begriff Wissenschaftsmanagement gefunden und definiert hatte“. Damit war es ihm möglich zu „differenzieren zwischen ‚ich will selber die Wissenschaft vorantreiben oder das wissenschaftliche Umfeld gestalten‘“ und „plötzlich [zu merken], ‚ja, das ist das wissenschaftliche Umfeld, das ich gestalten will‘“.
Hier zeigt sich, dass ein erfolgreich bewältigtes Cooling out mit dem Erwärmen für eine Alternative oder – allgemeiner gefasst – mit dem Finden eines neuen Selbstbildes einher geht, worauf bereits Goffman (
1952) hingewiesen hat. Deutlich kommt dieses Zusammenspiel auch im Fall von Ruprecht zum Ausdruck. Als sie das Ausmaß der Ungewissheit eines Karriereerfolgs in der Wissenschaft sowie die damit verbundenen Einschränkungen für ihr privates Leben realisiert, freundet sie sich mit den Vorzügen eines geregelteren Berufslebens außerhalb der Wissenschaft an. Der Janusköpfigkeit von geistiger Autonomie und Unsicherheit, Internationalität und Mobilität im „akademischen Leben“ stellt sie ein Modell des „guten Lebens“ mit eher traditionell anmutenden Werten der Familie – „also ich würd’ jetzt nicht die Kinder gegen ’ne wissenschaftliche Karriere tauschen“, sagt sie –, der sozialen Integration und materiellen Annehmlichkeiten entgegen. Sie vergleicht ihre Freundeskreise, den alten, akademischen, in dem sich viele Gespräche um Existenz- und Zukunftssorgen drehen – „immer wie geht’s weiter, für alle auf ’nem ganz existenziellen Level“ –, mit dem neuen, der sich vor allem aus Kolleg*innen ihres Mannes zusammensetzt und wo „man [...] sich darüber (unterhält), wer am Wochenende im Konzert war oder wo man gut mit den Kindern ’nen Ausflug hinmachen kann und weiß ich nicht. Dann gibt’s welche, die haben ihr Boot oder einer ist glaub’ ich Segelflieger, und das sind so die Themen, man erzählt sich sowas und man hat Hobbys, die man entwickelt“. Parallel reflektiert sie ihre Erfahrungen in der Wissenschaft und kommt ganz ähnlich wie Lambrecht zu dem Ergebnis, dass das, was ihr an der Arbeit Freude macht, nicht die wissenschaftliche Tätigkeit im engeren Sinn ist, sondern das Arbeiten im Team und die praktischen Tätigkeiten, das Organisieren und Koordinieren. „Das Geschriebene“, resümiert sie, „spricht nicht so dolle zu mir“. Vom Zauber, den die Teilchenphysik noch als Teenager auf sie ausgeübt hatte, ist nun keine Rede mehr. Stattdessen wird der ursprüngliche Anspruch auf ein umfassendes Verständnis der Welt zu einem Interesse an überschaubaren Aufgaben und am Lösen von alltagspraktischen Problemen umgedeutet.
Mit Goffman (
1952) und an ihn anschließend Clark (
1960) ließen sich diese Cooling-out-Fälle für Felder mit hochselektiven Karrierebedingungen, wie es in der Wissenschaft der Fall ist, als typisch einordnen. Im Fall von Lambrecht wird das Cooling out vor allem infolge von Passungsproblemen ausgelöst, die aus den veränderten Arbeitsbedingungen im Zuge des institutionellen Wandels (Jansen
2007; Matthies und Torka
2019) resultieren und zu einer Umwertung dessen führen, was als symbolisches Kapital anerkannt wird. So sieht Lambrecht sich zwar als hoch motivierten Forscher, doch die neue Erwartung an die performative Inwertsetzung von Leistung kann er nicht erfüllen. Eine erfolgreiche wissenschaftliche Karriere erscheint ihm deshalb aussichtslos. Im Fall von Ruprecht erwachsen die Probleme der Passung aus dem Grundkonflikt zwischen familiärer Reproduktion und dem tradierten Verständnis von Wissenschaft als Lebensform (Mittelstrass
1997, S. 15 f.), der infolge der Bedeutungszunahme von quantitativen Leistungsindikatoren im wissenschaftlichen Feld (Jungbauer-Gans und Gross
2013; Lutter und Schröder
2016) ein noch größeres Gewicht bekommen hat. Nüchtern konstatiert sie, „man gehört der Arbeit [dann] nicht mehr mit Leib und Seele“ und verweist damit (implizit) auf die institutionalisierte Erwartung, dass die wissenschaftliche Arbeit „nicht
neben dem privaten Leben statt[zufinden hat], sondern
in ihm“ (Matthies
2006, S. 157 Herv. i. Orig.), während alles andere der wissenschaftlichen Tätigkeit unterzuordnen ist.
Zugleich weichen diese Fälle von einem typischen Cooling out bei Goffman ab, weil die Diskrepanz zwischen Rollenerwartungen und Rollenerfüllung von den Subjekten selbst erkannt wird und sie sich gleichsam „selbst auskühlen“
11 und ihre Maßstäbe für beruflichen Erfolg an ihre habituellen Dispositionen anpassen. Gleichwohl lässt sich an dieser Konstellation das befriedende Moment von Cooling out studieren, das Goffman (
1952) als dessen wesentliche Funktion hervorhebt. Beide Protagonist*innen lasten die Ursachen für ihre unzureichende Passung in hohem Maße sich selbst an. Eine kritische Reflexion gegenüber den exkludierenden Strukturen des wissenschaftlichen Feldes findet allenfalls unterschwellig statt, etwa wenn Ruprecht erwähnt, wie sehr die Ungewissheit eines beruflichen Erfolgs in der Wissenschaft die Kommunikation unter Kolleg*innen bestimmt. Ob jedoch die Anforderung einer performativen Inwertsetzung von Leistung für den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess notwendig oder hilfreich ist – so im Fall Lambrecht – oder ob eine Vergesellschaftungsform angemessen ist, in der berufliche Leistungen (symbolisch wie materiell) eine höhere Wertigkeit haben als Leistungen zur Reproduktion (Becker-Schmidt
2003), wird nicht hinterfragt.
4.2 Selbstwirksamkeitsbedürfnis kollidiert mit Strukturen der Arbeitsorganisation – Cooling out als Versuch der Selbstbehauptung
In der zweiten Konstellation entwickelt sich das Mismatch zwischen Habitusdispositionen und beruflichen Anforderungen aus einem ausgeprägten Drang nach Selbstwirksamkeit
12 und Selbstbehauptung, der sich an den (hierarchischen) Strukturen und Regeln der Arbeitsorganisationen reibt. Die hier versammelten Fälle haben einen hohen Gestaltungsanspruch und geraten damit immer wieder in das Fadenkreuz organisationaler Restriktionen. Es ist also weniger ein bestimmtes Berufsfeld, an dem sich für die Akteur*innen dieser Konstellation die Nichtpassung festmacht, als vielmehr eine spezifische berufsübergreifende Form der Arbeitsorganisation. Folglich repräsentieren die Fälle ganz unterschiedliche Berufe und haben mitunter auch schon einen oder mehrere Berufswechsel hinter sich.
Mit Blick auf biographische Prägungen fällt auf, dass die Befragten in dieser Mismatch-Konstellation eine konfliktbeladene Kindheit erlebt haben – sei es, dass sich gegen eine strenge und wenig empathische Mutter durchgesetzt werden musste, dass man sich unter einem autoritären Vater zu behaupten hatte, der einem vermittelte, als Mädchen weniger wert zu sein als die männlichen Geschwister, dass man vom Vater verprügelt wurde, während die Mutter schweigend daneben stand, oder dass man von der Mutter zu den Großeltern abgeschoben wurde, weil der neue Lebenspartner nicht mit einem Kind zusammen leben wollte. Derlei Erfahrungen sprechen dafür, dass der Drang nach Selbstbehauptung auf einem bereits frühzeitig ausgebildeten Überwindungsmotiv fußt, wobei die Akteure in ihrem Tun mitunter einen enormen Ehrgeiz entwickeln und zuweilen auch eine ausgeprägte Härte gegen sich selbst an den Tag legen.
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Auffällig ist außerdem, dass die Narrative der Interviewten in diesen Fällen einen starken Glauben an die eigenen Fähigkeiten zum Ausdruck bringen. Sie bezeichnen sich als schlau, findig, kompetent, unerschrocken, zupackend oder kommunikationsstark und haben diese Selbstsicht bereits während der Schulzeit ausgebildet. Ein Hochschulmanager berichtet beispielsweise, dass er aufgrund seiner guten Leistungen auf dem Gymnasium von seinen Mitschülern als „Professor“ bezeichnet wurde; ein Politikberater hebt hervor, dass er die Schule einschließlich des Abiturs „mit geringem Aufwand“ geschafft habe. Für einige war die Schule allerdings auch ein konfliktbehafteter Ort, von dem sie sich abgrenzen. Eine Wissenschaftlerin etwa wurde in der siebten Klasse vom Gymnasium „runter geschmissen“ und kurz darauf auch von der Realschule, weil sie mit den Lehrern „konstant im Krieg“ war – eine Attitüde, die sich offensichtlich im Zuge permanenter Gewalterfahrungen mit dem Vater ausgebildet hatte. Sie hat sich stattdessen auf ihre eigene Art und Weise weitergebildet, hat „sehr sehr früh angefangen zu lesen [...] Philosophie, Politik, Biologie, alles [...] bestimmt pro Woche zwischen fünf und sieben Bücher“.
Neben dem starken Gestaltungswillen weisen die Handlungsstrategien dieser Protagonist*innen einen latenten Hang zur Selbstermächtigung auf, der sich auch in bewussten oder unbewussten Regelverstößen äußert. „Wenn ich jemand fragen würde, da würde der sagen, ‚das geht nich’‘, also frag’ ich nich’“, fasst etwa eine Sozialarbeiterin ihre diesbezügliche Haltung zusammen. Ähnlich beschreibt sich eine Ingenieurin als jemand, die keine Scheu vor der Obrigkeit hat. Mit gewissem Stolz schildert sie im Interview, wie sie mit blau gefärbten Haaren zu einer Betriebsfeier erschienen ist und ihre Vorgesetzten dort mit der Behauptung provozierte, das Unternehmen am Tag zuvor im gleichen Outfit auf einer internationalen Konferenz vertreten zu haben. Im Anschluss an Goffman kann man hier von einer gewissen „Systematizität des Unanständigen“ (Willems
1997, S. 229) sprechen, die womöglich aus einem Vergeltungsdrang gegenüber dem Elternhaus herrührt.
Schon die Berufswahl scheint eher von dem Wunsch geprägt, sich gegen elterliche Bevormundungen aufzulehnen, als dass sie einem ausgeprägten Sachinteresse folgte. Die Entscheidung für ein technisches Studium trotz der damit verbundenen Kürzung des elterlichen Unterhaltsgeldes begründet die Ingenieurin beispielsweise mit dem Bedürfnis, gegen den autoritären Vater zu opponieren, während die konkrete Fächerwahl dem Zufall überlassen wird: „Zwei war’n NC-frei und dann hab’ ich ausgezählt“.
Ähnlich erscheint das berufliche Feld im Lichte der Selbstbeschreibungen weniger als Ort des geregelten Leistungsaustausches denn als Arena im Kampf um Selbstbehauptung. Konflikte, die infolge des eigenmächtigen „Sich-Raum-nehmens“ und „Relevantsetzens“ entstehen, werden von den Fällen als Limitierung ihrer Handlungsmöglichkeiten und als Missachtung ihres Potenzials gedeutet. Die bereits erwähnte Ingenieurin beschreibt ihr Problem mit dem Arbeitsfeld bspw. so: „Es is’ wirklich so, dass ich manchmal denke, ich renne immerzu gegen an. Ich mache eigentlich die Sachen gut, ich mach’ sie anders.“ Dabei zeigt sich bei den Frauen zuweilen eine Doppelstrategie sowohl einer Abgrenzung gegenüber den männlichen Berufskollegen als auch einer gegenüber der eigenen Genusgruppe, wie die folgende Selbstbeschreibung der Ingenieurin zum Ausdruck bringt: „Ich bin nich’ die Ingenieurin, die mitläuft [...], ich war immer ’n bisschen kreativer als die ander’n [...] ich bin auch nich’ die typische Fraueningenieurin, weil ich nich’ in die Männerrolle schlüpfe, sondern meine Rolle versuche zu behalten“. Niederlagen in diesem Wettstreit werden als Probleme des Berufsfeldes gedeutet, mit solchen Vorzügen umzugehen, etwa „weil Männer Sündenböcke suchen“ oder weil die Institutionen die besonderen Kompetenzen der hier betrachteten Protagonist*innen nicht zu schätzen wissen.
Für die Fälle dieser Cooling-out-Konstellation gehören Mismatch-Erfahrungen gewissermaßen zum Berufsalltag. Folglich blicken die hier versammelten Akteur*innen auf wiederholte, gleichsam wellenförmig auftretende Cooling-out-Prozesse zurück, die allerdings kaum zu einer Änderung des Selbstbildes führen. Auf eine Phase der Enttäuschung und Motivationsabnahme, die zumeist infolge eines spontanen Ereignisses oder bereits länger gärenden Konflikts eintritt, folgt in der Regel ein „try again“ (Wei
2016) dergestalt, dass die Akteur*innen sich einen anderen Arbeitsplatz oder ein neues Tätigkeitsfeld suchen, von dem sie sich mehr Freiraum für ihre berufliche Entfaltung versprechen.
Am Beispiel der Werdegänge der Sozialarbeiterin Barbara Henckes und des IT-Beraters Steffen Ammermann soll dieser wellenförmige Verlauf nun expliziert werden. Beide Protagonist*innen wachsen in einem von Emotionslosigkeit und Pflichterfüllung geprägten Elternhaus auf, wenngleich ihre Ausstattung mit kulturellem Kapital sich erheblich unterscheidet: Henckes Eltern sind beide Ärzt*innen, Ammermanns Vater ist ungelernter Stahlarbeiter und die Mutter Hauswirtschaftsgehilfin.
Henckes Drang nach Selbstwirksamkeit bildet sich schon frühzeitig aus. Zum einen leidet sie unter der Strenge und moralisierenden Einengung der stark religiös orientierten Mutter und entwickelt dagegen Auflehnungsstrategien, zum anderen muss sie sich als einziges Mädchen gegen vier Brüder durchsetzen. Mit einer „Rasselbande“ anderer Kinder zieht sie durch die Straßen und treibt allerlei Unfug, weshalb sie aus erzieherischen Gründen von ihren Eltern auf eine katholische Mädchenschule geschickt wird, die sie als „Horror“ erlebt. Gegen den Willen der Mutter bricht sie mit Sechzehn die Schule ab und beginnt eine Lehre als Buchhändlerin. Eine Affinität zu Büchern hat sie durch ihren Großvater entwickelt, der ein „Dichter-Freak“ war, aber auch durch die Mutter, die sie auch mal zu schwieriger Lektüre animiert hat. Hinzu kommen bei der Entscheidung pragmatische Erwägungen: „Weil ick schon immer Nachteule war und lange jeschlafen hab’“, sagt sie, kam nur ein Beruf in Frage, bei dem die Arbeit erst später am Morgen beginnt.
Nach Abschluss der Lehre geht Henckes als Au-pair nach Paris, um endlich der Enge des elterlichen Zuhauses zu entkommen. Dort gerät sie jedoch an eine „grauenhafte Familie“, wird „sofort krank“ und muss wieder zurück nach Hause, wo sie ihre Optionen abwägt: „Soll ich im Buchhandel arbeiten? Nee. Also studier’n!“ – eine Schlussfolgerung, die angesichts des nicht vorhandenen Abiturs überrascht, vor dem Hintergrund des akademischen Elternhauses jedoch einen gewissen Sinn ergibt. Scheinbar streng rational klopft sie die objektiven Möglichkeiten und Konsequenzen ab und kommt am Ende zu dem Ergebnis: „Na ja, natürlich Sozialarbeit!“ Die Entscheidung trifft sie, weil man da „wenig tun muss“.
Als Ausbildungsstätte wählt Henckes eine katholische Institution und begründet das damit, dass sie denen aufgrund ihrer schulischen Erlebnisse noch was heimzahlen wollte. „Und so war’s auch. […] Gleich Rote Zelle“, beschreibt sie triumphierend ihren Studienbeginn. Für das Studium bleibt angesichts des politischen Aufbegehrens nicht viel Zeit, die erforderlichen Leistungen schüttelt sie sich mit Minimalaufwand „aus’m Ärmel“, sodass sie erst im Berufspraktikum „richtig gelernt (hat), was Sozialarbeit is’“.
Zunächst macht der neue Beruf „richtig Spaß“. Die erste Stelle in einer Kindertagesstätte bietet Gestaltungsmöglichkeiten und wird von Henckes mit den Worten bewertet: „Ich konnte sozusagen mich da ein bisschen entfalten“. Doch mit der Zeit stößt sie dabei auch an Grenzen und nach etwa eineinhalb Jahren stellt sich das Gefühl ein: „reichte“. Sie wechselt in die Elternarbeit und findet dort die offene Beratung „herrlich“ – bis eine neue Amtsleitung eingesetzt wird und auf das Einhalten von behördlichen Vorgaben wie etwa Vergaberichtlinien pocht, „allet mit drei Kostenvoranschlägen“, was Henckes als beengend empfindet und den Gedanken aufkommen lässt: „Ach eig’ntlich könnte ma’ wieder was anderes komm’n“. Nach vier Jahren Tätigkeit auf dieser Stelle kündigt sie und lässt sich von einem ehemaligen Kollegen für einen neu eröffneten Buchladen anheuern, „natürlich linksliberal“. Dort langweilt sie sich aber schon bald und als irgendwann auch noch die Geschäfte schlechter gehen, besinnt sie sich darauf, dass sie ja noch einen zweiten Beruf hat. Sie bewirbt sich für die stellvertretende Leitung einer heilpädagogischen Einrichtung und setzt sich dort „gegen ziemlich viele Bewerbungen durch“. Das gibt ihr neuen Elan und lässt sie sogar in Kauf nehmen, verbeamtet zu werden, was sie eigentlich nie wollte. Allerdings ist das Verhältnis zu den Vorgesetzten auch hier konfliktbehaftet, die Heimleiterin „schwierig“. Vor allem missfällt es Henckes, dass sie sich „unterordnen muss“. Viele Jahre kompensiert sie ihren Unmut durch die Arbeit mit den Jugendlichen und diverse Weiterbildungen, die sie als regelrechten Qualifizierungsschub erlebt und die ihr das Gefühl der fachlichen Passung vermitteln: „Da ha’ ick geseh’n, kann ick allet“. Irgendwann aber empfindet sie die Arbeit als „wieder so kleinkariert“ und sich selbst in ihren Möglichkeiten limitiert. „Ich war ein bisschen reduziert“, fasst sie ihr Befinden zusammen. Nach acht Jahren lässt sie sich schließlich von einer Freundin überreden, zu ihr an eine Fachhochschule zu kommen und dort die Fort- und Weiterbildung zu organisieren. Vor dem Hintergrund ihrer bisherigen Erfahrungen der Restriktion und eingeschränkten Handlungsfähigkeit entscheidet Henckes allerdings: „Ick mach nur mit halber Stelle“. Die andere Hälfte will sie freiberuflich arbeiten. Finanziell schien ihr das machbar, denn die Arbeit war nicht schlecht dotiert und ihre Lebenshaltungskosten nicht so hoch. Aber auf der Stelle selber geht es ihr diesmal „richtich dreckich“. Mehr noch als bisher sieht sie sich hier in ihren Handlungsmöglichkeiten eingeengt. Als besonders schmerzvoll erlebt sie den Umgang mit einem von ihr entwickelten Vorschlag zum institutionellen Ausbau der Weiterbildung. Nicht nur, dass sich dessen Bearbeitung in die Länge zieht, am Ende muss sie sich dafür auch noch „abkanzeln lassen“. Daraufhin hat sie „kein’ Bock, da hin zu geh’n“ und macht erstmals in ihrem Leben auf einer Arbeitsstelle „blau“. Nachdem sie die Arbeit wieder aufgenommen hat, schwankt sie zwischen Auflehnung und Rückzug, Frechheit und Abgestumpftheit, was sie aber zunehmend ermüdet. „Det war so anstrengend, dat Frechsein“, resümiert sie. Hinzu kommt, dass sie aufgrund ihres Beamtenstatus die freiberufliche Nebentätigkeit nicht im gewünschten Umfang ausüben darf, worüber sie sich ebenfalls empört: „Da hab’ ich diese Fessel so richtich gemerkt, dass mich da der Status hindert, det zu machen, wat ick will, ja. Frechheit“. In Anbetracht dieses sie lähmenden Zustands kommt sie nach acht Jahren zu dem Schluss: „Du musst kündigen!“ Sie sucht aktiv nach anderen Optionen und lässt sich schließlich, nunmehr 51-jährig, auf Anraten eines Coaches „aus arbeitsmarktpolitischen Gründen“ beurlauben. Über das Angebot eines Berufskollegen erschließt sie sich das Feld der Supervision und beginnt, in einer gemeinsamen Praxis mit ihm freiberuflich als Beraterin und Coachin tätig zu sein – ein Schritt, den sie als befreiend beschreibt.
Steffen Ammermanns Selbstwirksamkeits- und Selbstbehauptungsdrang lässt sich zum einen ebenfalls auf das Bedürfnis zurückführen, das als hart und deprimierend erlebte Herkunftsmilieu zu überwinden, zum anderen aber auch auf einen dort ausgebildeten Klassenethos und Prinzipien der Solidarität und Fairness, die er sich bewahren möchte. Sieht er diesbezüglich Verletzungen, nimmt er eine widerständige Haltung ein und tritt, in Umkehrung eines berühmten Zitats
14, „nach oben“ oder – in seinen Worten – sagt, „dass das Scheiße is’“. Dadurch kommt es immer wieder zu Konflikten mit Vorgesetzen: „kommt nich’ gut an“, wie er etwas untertreibend resümiert.
Ammermann wächst in einer Kleinstadt auf, „so ’ne Arbeitersiedlung“, wo er und sein zwei Jahre älterer Bruder „die einzigen [war’n], die da studiert haben“. Aber erst einmal besucht er die örtliche Schule und lernt im Anschluss an den Hauptschulabschluss „’n Handwerk“, im Stahlwerk, wo schon Vater und Großvater gearbeitet haben. Während der Ausbildung wird er zum Jugendvertreter gewählt und setzt sich für gute Arbeitsbedingungen ein. Nach dreieinhalb Jahren schließt er die Ausbildung als Energieanlagenelektroniker ab und wird vom Betrieb übernommen, aber aufgrund der damaligen Stahlkrise „nich’ im Beruf, also direkt an’n Hochofen dann“, wo Teamgeist, Zusammenhalt, Vertrauen und Solidarität gewissermaßen Überlebensprinzip sind. „Also wenn du da ’n Fehler gemacht hast“, so Ammermann, „haben alle drunter gelitten“.
Das Stahlwerk ist in Ammermanns Narrativ die einzige berufliche Station, in der er zwischenmenschliche Kontakte als vollumfänglich positiv beschreibt, die Vorgesetzten eingeschlossen. Es ist der Ort, der ihn stark geprägt hat und der als Referenzfolie für sein späteres berufliches Leben dient. Dennoch will er dort weg. Denn das Milieu hat auch Schattenseiten, „diese [Schichtarbeit], Dreck und alles“. Bekräftigt wird sein Drang zum Milieuwechsel durch seinen Vorgesetzten, der ihm rät, etwas aus seinem Leben zu machen und ihm auch das intellektuelle Potenzial dazu attestiert: „Der war ’n Türke und der sachte, ‚Junge, sieh zu, mach irgendwas, du bist doch nich’ doof, lern was, geh hier weg‘.“
Erst einmal geht Ammermann zur Bundeswehr. Eigentlich wollte er verweigern, aber er fürchtet, dass das eine längere rechtliche Auseinandersetzung nach sich ziehen und die Suche nach einem anderen Arbeitsplatz erschweren würde. Am letzten Tag des 18-monatigen Wehrdienstes verweigert er dann doch, damit er später nicht zu Reserveübungen eingezogen wird. Beruflich landet er danach wieder im Stahlwerk, weil die Bewerbungen als Elektriker nicht geklappt haben, „natürlich nich’“, sagt er, als wäre das ein vorgezeichnetes Schicksal gewesen. Doch sein Wunsch, vom Stahlwerk wegzukommen, besteht immer noch, zumal die Schattenseiten dort noch deutlichere Konturen angenommen haben. Einige Kollegen erlebt er nun als so „fertig“, dass sie schon am Morgen zur Schnapsflasche greifen und „denn da durch die Halle getorkelt sind, wo wir manchmal Angst hatten, dass die in ’n Schacht fall’n“. Und als er sich eines Tages dabei ertappt, in seinem Privatleben Verhaltensweisen an den Tag zu legen, wie er sie von seinem Vater kennt, sagt er sich, „so, jetz’ musste hier aber sofort raus“. Auslöser war, dass er seine Freundin angeschrien hat, weil sie ihn nach einer Nachtschicht versehentlich geweckt hatte. „Das war denn wie so ’n Filmriss, wo ich dachte, halt, diese Situation kennste doch, ja, das war das, was ich früher von mei’m Vadder erlebt hab’ […] und das war so denn der Punkt, wo ich gesacht hab’, irgendwie raus. […] ich bin jetz’ zwanzich und so, das kann nich’ die Welt sein“.
Über Bekannte erfährt Ammermann von der Möglichkeit, an einer bestimmten Hochschule über ein Aufnahmeverfahren zum Studium zugelassen zu werden. Diese Option ergreift er, sagt sich, „einfach ma’ probier’n“, und bereitet sich gründlich auf die Prüfung vor. Mit Erfolg: Im Jahr darauf kann er das Studium beginnen. Zur Finanzierung bekommt er sogar ein Stipendium von einer gewerkschaftsnahen Stiftung, das ihm allerdings nach drei Semestern „wegen Abweichlertum“ gestrichen wird. Diese Disziplinierungsmaßnahme veranlasst ihn nicht zur Anpassung, sondern bestärkt ihn eher in seiner Haltung: „Dann hab’ ich gesacht, ihr könnt mich mal, ich bin Elektriker“. Er greift auf seine handwerkliche Kompetenz zurück und verdient sich seinen Lebensunterhalt mit Altbausanierungen, die er neben dem Studium durchführt.
Das Studium selber „war gleich super. […] das war gut investiertes Geld“, sagt Ammermann mit Blick auf die Kosten, die er dafür auf sich genommen hat. Er spricht damit vor allem die soziale Dimension an, die sich für ihn als gar nicht so fremd entpuppte, wie er befürchtet hatte. Denn an der Universität trifft er auf seinesgleichen, Leute, die ebenfalls schon im Berufsleben gestanden haben. Das Studienfach – als Hauptfach wählt er Soziologie – scheint demgegenüber zweitrangig zu sein; in der Selbstbeschreibung seines Werdegangs findet es kaum weitere Erwähnung. Auch dass er sich nach Abschluss des sechssemestrigen Studiengangs am gleichen Ort an einer Universität für die Fortsetzung des Soziologiestudiums einschreibt, hat eher pragmatische Gründe, nämlich „zwei Auslandssemester“ zu machen, wie er es nennt, und in das Mutterland der Eltern seiner Frau zu reisen. Wieder zurück wechselt er in die Sportwissenschaft, worauf ihn ein Bekannter gebracht hat, der das auch machen wollte, um hinterher in der Gesundheitsprävention zu arbeiten. „Das war damals grade so ’n Trend“, sagt Ammermann. Seinen Lebensunterhalt verdient er sich die ersten zwei Jahre als Sozialarbeiter in einem Jugendheim und im letzten Studienjahr als Manager eines Sportvereins. Nach sechs Semestern schließt er, inzwischen 30-jährig, das sportwissenschaftliche Studium mit dem Diplom ab. Thema seiner Diplomarbeit sind die gesundheitlichen Auswirkungen der Schichtarbeit, womit er noch einmal seinen beruflichen Wurzeln im Stahlwerk huldigt.
Als nunmehr diplomierter Sportwissenschaftler findet Ammermann bei einer Krankenkasse eine Stelle als Fachbereichsleiter für gesundheitliche Prävention. Zu seinen Aufgaben gehören Projekte wie „gesund alt werden“, in die er mit viel Engagement und großem Gestaltungsanspruch einsteigt. Doch schon bald empfindet er sich vom Gros der Mitarbeiter*innen ausgebremst. Das waren Sozialfachangestellte, sogenannte „Sofas“, berichtet Ammermann, „und wie der Name sacht, so verhalten die Leute sich auch“. Vorschläge, die er zusammen mit anderen Akademikern aus dem Kolleg*innenkreis zur Verbesserung von Arbeitsabläufen unterbreitet, stoßen auf wenig Gegenliebe. Als der Arbeitsbereich infolge der Gesundheitsreform aufgelöst wird und Ammermann ins Marketing versetzt wird, hat er folglich zunächst auch kein Problem damit. „Also Marketing war schon interessant [...] man hätte was draus machen können“, sagt er. Doch macht ihm nun sein neuer Vorgesetzter und dessen Umgang mit der Belegschaft zu schaffen: „Das war’n Choleriker“. Im Kontrast dazu beschreibt Ammermann sich als Mann mit Rückgrat, der als einziger intervenierte („keiner traute sich was zu sagen“), wenn der Chef seinen „herabwürdigend[en]“ Umgang an den Tag legte. Irgendwann „eskalierte“ der Konflikt, Ammermann bekommt Telefonverbot und seinen Kolleg*innen wird untersagt, mit ihm zu reden. Über einen Rechtsanwalt setzt er durch, bei Fortzahlung seiner Bezüge freigestellt zu werden, bis die vom Arbeitgeber veranlasste Kündigung rechtswirksam wird – eine Lösung, die Ammermann im Rückblick als trickreich und als Erfolg rahmt. Dem Beschäftigungsverhältnis trauert er nicht nach, weil das „extrem Feudalherrschaft [war] […] also ich hatte da nie ’ne reelle Chance, dass ich da hätte überleben könn’n“.
Veranlasst und finanziert durch das Arbeitsamt macht er unter dem Titel „Akademikerpotentiale sichern“ nun eine Fortbildung zum Projektmanager in der IT-Branche. Im Gegensatz zur Gesundheitsbranche erhofft er sich hier bessere Zukunftschancen. Zunächst arbeitet er in einer kleinen Firma, wo er schon während der Fortbildung ein Praktikum gemacht hat. Dort fühlt er sich wohl, weil er weitgehend frei Dinge in Bewegung setzen kann: „Da war ich Chef“, beschreibt er seine dortige Stellung, und als sich die Eigentümer nach drei Jahren zerstreiten und das Unternehmen auflösen, versucht Ammermann, das Unternehmenskonzept in etwas abgewandelter Form in Eigenregie fortzuführen. Nach zwei Jahren muss er allerdings feststellen: „Es rechnet sich nicht“. Er beginnt eine neue Angestelltentätigkeit in einem IT-Unternehmen, diesmal als „Vertriebler“, was etliche Jahre auch gut läuft. Es gelingt ihm, ein Verkaufsgebiet aufzubauen, das sich sehen lassen kann, was er auf seine kommunikativen Fähigkeiten und seine redliche Art im Umgang mit den Kunden zurückführt. In der Beschreibung charismatisiert er sich als „Telefonsau“, als jemand, „der sehr stark im Telefonieren“ ist und dennoch keine unlauteren Geschäftsmethoden anwendet: „Ich hab’ die Leute nich’ über’n Tisch gezogen“. Dann vergrößert sich die Firma durch einen Unternehmensaufkauf, es wird umstrukturiert und von Ammermann werden Verkaufszahlen erwartet, die er für unrealistisch hält. Zudem empfindet er die strengen Vorgaben als Abwertung seiner bisherigen Leistung und als Vertrauensdefizit ihm gegenüber. Das verletzt seinen Stolz und er kündigt. Ein anschließendes Angebot der Geschäftsführung, mehr Freiraum zu bekommen, schlägt er aus; eine weitere Zusammenarbeit ist für ihn aufgrund der erfahrenen Abqualifizierung seiner Leistung undenkbar.
Doch Ammermanns Versuch der Selbstbehauptung läuft gewissermaßen ins Leere. Auch beim nächsten Arbeitgeber wird er mit Verkaufserwartungen konfrontiert, die aus seiner Sicht nur mittels unlauterer Praktiken zu erfüllen wären. Anstatt sich erneut aufzulehnen, reagiert er dieses Mal allerdings mit einer stillen Verweigerungshaltung: Er macht sein Hobby zum Beruf und klappert, teils auch während der Arbeit, Flohmärkte ab. Seine Verkaufszahlen gehen in der Folge runter statt rauf und Ammermann wird zu einem Gespräch bei der Geschäftsleitung zitiert, dessen Verlauf er folgendermaßen wiedergibt: „...und dann eskalierte das so jetz’, dass die Leute gesacht hab’n, ‚Sie sind gar nich’ mehr so bei der Sache und irgendwie so die Erfolge, wir wissen nich’, ob sie nächstes Jahr noch erfolgreich sein werden.‘ Mein’ ich, ‚jo, ich werde nich’ erfolgreich sein‘, ja und ‚denn müssen wir uns trennen. Tschüss!‘, ja und denn wurd’ ich dem freien Markt wieder übergeben“. Ein Einlenken zog Ammermann auch dieses Mal nicht in Betracht, das hätte er als Demütigung empfunden, was seiner Grundhaltung zutiefst widerspricht. Und um noch einmal zu unterstreichen, wie sehr er mit seiner Haltung im Recht war, fügt er hinzu: „Weil ich weiß, ich werde dann nich’ mehr erfolgreich sein, auch wenn ich hundert Prozent oder noch mehr geben würde, der Markt gibt’s einfach nich’ mehr her“. So wird Ammermann im Rahmen der gesetzlichen Kündigungsfrist entlassen und bis dahin mit sofortiger Wirkung freigestellt. Binnen weniger Wochen findet er eine neue Beschäftigung, diesmal als Integrationshelfer in einer Sammelunterkunft für Flüchtlinge. Hier hofft er, mit seinen moralischen Ansprüchen besser aufgehoben zu sein, und gefällt sich dabei zugleich in der Pose des Aufmüpfigen: „Das is’ doch durch die Presse gegang’n mit diesen 6000 neuen Wohnungen“, berichtet er, „da steh’n doch die ganzen Anwohner auf den Barrikaden [...] und wir können da als Sozialarbeiter arbeiten – das wird schön“.
Dieses habituelle Element der Widerständigkeit im Drang nach Selbstwirksamkeit ist gleichsam idealtypisch für die Fälle dieser Konstellation. So erscheinen die beruflichen Werdegänge in der Gesamtschau als ein ewiger Kampf gegen die Widrigkeiten des Erwerbssystems – gespeist aus dem Anspruch, „wirksam in der Arbeit zu sein“ (Hardering
2017, S. 47), die Maßstäbe dafür aber, so gut es geht, selbst zu setzen, um ein „aufgeklärter Mensch“ zu bleiben und kein „Knecht des Kapitals“ zu werden, wie etwa Ammermann sein Credo beschreibt. Man könnte auch sagen, der in der Primärsozialisation erworbene Habitus dieser Akteur*innen ist derart robust, dass die berufliche Sozialisation hier permanent gegen die innere Akzeptanz anläuft. Entsprechend werden die erfahrenen beruflichen Probleme von den Subjekten nicht auf persönliche Defizite zurückgeführt, sondern dem Berufsfeld angelastet, das das Potenzial solcher Akteur*innen nicht zu nutzen weiß. „Ich war ein bisschen reduziert“, nennt das die ehemalige Sozialarbeiterin Henckes. Ausdruck dieser Deutung ist nicht zuletzt, dass etliche Interviewte ihren anschließenden beruflichen Weg als Triumph rahmen, getreu dem Motto: „Seht her, zu was ich fähig bin und was ihr Euch habt entgehen lassen“. Selbst wenn der berufliche Wechsel mit einem Statusverlust oder finanziellen Einbußen verbunden ist, erschüttert das Cooling out nicht ernsthaft den Glauben an den Selbstwert und die eigene Kompetenz. Was hier sukzessive „auskühlt“ ist vielmehr die Illusio, der Glaube, den Anspruch auf ein „Selbstsein“ im Beruf unter den gegebenen Verhältnissen in den gewöhnlichen Institutionen des Berufsfeldes einlösen zu können.
Auch in dieser Konstellation gestaltet sich der Cooling-out-Prozess weitgehend in Form des „Selbst-Auskühlens“, bei dem die Fälle sich gleichsam im Sinne einer inneren Kündigung von ihrem Commitment gegenüber der Organisation verabschieden. Dabei zeigen sich deutliche Parallelen zu Strategien des „Excusing“ und „Refusing“, die Fürst (
2016) bei Autor*innen im Umgang mit abgelehnten Manuskripten herausgearbeitet hat. „An excuse happens“, so Fürst (ebd., S. 163), „when the writer has accepted the occurrence of failure but does not claim full responsibility for having failed“, etwa weil die Bewertungskriterien unklar oder sogar falsch waren – eine Strategie, zu der sich vor allem im Fall Ammermann Parallelen finden. Im Unterschied dazu bezeichnet „Refusing“ das Verhalten einer Person, „who dismisses the failure and denies responsibility“ (ebd., S. 168) – eine Strategie, die u.a. stark auf den Fall Henckes zutrifft.