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15.07.2021 | Corona-Krise | Gastbeitrag | Online-Artikel

Der Clash der Systeme im Corona-Krisenmanagement

verfasst von: Dr. Frank Behrend

5 Min. Lesedauer

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Das Krisenmanagement muss nach Corona neu gedacht werden. Die Pandemie hat gezeigt, dass Politik, Wirtschaft und Wissenschaft vernetzt zusammenarbeiten sollten. Die Basis dafür bildet ein fundiertes Systemverständnis nach dem Cynefin Framework.

Die Pandemie zeigt uns: Politische Führung ist in Gesundheitskrisen stark von externer Beratung durch Fachexperten abhängig. So wurde Christian Drosten eines der bekanntesten Gesichter der Republik – und auch andere Virologen und Wissenschaftler entwickelten sich zu öffentlichen Meinungsbildnern. Auffällig waren vor allem zu Beginn der Krise die Unstimmigkeiten zwischen manchen Wirtschaftsvertretern, Politkern und Wissenschaftlern in Hinblick auf die zu treffenden Maßnahmen.

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Während die Wirtschaft den Kollateralschaden geringhalten wollte, versuchte das Krisenmanagement der Länder möglichst schnell Entscheidungen zu treffen; zeitgleich hoben Wissenschaftler immer wieder warnend den Finger: Die Erkenntnisse über das Virus seien noch nicht weit genug – täglich kämen neue Daten hinzu, die von der Politik beachtet werden müssten. Eine öffentliche Debatte über die Maßnahmen zur Virusbekämpfung entfachte.

Denksysteme mit dem Cynefin Framework verstehen

In diesem Beitrag geht es nicht um die Maßnahmen, sondern vielmehr um die Frage, warum Wirtschaft, Politik und Wissenschaft solche Differenzen hatten und haben – und wie ein fundierteres Systemverständnis helfen kann, diese Unterschiede besser zu begreifen sowie einen wertschöpfenden Dialog zu fördern. Mithilfe des sogenannten Cynefin Frameworks werden die Denksysteme beleuchtet, in denen sich Wirtschaft, Politik und Wissenschaft während der Corona-Krise befanden. Denn alle Seiten handelten aus unterschiedlichen Denksystemen heraus. Das von David Snowden und Mary Boone entwickelte Cynefin Framework (siehe Abbildung) hilft Verantwortlichen, Ausgangslagen zu klassifizieren und Entscheidungen auch unter Unsicherheit zu treffen – aus denen sich dann Lösungswege ableiten lassen.

Mit komplexen und chaotischen Situationen umgehen 

Dabei unterscheiden Snowden und Boone "klare, komplizierte, komplexe und chaotische" Ausgangslagen und ordnen diesen entsprechende Lösungsansätze zu. Einfach ausgedrückt: Das Cynefin Framework hilft uns, zu erkennen, dass nicht alle Situationen gleich geschaffen sind und dass verschiedene Situationen unterschiedliche Handlungsansätze erfordern, um sie erfolgreich zu meistern. Snowden und Boone kritisierten "die grundlegende Annahme der Organisationstheorie und -praxis: dass in der Welt ein gewisses Maß an Vorhersagbarkeit und Ordnung existiert" (2007). Wir simplifizieren viele Dinge, um sie begreifbar und lösbar zu machen. Diese Annahme ist in vielen Fällen auch passend. Nur: Wenn Systeme oder Rahmenbedingungen komplexer werden, ist Komplexitätsreduktion nicht immer der richtige Weg.

Die Politik: schnell wichtige Entscheidungen treffen

Bund und Länder befanden sich gemäß der Cynefin Framework-Definition in einer chaotischen Ausgangslage. Hier geht es darum, möglichst schnell wichtige Entscheidungen zu treffen, um eine Katastrophe abzuwenden. Welche Maßnahmen wirken und welche nicht, wird erst hinterher sichtbar – und dann entsprechend angepasst. Snowden und Boone schreiben hierzu: "Im chaotischen Bereich besteht die unmittelbare Aufgabe einer Führungskraft nicht darin, Muster zu entdecken, sondern die Blutung zu stoppen. Eine Führungskraft muss zuerst handeln, um Ordnung zu schaffen, dann wahrnehmen, wo Stabilität vorhanden ist und wo nicht, und dann reagieren [...]."(2007)

Oftmals wirken die Maßnahmen und Entscheidungen der Politik in solchen Situationen für die Bürger nicht nachvollziehbar. Aber im chaotischen Kontext müssen sich Verantwortliche an die Problemlösung herantasten – "handle, erkenne, reagiere". Als Beispiel nennen Snowden und Boone die Maßnahmen, die der Bürgermeister von New York nach den Terroranschlägen vom 11. September ergriff: Er musste schnell reagieren und viele Entscheidungen wurden scharf kritisiert, obwohl er sehr effektiv und effizient handelte. Der chaotische Kontext ist laut Snowden auch ideal für Verantwortliche, um Innovationen voranzutreiben.  

Die Wissenschaft: datenbasierte Handlungsempfehlungen

Die führenden Virologen und Epidemiologen hingegen befanden sich nach Cynefin in einem komplizierten Ausgangslagensystem, in dem evidenzbasierte Entscheidungsfindung wichtig war – und in dem darum Empfehlungen an die Politik immer wieder aktualisiert wurden, sobald neue wissenschaftliche Daten verfügbar waren. In einem komplizierten System ist Expertenwissen gefragt. Doch Experten machen etwas beschreibbar, nicht beherrschbar. Und hier liegt auch das Problem: Mehrere Lösungsansätze können richtig sein. So hat der Virologe Alexander Kekulé Studien zum Corona-Virus seines Fachkollegen Christian Drosten oftmals kritisiert – und umgekehrt. Und auch zwischen Virologen und Ökonomen entbrannte eine Debatte: Menschenleben oder Wirtschaft retten?

Die Wirtschaft: Die Chance der Krise nutzen

Für die Wirtschaft war die Situation dagegen komplex, weil sich alle Parameter und Entscheidungen hochdynamisch entwickelten und nicht vorhersehbar verhielten. Für viele Unternehmen ging es darum, am Leben zu bleiben. Andere nutzten die Krise, um zuvor auf die lange Bank geschobene Projekte zu realisieren und sich flexibler, digitalisierter und resilienter für die Zukunft aufzustellen. Digitalisierungsprojekte, für die manche Unternehmen vor der Pandemie Jahre benötigten, schafften sie nun in wenigen Wochen. Das gelang aber vor allem denjenigen Unternehmen, die bereit waren, sich auf Experimente einzulassen. Risikofreudige Macher, für die es hieß: "Do or Die". Ausprobieren, ohne das Resultat vorhersagen zu können, ist genau der richtige Ansatz für Unternehmen in komplexen Situationen. Die Gefahr besteht hier, wenn Verantwortliche zurück in ihre Best-Practice-Denkweise fallen und versuchen, die Situation zu kontrollieren.

Fazit: Systemkontexte verstehen lernen

Die Pandemie hat deutlich gemacht, in welch unterschiedlichen Denk- und Handlungssystemen unsere moderne Gesellschaft strukturiert ist. Und auch wenn wir Menschen es uns gerne einfach machen: Ausblenden und trivialisieren ist nicht immer die passende Lernstrategie. Der Versuch einer rationalen Durchdringung von Situationen kann uns an unsere Grenzen führen, insbesondere dann, wenn eine ebensolche Ordnung nicht existiert. In einer Welt voller Veränderungen ist es hilfreich, sich die unterschiedlichen Wechselwirkungen der Systeme vor Augen zu führen – und zu Nutze zu machen.

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