Disruptive Technologien oder die Schnelllebigkeit von wirtschaftlichen Veränderungen sind eine große Herausforderung für Aufsichtsräte. Springer Professional sprach mit Expertin Julia Duwe darüber, wie unter anderem Ambidextrie Überwachungs- und Kontrollgremien hilft.
Julia Duwe ist Partnerin im Operations-Team von Roland Berger. Sie ist spezialisiert auf die Transformation von Industrieunternehmen.
Julia Duwe/Fotofabrik Stuttgart
springerprofessional.de: Sie vertreten in ihrem aktuellen Buch die These, dass Ambidextrie den Aufsichtsrat zukunftsfähig macht. Warum?
Julia Duwe: Mit Ambidextrie, auch "Beidhändigkeit", beschreibt die Betriebswirtschaftslehre die Fähigkeit von Organisationen, parallel und gleichzeitig zum laufenden Kerngeschäft ein tragfähiges neues Geschäft aufzubauen. Ambidextrie wird schon seit Jahrzehnten erforscht. Sie liefert Unternehmenslenkern und Führungskräften ein wichtiges Denk- und Handlungsmodell für große Transformationen. Wie können wir die Zerreißprobe zwischen Kosteneffizienz und Innovation meistern? Wie können wir die Gewichte zwischen dem Erhalt des Kerngeschäfts und dem Aufbau des Zukunftsgeschäftes austarieren?
Es geht darum, einen Weg zu finden, um widersprüchliche Strategien gleichzeitig zu verfolgen und umzusetzen. Gerade für Aufsichtsräte ist das wichtig, denn sie sind gleich mehreren Transformationen ausgesetzt. Als Sparringspartner und Kontrolleure begleiten sie Unternehmen durch die Transformation. Zugleich müssen sie sich selbst ständig erneuern, um die immer neuen Themen im Umfeld von Technologie, von Nachhaltigkeit, von Geopolitik einschätzen und bewerten zu können.
Die Qualität der Gremienarbeit steht immer wieder in der Kritik. Wie kann das Konzept der Beidhändigkeit zu mehr Exzellenz im Aufsichtsrat beitragen?
Die Arbeit von Aufsichtsräten ist extrem herausfordernd, wenn sich Rahmenbedingungen ständig verändern. Heute ist es der EU AI Act, morgen sind es Zölle, übermorgen sind es Lieferkettenengpässe, parallel zu einem rasanten technologischen Fortschritt. In diesem turbulenten Umfeld brauchen Unternehmen Stabilität und weiterhin hohe Qualität in der Gremienarbeit, zum Beispiel in den klassischen Disziplinen wie Finance. Zusätzlich müssen schnell neue Kompetenzen und Fähigkeiten aufgebaut werden. Ambidextrie in der Gremienarbeit bedeutet, dass ich beides berücksichtige. Stabilität und Kontinuität bei gleichzeitiger Öffnung für neue Aufgaben, die sich zudem ständig wandeln. Auch wenn im Kern die Arbeit von Aufsichtsräten gleichbleibt, wird ihnen ein enormer Stretch bei den zu bearbeitenden Inhalten abverlangt.
Es gibt aber noch eine weitere Herausforderung - und hier stellt sich tatsächlich die Frage der Qualität: Sind wir als Gremium in der Lage, dauerhaft mit sehr hoher Veränderungsgeschwindigkeit umzugehen? Für eine extrem schnelle Abfolge von Veränderungen in den Rahmenbedingungen brauchen wir Vorgehensweisen, um weiterhin gute Entscheidungen treffen zu können. Entscheidungen, die auf unserer Erfahrung und Stärke aus der Vergangenheit aufbauen und die zugleich Flexibilität im Umgang mit Neuem und Anpassung und Korrektur von Entscheidungen zulassen.
Ambidextrie unterstützt Gremien bei der Gestaltung und Strukturierung der Arbeit im Umfeld der Transformation. Sie setzt voraus, dass ich neben meinem Zielbild für heute, etwa ein gesundes Kerngeschäft, Szenarien für morgen kenne. Sie ist ein Modell, das Exploitation und Exploration balanciert: Was brauche ich im Kerngeschäft, was brauche ich im Aufbau der Zukunft? Wie sichere ich meinen Umsatz heute? Wieviel muss ich mindestens investieren, um für den Zeitpunkt, wenn das heutige Geschäft nicht mehr trägt, vorbereitet zu sein?
Gibt es neben den Vorteilen auch Risiken, wenn das Konzept auf die Corporate Governance angewandt wird?
Das größte Risiko bei der Anwendung des Konzeptes liegt in mangelnder Konsequenz. Wenn ich weiß, dass Stabilität, wie wir sie früher kannten, nicht mehr existiert, ist es einfach überlebensnotwendig, das nächste Geschäft zu entwickeln. Ein paar Innovationsprojekte, die man sich beim jährlichen Unternehmensrundgang vorstellen lässt, reichen nicht aus. Der Aufsichtsrat muss zwingend den Moment in der Zukunft im Blick behalten, an dem das heutige Kerngeschäft nicht mehr oder nicht mehr ausreichend trägt.
Diesen Zeitpunkt müssen die Gremien antizipieren und das Unternehmen darauf ausrichten - vor allem, wenn das Top-Management im Hier und Jetzt um das Überleben des Kerngeschäftes kämpft. Bislang lag das größte Risiko hierzulande darin, sich auf den Erfolgen der Vergangenheit auszuruhen. Heute ist der Druck im Kerngeschäft so groß geworden, dass die meisten Ressourcen für dessen Erhalt aufgebraucht werden. Die Gefahr ist extrem groß, Innovation jetzt ganz zurückzustellen. Ein Aufsichtsrat ist ja dem operativen Tagesgeschäft nicht ausgesetzt. Wo, wenn nicht hier, kann die langfristige Perspektive des Unternehmens gesichert werden?
Welche Rolle spielt Diversität, um den Aufsichtsrat fit für das Jahr 2030 zu machen?
Vielleicht können wir die Frage umformulieren: Haben wir als Gremium für die Herausforderungen und Problemstellungen, die wir beraten und überwachen sollen, ausreichend Expertise an Bord? In welcher Situation befindet sich das Unternehmen heute und in Zukunft? Sind wir in der Lage, die notwendigen Entscheidungen für heute und für die Unternehmenszukunft zu treffen? Was brauchen wir, um unseren Job zu machen?
Beantwortet man diese Fragen ehrlich, wird schnell klar, dass Diversität nicht verhandelbar, sondern ein Schlüssel ist, um immer vielfältigere und komplexere Entscheidungen beurteilen, beraten und kontrollieren zu können. Es braucht Generalistentum, aber es braucht zugleich tiefe Expertise in den erforderlichen bekannten und neuen Fachgebieten und Erfahrung im Umfeld von Transformation. Das erreichen wir durch Homogenität einfach nicht.
Die nachhaltige Transformation wird Unternehmen in den kommenden Jahren besonders fordern. Müssen sich die Gremien vor diesem Hintergrund neu aufstellen und wie?
Wenn ökologische und soziale Nachhaltigkeit immer stärker in den Mittelpunkt des unternehmerischen Handelns rücken, hat dies Auswirkungen auf den Aufsichtsrat. In vielen Unternehmen läuft die Transformation aus Digitalisierung und Nachhaltigkeit parallel, auch als "Twin Transformation" bezeichnet. Ob für Transparenz über die Lieferketten, Rückverfolgbarkeit von Materialien und Komponenten oder Ermöglichung einer Kreislaufwirtschaft - für viele Aktivitäten der Nachhaltigkeit werden Digitalisierung und die datengetriebene Transformation von Unternehmen vorausgesetzt beziehungsweise sind technischer Enabler. Ein doppelter Druck lastet also auf Unternehmen, beides gleichzeitig voranzutreiben. Im laufenden Geschäft müssen Veränderungen vorgenommen werden, um transparentere und effizientere Geschäftsprozesse zu ermöglichen. Gleichzeitig werden jetzt vielerorts die großen Leitplanken gesetzt, um ein Unternehmen für die nächsten Generationen vorzubereiten. Das erfordert in den Aufsichtsgremien über die Kenntnis der Regulatorik hinaus auch neues Wissen, neue Erfahrung, neue Kompetenzen.
Ein weiteres komplexes Zukunftsthema ist Künstliche Intelligenz. Eine Studie belegt, dass es hier den deutschen Aufsichtsräten noch an Kompetenz mangelt. Wie können diese KI-ready werden und das Thema besser vorantreiben?
Einige Studien belegen aktuell mangelnde Kompetenz, aber viel drängender ist die Frage, wie ich als Aufsichtsrat in einem Themenfeld beraten und kontrollieren kann, dass sich ständig verändert und weiterentwickelt. Was sich im Umfeld der KI allein in den letzten Monaten weltweit getan hat, ist rasant - hier immer auf dem allerneuesten Stand zu sein, ist für viele Gremienmitglieder eine Herausforderung. Hier brauche ich, wenn ich nicht einen absoluten Spezialisten in den eigenen Reihen habe, Möglichkeiten zur kontinuierlichen Weiterbildung und den externen Rat von Experten.
Denn als Aufsichtsrat muss ich im Umfeld der KI-Transformation die richtigen Fragen stellen können: Wo steht ein Unternehmen beim Einsatz von KI? Gibt es eine KI-Strategie? Welche Ressourcen- und Wissensbasis existiert bereits? Welche Anwendungsfälle wurden ausgewählt? Gibt es einen Business Case dahinter? Wurde eine Roadmap erstellt? Welche Effizienzpotenziale wurden identifiziert? Gibt es neue Lösungen, die auf zukünftige Geschäftsfelder einzahlen? Ist eine zentrale Governance etabliert? Welche Infrastruktur ist vorhanden und wird sie weiterentwickelt? Wurde das Thema ausreichend budgetiert? Mit welchen Partnern wird zusammengearbeitet? Kümmert sich der Vorstand ausreichend um die KI-Transformation? Gibt es ein Konzept zur Aus- und Weiterbildung? Und so weiter. Es geht jetzt darum, die richtigen Fragen zu stellen und die Diskussion mit der Geschäftsleitung anzustoßen und kontinuierlich zu begleiten.