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2022 | OriginalPaper | Buchkapitel

2. Das Einsetzen der Modernisierung

verfasst von : Denis Newiak

Erschienen in: Die Einsamkeiten der Moderne

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

Zusammenfassung

Warum setzt die Modernisierung ein und wodurch ist sie in ihrer Frühphase gekennzeichnet? In diesem Kapitel wird anhand kommunikationswissenschaftlicher, wissenssoziologischer und philosophischer Konzepte nachgezeichnet, wie aufgrund der im 19. Jahrhundert einsetzenden Modernisierungseffekte die vormoderne symbolische Ordnung an Bedeutung verliert und damit zu einer Krise der Gemeinschaft führen.

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Fußnoten
1
Sperrung im Original.
 
2
Auf den Aspekt, inwiefern mit archetypischen Sondersituationen wie Geburt, Krankheit und Tod unter modernen Bedingungen verfahren wird, soll in Kap. 2 ausführlich eingegangen werden. Wichtig an dieser Stelle erscheint, dass mit zunehmender Lebensdauer, besserer Gesundheitsversorgung und sinkenden Geburtenraten, wie sie für modernisierte Regionen typisch sind, der Anteil solcher Ereignisse zumindest im Verhältnis zur Gesamtlebenszeit zwar grundsätzlich geringer wird, die Ereignisse aber selbst auch unter modernen Bedingungen nicht verschwinden. Da die Moderne auf die vormodernen religiösen Rituale, mit denen diesen Situationen bedeutungsvoll begegnet werden könnte, nur begrenzt zurückgreifen kann, erzeugt die Moderne ihre eigenen Verfahren der Sinnvermittlung, wie sie später insbesondere am Beispiel des Fernsehens gezeigt werden sollen.
 
3
Hans Joas etwa hält Nietzsches „Genealogie der Moral“ für „irreführend, ja abwegig“, gesteht aber ihren erheblichen und nachhaltigen Einfluss auf die europäische Geistesgeschichte ein. Er verweist zugleich auf die Ideen des US-amerikanischen Psychologen und Philosophen William James, der Religion nicht als „eine Art von Hypermoralität“ deute, sondern als einen Modus zur „Intensivierung der Selbstkontrolle“ und der „Erfahrungen der Selbstaufgabe“ (Joas 1997, S. 23). Dennoch reicht die Moralkritik bei James nicht an die Intensität der förmlich wütenden Abstrafung althergebrachter religiöser Herrschaftsverhältnisse bei Nietzsche heran, die dem deutschen Philosophen erst die bis heute anhaltende Nachwirkung beschert hat. Die Gründe für die auffällige Anziehungskraft, die sein Werk nicht nur auf Fachkreise ausübt, sind neben dem umwälzerischen Charakter seiner Auslegungen sicherlich auch in der poetischen Rhetorik zu suchen, die auf seinen altphilologischen Hintergrund verweist und dem Theoriegebilde eine markante sprachliche Lebendigkeit beschert, die erst den prophetischen Gestus seiner Auslegung der Moderne ausmacht.
 
4
In einem logischen Gedankenspiel argumentiert Pascal Mitte des 17. Jahrhunderts, es sei, unabhängig von der tatsächlichen Existenz oder Nicht-Existenz Gottes, für den Einzelnen schlichtweg vernünftig, an Gott zu Glauben, da ihm in beiden Fällen kein Schaden, jedoch im Falle von Gottes Existenz sogar ein Nutzen (jenseitiges Paradies) entstünde, während der Nicht-Glauben im Falle der Nicht-Existenz sich zwar ebenfalls neutral, aber im Falle der Existenz Gottes eben nachteilig (Hölle) auswirke. Es sei entsprechend sicherer, von der Existenz Gottes auszugehen und an ihn zu glauben: „Wir wollen Gewinn und Verlust abwägen, setze du aufs Glauben, wenn du gewinnst, gewinnst du alles, wenn du verlierst, verlierst du nichts. Glaube also, wenn du kannst.“ (Pascal [1656–1662] 1840, S. 246) Jedoch berücksichtigt diese Logik nicht die mit dem Glauben an Gott verbundenen „Kosten“ (Unterwerfung unter die Moral, Aufwand der Abwicklung der Glaubensrituale etc.), dieser Einwand wiederum verkennt den ‚irdischen‘ Nutzen der Religionsgemeinschaft (Transzendenz). Entsprechend kann unter modernen Bedingungen zwar auf die Wette um das Himmelsreich verzichtet werden, zugleich geht die Gemeinschaft mit Gott verloren, was erst die vereinsamenden Kräfte der Moderne freisetzt.
 
5
Nietzsche hatte seinen eigenen kommunikationsgierigen Geisteszustand gelegentlich als „Erwartungszustand, „Schöpfungszustand“ und „Schwangerschaftszustand“ beschrieben (Meyer 1990, S. 65), der eine gelegentliche Rückkehr in die menschliche Gesellschaft rechtfertigen sollte. Benannte Textstelle erschien bereits ein Jahr zuvor in der Fröhlichen Wissenschaft (Nietzsche [1882], FW-342).
 
6
Es lässt sich nur als historischer Zynismus verkraften, dass die Philosophie Nietzsches – eines bekennenden Feindes des Antisemitismus und öffentlichen Kritikers nationalistischer Bestrebungen – als Schlagwortgeberin für die nationalsozialistische Ideologie und ihre kruden ‚arischen‘ Wahnvorstellungen herhalten musste. Eine Vermengung des Konzeptes des Übermenschen mit sozialdarwinistisch-eugenischen Gedanken zeugt von einer zum Teil beachtlichen Unkenntnis des Werkkonzepts bei Nietzsche, die sich aus der recht willkürlichen Herauslösung einzelner Textstellen aus dem Gesamtzusammenhang ergibt. Auch wenn Nietzsche gelegentlich solchen Verwechslungen nicht aktiv entgegengearbeitet hat, kann die ursächliche Schuld für eine solche posthume Umkodierung von Nietzsches Gedanken nur bei dessen offen antisemitisch auftretender Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche gesucht werden, mit der sich der Philosoph aller Geschwisterliebe zum Trotz immer wieder aufs Neue überworfen hatte und die sich zum Teil verstümmelnde Eingriffe in den Nachlass erlaubte, um die Philosophie ihres Bruders dem zeitgeistlichen ‚Geschmack‘ ihrer faschistoid gesinnten Freunde anzupassen. Zu diesem komplexen Verhältnis zwischen Nietzsche und seiner Schwester sei auf klassische Studien wie von Peters (1983) sowie die aktuellere populärwissenschaftliche Abhandlung von Decker (2016) verwiesen.
 
7
Dieses Motiv eines Menschen, der sich in eine Art nachvormoderne zwar sichere aber doch langweilige Existenz zurückzieht, wird nicht umsonst zum Leitmotiv in Fukuyamas Deutung der Welt ab 1990 als Posthistoire, dem Zeitalter nach dem Ende der Geschichte (1992), vgl. Kap. 5. Hier drängt sich die Identifizierung einer überraschend treffenden Voraussicht der Deutungen der vernetzten Lebensrealität im 21. Jahrhundert auf, wie sie in Abschn. 1.​7 entfaltet werden.
 
8
Zwar begibt sich Nietzsche tatsächlich „immerhin ins Hochgebirge und macht dort genau jene metaphysischen Erfahrungen (Transzendenz, Zeitlosigkeit, Allwissenheit, Ganzheit etc.), die für das lyrische Ich charakteristisch sind“ (Zwick 1995, S. 110), jedoch ist „das Höhersteigen in die Einsamkeit des Hochgebirges“ für den halbblinden und gebrechlichen Nietzsche, der gelegentlich vielmehr die breiten und sicheren Spazierpfade lobt, „ohne daß ich auf den Weg Acht zu geben habe“ (Nietzsche, BVN-1872,257), eine unwahrscheinliche Sache. Somit schafft Nietzsche für sich und seine poetischen Helden rhetorische „Ersatzhandlungen, die dieses [Verhalten] zwar formal nachahmen und metaphorisch vertreten, inhaltlich aber kaum ersetzen können“ (Zwick 1995, S. 112). „Die ästhetische Erfahrung [des Machtzuwachs der Bergeinsamkeit] wurde damit zwar zum Modell des Lebens“, das Nietzsche ein eigenes breitgefächertes Zeichensystem für seine prophetischen Botschaften zur Verfügung stellt, es bleibt aber ein Trauma zurück, dass sich die erhoffte Transzendenz „jedoch nur auf einer imaginären und sprachlichen Ebene durchsetzen [konnte], nicht in der Empirie“ (Zwick 1995, S. 113).
 
Metadaten
Titel
Das Einsetzen der Modernisierung
verfasst von
Denis Newiak
Copyright-Jahr
2022
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-35811-2_2