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2022 | Buch

Das Ende der Merkel-Jahre

Eine Bilanz der Regierung Merkel 2018-2021

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Über dieses Buch

Der Sammelband zieht eine erste und zugleich umfassende politikwissenschaftliche Bilanz der vierten Regierung Merkel aus CDU/CSU und SPD. In den Beiträgen ausgewiesener Expert*innen werden in einem ersten Teil die Rahmenbedingungen des Regierens durch die Große Koalition zwischen 2017/18 und 2021 analysiert. Hierzu zählen die strategische Positionierung von Regierungs- und Oppositionsparteien, das Koalitionsmanagement, die Koordination der Bundesländer sowie das Abstimmungsverhalten im Bundestag. In einem zweiten Teil wird das Regierungshandeln in allen relevanten Politikfeldern beschrieben, erklärt und bewertet. Hierzu zählt nicht nur die in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode alles dominierende Corona-Krisenpolitik. Vielmehr werden auch die wichtigsten Entscheidungen und Nicht-Entscheidungen in Bereichen wie der Finanz- und Sozialpolitik, der Umweltpolitik, der Integrationspolitik oder der Außen- und Europapolitik untersucht und eingeordnet.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
Die vierte Regierung Merkel, 2018–2021. Zwischen politischem Unbehagen und inhaltlicher Nähe?
Zusammenfassung
Der Beitrag führt in vier Schritten in den Bilanzband zur vierten Regierung Merkel ein. Zunächst werden die programmatischen Positionen der Koalitionspartner anhand verschiedener Indikatoren vermessen. Daraus ergibt sich, dass die inhaltliche Übereinstimmung zwischen Union und SPD in der Umweltpolitik am größten war, gefolgt von der Wirtschafts- und Sozialpolitik, während die Gesellschaftspolitik die größten Differenzen zwischen den Koalitionären aufgewiesen zu haben scheint. Anschließend wird diskutiert, welche Faktoren dafür sprechen, dass die Große Koalition zu größeren Reformen in der Lage gewesen sein sollte und welche Variablen eher eine wechselseitige Blockade vermuten lassen. Danach widmen wir uns der Themenagenda der 19. Wahlperiode des Deutschen Bundestages, die zunächst noch von der Migrationsthematik dominiert wurde, ehe die Klima- und ab 2020 die Corona-Politik die beherrschenden politischen Themen wurden. Abschließend wird in Fragestellung und Struktur des Bandes eingeführt.
Fabian Engler, Reimut Zohlnhöfer

Parteien und Strategien

Frontmatter
Ein halber Regierungswechsel nach einer politischen Achterbahnfahrt. Eine Analyse der öffentlichen Meinung zur vierten Regierung Merkel und des Wahlverhaltens bei der Bundestagswahl 2021
Zusammenfassung
Die Bundestagswahl 2021 bildete den Schlusspunkt einer Legislaturperiode mit erheblichen Schwankungen der öffentlichen Meinung zu Parteien und Politikern. Im langen Wahlkampf mit drei Kanzlerkandidaten, aber ohne um ihre Wiederwahl bemühte Kanzlerin schälte sich die Rivalität von Union und SPD um die Position als stärkste Partei und damit führende Kraft in alternativen Regierungsbündnissen zunehmend als eine wesentliche Frage heraus. Im Wahlverhalten 2021 fanden nicht generelle oder pandemiespezifische Urteile über die Leistungen der Regierung ihren Niederschlag, sondern eher Urteile über die Leistungen der Regierungsparteien CDU und SPD. Der halbe Regierungswechsel, der die SPD vom Junior- zum Seniorpartner in einer Koalitionsregierung machte, vollzog somit das, was vor der Wahl im Verhalten der Parteien erkennbar war und sich in der Wahrnehmung der Bürger spiegelte.
Harald Schoen
Die Regierungsparteien CDU/CSU und SPD: Überraschender Wahlsieg der SPD als Wachablösung im Parteienwettbewerb?
Zusammenfassung
Mit der Bundestagswahl 2021 gelang es der SPD erstmals seit 2002 wieder, mehr abgegebene Zweitstimmen zu gewinnen als die Unionsparteien. Damit schaffte die SPD eine Wachablösung als führende Kraft im Parteienwettbewerb zu ihren Gunsten. CDU und CSU wiederum erzielten ihr schlechtestes Ergebnis in der Geschichte der Bundestagswahlen. Mehrere Gründe sind dafür verantwortlich, allen voran die geringe Wählerwirksamkeit ihres Kanzlerkandidaten Armin Laschet, die vielfältigen internen Streitigkeiten innerhalb und insbesondere zwischen den Schwesterparteien CDU und CSU sowie ein strategisch defizitär geführter Wahlkampf mit spürbaren Schwächen im Themen- und Kommunikationsmanagement. Zudem war das Vertrauen in die Unionsparteien als effiziente Krisenmanager erheblich erschüttert, weil es der von der Union geführten Bundesregierung nicht gelang, die zweite und dritte Welle der Corona-Pandemie entscheidend zu brechen. Die SPD setzte einen populäreren Spitzenkandidaten, innerparteiliche Eintracht und einen gut geführten Wahlkampf dagegen. Aber auch der relative Wahlerfolg der SPD kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sowohl SPD wie CDU/CSU den Zenit ihrer elektoralen Attraktivität längst überschritten haben. Ebenfalls erstmals bei Bundestagswahlen erreichten die dem eigenen Anspruch nach das Modell der Volkspartei anstrebenden Organisationen von CDU/CSU und SPD weniger als 50 % der abgegebenen Zweitstimmen.
Uwe Jun
Wettbewerb um Wählerstimmen, Klimakrise und die Corona-Pandemie. Parteienwettbewerb und Regierungshandeln in der 19. Wahlperiode
Zusammenfassung
Dieser Beitrag befasst sich mit den Auswirkungen des Parteienwettbewerbs auf das Regierungshandeln in den beiden salientesten Politikbereichen der 19. Legislaturperiode: Klimaschutz und Bekämpfung der Corona-Pandemie. Unsere Untersuchung der Nachfrageseite des politischen Marktes stellt fest, dass der Ausgang der Bundestagswahl 2021 für die Parteien der Großen Koalition lange Zeit offen und eine erneute Regierungsbeteiligung nicht sicher war. Auf der Angebotsseite zeigt sich, dass in der Umweltpolitik Bündnis 90/Die Grünen eine glaubwürdige und für kompetent erachtete Policy-Alternative boten, während in der Politik der Pandemiebekämpfung keine der parlamentarischen Oppositionsparteien umfangreiche Kompetenzwerte für sich reklamieren konnte. Für die daraus ableitbare Erwartung, wonach die Umweltpolitik, weniger jedoch die Corona-Krisenpolitik, vom Parteienwettbewerb hätte bestimmt sein sollen, finden wir in unseren quantitativen und qualitativen Analysen allerdings nur eingeschränkt Belege: Auf der einen Seite war die Corona-Politik lange Zeit dem Parteienwettbewerb weitgehend entzogen. Auf der anderen Seite gibt es auch in der Umwelt- und Klimaschutzpolitik nur einzelne Hinweise auf Effekte des Wettbewerbs um Wählerstimmen. Die Auswirkungen des Parteienwettbewerbs auf Kommunikation und Politikentscheidungen der vierten Regierung Merkel in den betrachteten Politikfeldern scheinen daher insgesamt eher begrenzt gewesen zu sein.
Fabian Engler, Reimut Zohlnhöfer
Individuelles Abstimmungsverhalten im 19. Deutschen Bundestag zwischen alltäglicher Fraktionsdisziplin und vereinzelten Gewissensentscheidungen
Zusammenfassung
Der Beitrag untersucht das individuelle Abstimmungsverhalten im 19. Deutschen Bundestag. Der erste Teil beschäftigt sich mit den Determinanten von der Fraktionslinie abweichenden Abstimmungsverhaltens. Demnach lässt sich insbesondere mithilfe karrierebezogener Merkmale erklären, warum Abgeordnete häufiger (bei längerer Parlamentserfahrung, keiner erneuten Bundestagskandidatur und einer Sozialisation in der DDR) bzw. seltener (während der Ausübung wichtiger Ämter und bei einem sicheren Direktmandat) gegen die Linie ihrer Fraktion stimmen. Der zweite Teil untersucht anhand der Organspende-Reform 2020, welche Faktoren das Abstimmungsverhalten beeinflussen, wenn Abgeordnete von der Fraktionsdisziplin entbunden sind und sich einem Wertekonflikt zwischen Selbstbestimmung einerseits und Kollektivinteressen sowie der Schutzpflicht des Staates andererseits gegenübersehen. Für das Abstimmungsverhalten spielt neben der individuellen Konfessions- und Parteizugehörigkeit die soziodemografische Zusammensetzung der Wahlkreiswählerschaft eine besondere Rolle. Insbesondere Abgeordnete aus ostdeutschen Wahlkreisen oder aus solchen mit hohem Katholikenanteil oder Urbanisierungsgrad stimmen eher gegen die Widerspruchslösung als weitreichendere der Reformoptionen. Insgesamt verdeutlicht der Beitrag, dass Abgeordnete, je nach Abstimmungsgegenstand, vielfältigen (und unterschiedlichen) Einflüssen ausgesetzt sind und verschiedene Handlungslogiken während ihres Mandats miteinander vereinbaren müssen.
Philipp Mai, Moritz Link, Fabian Engler
Koalitionsmanagement
Zusammenfassung
Wie in früheren Großen Koalitionen unter Merkel, gelang es auch im vierten Kabinett Merkels allen Koalitionsparteien in einer ausführlichen, von allen Parteien ratifizierten Koalitionsvereinbarung, wichtige eigene Projekte zu verankern. Für die Politikkoordination bei unvorhergesehenen Fragen nach Bildung der Koalition war das Koalitionsmanagement erneut von einer Mischung aus gezielter Aufteilung von Ministerien und Verwendung informeller Arenen der Konfliktbearbeitung (z. B. Koalitionsausschüssen) gekennzeichnet. Im Verlauf der Covid-19-Pandemie traten daneben regelmäßige Konferenzen der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der Länder. Kennzeichnend für das vierte Kabinett Merkel war darüber hinaus, dass zwar die Erfordernisse des Krisenmanagements in der Pandemie potentielle Konflikte zwischen den Regierungsparteien zurücktreten ließen, dass aber die Unzufriedenheit mit der Großen Koalition in den Regierungsparteien zu sehr offenen Führungskonflikten und der Ablösung der Führung aller Regierungsparteien beitrugen.
Thomas Saalfeld, Olaf Seifert
Föderale Koordination im Stresstest – zur Rolle der Ministerpräsidentenkonferenz im Pandemie-Management
Zusammenfassung
Die horizontale Koordination der Bundesländer im Rahmen der Ministerpräsidentenkonferenz hat eine lange Tradition im politischen System Deutschlands. Seit vielen Jahren trägt sie dazu bei, im verflochtenen Föderalismus der Bundesrepublik einen weitgehend reibungslosen, koordinierten und einheitlichen Gesetzesvollzug zu gewährleisten, trotz bestehender Autonomierechte der Länder. Allerdings gerieten diese etablierten Koordinationsverfahren in der vierten Amtszeit Angela Merkels erheblich unter Druck. Einerseits wurde das politische System durch den Ausbruch der Covid-19-Pandemie mit einem historischen Gesundheitsnotstand konfrontiert, der nicht nur eine intensivere Krisenkoordination erforderte, sondern gleichzeitig erhebliche Anpassungen in der praktischen Ausgestaltung der intergouvernementalen Koordinationsprozesse erzwang. Andererseits setzte sich die Fragmentierung und Regionalisierung des Parteiensystems fort, was komplexere Koalitionskonstellationen auf der Länderebene bedingte. Vor diesem Hintergrund untersucht der Beitrag, inwiefern diese veränderten Rahmenbedingungen die Leistungsfähigkeit der föderalen Koordination in Deutschland beeinflusst haben. Dabei verdeutlicht die Analyse, dass sich entgegen der öffentlichen Wahrnehmung die horizontale Koordination selbst im Pandemie-Management als leistungsfähig erwiesen hat. Selbst angesichts einer massiven Gesundheitskrise gelang den Ländern bei vielen Sachentscheidungen ein relativ homogener Gesetzesvollzug. Diesem Befund stehen auch Divergenzen bei einzelnen Sachfragen nicht entgegen, die im Rahmen der diffizilen Güterabwägung zwischen dem Gesundheitsschutz der Bevölkerung einerseits und der Wahrung individueller Freiheitsrechte andererseits als kompetitives Ringen um beste Policy-Lösungen aufgefasst werden können, die die Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit der getroffenen Entscheidungen mit Blick auf länderindividuelle Besonderheiten sicherstellen sollten.
Christian Person, Nathalie Behnke, Till Jürgens

Politikfelder

Frontmatter
Corona und das Ende der deutschen Fiskalorthodoxie?
Zusammenfassung
Die Corona-Pandemie hat die vierte Merkel-Regierung vor unvorhergesehene und noch nie dagewesene fiskalpolitische Herausforderungen gestellt. Während einige der von ihr gewählten Antworten bereits in der Eurozonenkrise erprobt waren, identifizieren wir insgesamt einen Bruch mit der deutschen Fiskalorthodoxie der Ära Merkel. Erstens gab die Regierung die „schwarze Null” ohne große Diskussionen auf und setzte die Schuldenbremse aus. Zweitens setzte das Rettungspaket stärker auf die Stimulierung des Binnenkonsums als auf die Unterstützung des Exportsektors. Drittens stimmte Deutschland einer gemeinsamen Verschuldung auf europäischer Ebene zu, um den wirtschaftlichen Aufbau nach Corona zu ermöglichen. Dieses Kapitel bettet diese Reaktionen auf die Pandemie in eine generelle Diskussion der fiskalpolitischen Maßnahmen der Großen Koalition ein und zeigt auf, welche dieser Brüche originär durch die Pandemie verursacht wurden und in welchen Bereichen dieser Bruch schon angelegt war und von der Pandemie nur beschleunigt wurde. Ob es sich um langfristige fiskalpolitische Neujustierungen oder doch nur um kurzfristige Krisenreaktionen handelt, wird sich allerdings erst zeigen, wenn die deutsche Fiskalpolitik nach dem Ende der Pandemie in ein neues Gleichgewicht findet.
Lukas Haffert, Laura Seelkopf
Neue gesundheitspolitische Stile vor und während der Corona-Krise: Etatisierung und Zentralisierung bei wechselnden Akteurskonstellationen
Zusammenfassung
Für die 19. Legislaturperiode wurde ein grundlegender Umbau des Gesundheitswesens angekündigt. Neben der Klärung des Verhältnisses zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung sollten vor allem die drängenden Probleme des Pflegemangels, der ungenutzten Potentiale der Digitalisierung und der zahlreichen historisch gewachsenen Friktionen zwischen den Sektoren, verbunden mit unterschiedlichen Honorarsystemen, Fehlanreizen und Fehlversorgungen bearbeitet werden. Tatsächlich gab es eine extreme gesundheitspolitische Aktivität, die schon vor der Corona-Krise in monatliche Reformen mündete. Obwohl eine klare inhaltliche Vision nicht erkennbar war, folgten die Reformen einem durchgängigen Politikstil der Etatisierung und Zentralisierung. Gesundheitspolitik ist traditionell von einer starken Rolle der Fachebene aus Ministerium und Selbstverwaltung geprägt. Eine Besonderheit der Gesundheitspolitik des letzten Merkel-Kabinetts war die verstärkte Bedeutung parteipolitischer Akteure und damit auch die Verbindung inhaltlicher Entscheidungen mit politischen Machtspielen. Bis zur Krise dominierte mit dem Minister ein einzelner parteipolitischer Akteur. Während der Corona-Krise veränderte sich die Akteurskonstellation. Die inhaltliche Orientierung an zentralistischen und etatistischen Lösungen setzte sich aber fort.
Nils C. Bandelow, Johanna Hornung, Lina Y. Iskandar
Stabilität nur für Insider? Die Arbeitsmarktpolitik der Großen Koalition 2018-2021
Zusammenfassung
Dieser Beitrag beschreibt die Arbeitsmarktentwicklung in Deutschland sowie die wichtigsten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen der Großen Koalition vor und während der Corona-Pandemie im Zeitraum von 2018 bis 2021. Dabei zeigt sich neben dem generellen Trend vermehrter Staatsintervention in den Markt eine Verschiebung des Fokus von Instrumenten aktiver Arbeitsmarktpolitik vor der Pandemie hin zu einer ausgewogenen Mischung von aktiven und passiven arbeitsmarktpolitischen Instrumenten sowie der Regulierung des Arbeitsrechts, um die Folgen der Pandemie einzudämmen. Mithilfe einiger Erklärungsansätze der Policy-Forschung wird das Zustandekommen der Entscheidungen analysiert, wobei der Problemdruck und die bis zum Pandemiebeginn günstigen Rahmenbedingungen als besonders erklärungskräftig herausgearbeitet werden. Die Wirkungen der Maßnahmen werden anschließend auf Grundlage der Insider-Outsider-Theorie erörtert. Der Beitrag zeigt, dass die Große Koalition zahlreiche arbeitsmarktpolitische Instrumente implementiert hat, die nicht nur Insider, sondern auch Outsider absichern sollten; jedoch sind Outsider noch immer objektiv und subjektiv stärker von negativen Effekten auf dem Arbeitsmarkt betroffen.
Linda Voigt
Kontinuität und Krisenreaktionen: Die Sozialpolitik der Großen Koalition 2018–2021
Zusammenfassung
Der Beitrag analysiert die Sozialpolitik der dritten Großen Koalition unter Angela Merkel. Die Untersuchung stützt sich zum einen auf einen Überblick über die wichtigsten Reformen in den einzelnen sozialpolitischen Teilbereichen. Zum anderen werden mit der Einführung der Grundrente, dem Verbot von Werkverträgen und Leiharbeit in der Fleischwirtschaft durch das Arbeitsschutzkontrollgesetz und der befristeten Einrichtung einer „bedingungsarmen“ sozialen Grundsicherung während der Corona-Pandemie drei Reformkomplexe ausführlicher untersucht. Zur Erklärung des Reformgeschehens werden verschiedene theoretische Ansätze der Policy-Forschung herangezogen. Die Analyse zeigt, dass die Sozialpolitik der Großen Koalition in weiten Zügen eine Fortsetzung der Politik der schwarz-roten Vorgängerregierung darstellt. Die vorhandenen fiskalischen Spielräume wurden für expansive Maßnahmen wie die Grundrente genutzt, während das Arbeitsschutzkontrollgesetz ein Beispiel für die Rücknahme früherer Liberalisierungen darstellt. Der Reformimpetus ging in den untersuchten Fällen vom SPD-geführten Arbeits- und Sozialministerium aus, während der Widerstand gegen die Reformen vor allem von Haushalts- und Wirtschaftspolitiker*innen aus der Union kam.
Frank Bandau
Inkrementeller Wandel mit transformativer Wirkung? Eine Bilanz der Bildungspolitik der vierten Regierung Merkel (2018–2021)
Zusammenfassung
In diesem Kapitel werden die bildungspolitischen Entscheidungen der vierten Regierung Merkel in den Jahren 2018 bis 2021 untersucht. Auch wenn der Bildungsföderalismus deutscher Prägung eigentlich wenig grundsätzliche Veränderungen erwarten lässt, ist die zentrale These dieses Artikels, dass sich in den letzten Jahren ein langjähriger Trend des inkrementellen Wandels mit langfristig transformativer Wirkung fortgesetzt hat. Im Bereich der Hochschulpolitik haben speziell die Verstetigung der Exzellenzstrategie und die Verabschiedung des „Zukunftsvertrags“ zur Hochschulfinanzierung das Potenzial, die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern, insbesondere bei der Finanzierung der Hochschulen, nachhaltig zu verändern. Im Bereich der beruflichen Bildung könnte die Allianz für Aus- und Weiterbildung zu einem inklusiveren Modell des Korporatismus führen, dass neben den klassischen Sozialpartnern auch andere Akteure in berufsbildungspolitische Prozesse einbindet. Auch bei der Schulbildung deuten sich Verschiebungen an: Selbst wenn hier die Etablierung eines Nationalen Bildungsrats weitestgehend gescheitert ist, stellt die Einrichtung des „Digitalpakts Schule“ und die dafür umgesetzte Grundgesetzänderung eine potenziell folgenreiche faktische Lockerung des Kooperationsverbots dar. Diese sich andeutende Trendumkehr in der Kooperation von Bund und Ländern in der Schulpolitik könnte sich zudem durch die Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung in Schulen weiter verfestigen.
Moritz G. Bizer, Marius R. Busemeyer
Gleichstellungspolitik in der Ära Merkel: Die vierte Regierung Merkel (2018-2021) zwischen Modernisierung und Corona-Krise
Zusammenfassung
Die Modernisierung und Sozialdemokratisierung der Familien- und Gleichstellungspolitik in der ‚Ära Merkel‘ begann ab 2005 mit dem Umbau der Familienpolitik nach skandinavischem Vorbild. Ab 2013 kamen gleichstellungspolitische Interventionen in den Arbeitsmarkt und Antidiskriminierungspolitik für sexuelle und geschlechtliche Minderheiten hinzu. Wir fragen, ob sich dieser Trend in der vierten Regierung Merkel unter dem Eindruck der Corona-Krise fortsetzte. Um geschlechtsbasierte Gewalt während der Corona-Lockdowns – und darüber hinaus – in die Analyse einzubeziehen, fokussieren wir mit unserem Konzept des ‚Blickfelds‘ geschlechterpolitischer Problemlagen die Sichtbarmachung geschlechtsrelevanter Belange zwischen ‚private wrongs‘ und ‚public rights‘ und argumentieren für eine Erweiterung bisheriger Konzeptionen von Geschlechterregimes.
Annette Henninger, Angelika von Wahl
Migrationspolitik der Großen Koalition – Im Spagat zwischen Obergrenze, geordneter Rückkehr, Fachkräfteeinwanderung und Beschäftigungsduldung
Zusammenfassung
Welche zentralen migrationspolitischen Vorhaben setzte die Große Koalition ab 2018 um? Stehen diese in Kontinuität zum 2015/2016 eingeschlagenen Kurs im Politikfeld? Inwiefern prägten Problemdruck und die parteienwettbewerbliche Konstellation die Politikentscheidungen? Die vorliegende Analyse zeigt, dass die Migrationspolitik der Großen Koalition im Verlauf der Legislaturperiode einem dynamischen Wandel unterlag. 2018 stand die Große Koalition unter hohem parteienwettbewerblichem Handlungsdruck von rechts und nahm vorrangig Asylrechtsverschärfungen vor. Ab Mitte 2019 flankierte sie diese angesichts gesunkenen Problemdrucks in der „Flüchtlingspolitik“ und zusätzlicher parteienwettbewerblicher Konkurrenz durch die Grünen mit permissiven Migrationspolitiken wie dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz oder der Beschäftigungsduldung. Ab 2019 verlor das Politikfeld sukzessive an Salienz, die Zahl der Asylbewerber reduzierte sich kontinuierlich. Dies spiegelte sich in der deutlich abnehmenden migrationspolitischen Reformdichte und -reichweite in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode wider.
Svenja Bauer-Blaschkowski
Kontinuität statt Überbietungswettlauf. Die Law and Order Politik der Regierung Merkel IV
Zusammenfassung
Das Politikfeld der Inneren Sicherheit war in der 19. Legislaturperiode nicht durch besondere politische Aufmerksamkeit geprägt. Dies ist auch deshalb erstaunlich, da Beispiele aus anderen Ländern gezeigt haben, dass die parlamentarische Präsenz rechtspopulistischer Parteien wie der AfD durchaus zu einer Politisierung von Law-and-Order-Themen beitragen kann. Dieser Beitrag untersucht vor diesem Hintergrund, warum sich für die Amtszeit des Kabinetts Merkel IV eine solche Dynamik kaum feststellen lässt. Die Analyse zeigt, dass hierfür einerseits die mangelnde öffentliche Salienz von Themen der öffentlichen Sicherheit und andererseits die institutionellen Bremskräfte im Politikfeld der Inneren Sicherheit – allen voran das Bundesverfassungsgericht und gesellschaftspolitisch liberal ausgerichtete parteipolitische Vetospieler – verantwortlich gemacht werden können.
Georg Wenzelburger
Die Umwelt- und Klimapolitik der letzten Regierung Merkel zwischen Protest und Pandemie: „Business as usual“ auf hohem Niveau
Zusammenfassung
Die Umwelt- und Klimapolitik der letzten Regierung Merkel stand unter erheblichen situativen Einflüssen: Der Dürresommer 2018, die Flutkatastrophe 2021, die Klimaproteste von Fridays for Future zwischen Ende 2018 und Ende 2019 und auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz von 2021 haben der Umwelt- und vor allem der Klimapolitik viel Aufmerksamkeit verschafft, wohingegen die COVID-19-Pandemie seit März 2020 streckenweise die öffentliche Aufmerksamkeit von Umweltfragen abzog. Alles in Allem sind die Abläufe dennoch überwiegend als „business as usual“ zu charakterisieren – mit den üblichen Partei-, Ressort- und Interessenkonflikten. Dabei erscheint im Hinblick auf die Policy-Ergebnisse das Glas eher „halb voll“ als „halb leer“: Es wurde einiges für den Insektenschutz und die Kreislaufwirtschaft erreicht und der Kohleausstieg endlich eingeleitet. In der Klimapolitik klafft trotz deutlicher Fortschritte weiterhin eine Umsetzungslücke und wahrscheinlich auch eine Ambitionslücke, und weitere „Baustellen“, etwa bei der Windenergie, dem Tierschutz, dem Moorschutz und der Kreislaufwirtschaft, bleiben bestehen.
Annette Elisabeth Töller
Deutsche Außenpolitik am Ende der Ära Merkel: Die Suche nach Orientierung in einem veränderten internationalen und innenpolitischen Kontext
Zusammenfassung
Das Kapitel zieht für die wichtigsten außenpolitischen Handlungsfelder eine Bilanz der deutschen Außenpolitik in der letzten Amtszeit Angela Merkels. Der Ausgangspunkt ist der Befund, dass sich das internationale und innenpolitische Handlungsumfeld der deutschen Außenpolitik stark gewandelt hat. Auf internationaler Ebene gefährdet die Krise der liberalen Ordnung die Erfolgsbedingungen deutscher Außenpolitik und in der innenpolitischen Arena ist die außenpolitische Orientierung Deutschlands zunehmend umstritten. Die Große Koalition sah sich somit einem schwierigen Zwei-Ebenen-Kontext gegenüber. In dieser Konstellation war die Außenpolitik der vierten Regierung Merkel durch ein Nebeneinander von zwei komplementären Handlungsmustern gekennzeichnet. Zum einen versuchte die Bundesregierung zur Stabilisierung der liberalen internationalen Ordnung beizutragen, um an den zentralen Leitlinien der deutschen Außenpolitik festhalten zu können. Auf der anderen Seite bereitete die Große Koalition vorsichtige Kurskorrekturen vor, um die deutsche Außenpolitik an ihre veränderten Rahmenbedingungen anzupassen. Der Beitrag untersucht, wie sich diese Orientierungssuche bei den unterschiedlichen Themen auf der außenpolitischen Agenda der Großen Koalition niedergeschlagen hat.
Kai Oppermann
Nur wer sich ändert, bleibt sich treu? Die Europapolitik der Regierung Merkel IV
Zusammenfassung
Das im Jahr 2020 verhandelte und seit 2021 implementierte Pandemie-Wiederaufbauprogramm „Next Generation EU“ bricht mit dem Tabu gemeinschaftlicher europäischer Schuldenhaftung. In diesem Kapitel analysieren wir, ob die deutsche Unterstützung dieses Programms einen programmatischen Wandel in der deutschen Europapolitik darstellt oder aber mit den vorherigen Grundprinzipien Angela Merkels Europapolitik in Einklang zu bringen ist. Die empirische Analyse von Bundestagsdebatten, Wahlprogrammen und Meinungsumfragen baut auf einem Korridor-Modell nationalstaatlicher europapolitischer Präferenzbildung auf, welches institutionalistische und ideelle Faktoren kombiniert. Inhaltsanalysen zeigen, dass sich die Position der Kanzlerin innerhalb des Präferenzkorridors von Bundestag und deutscher Öffentlichkeit bewegte. Ferner erscheinen die Bundesregierung und die pro-europäischen Fraktionen im Bundestag geeint in ihrer Sorge um ein Auseinanderbrechen der EU. Übergeordnete Werte begründen also den situativ begrenzten Richtungsschwenk; dieser stellt somit keinen Bruch mit dem etablierten „konservatorisch-programmatischen“ Ansatz der Kanzlerin dar. Unsere Analyse deckt gleichsam parteipolitische Differenzen zu einer Fiskalunion auf – ein Befund, der Fragen zur weiteren Entwicklung bundesdeutscher Europapolitik aufwirft.
Max Heermann, Dirk Leuffen, Fabian Tigges, Pascal Mounchid
Metadaten
Titel
Das Ende der Merkel-Jahre
herausgegeben von
Reimut Zohlnhöfer
Fabian Engler
Copyright-Jahr
2022
Electronic ISBN
978-3-658-38002-1
Print ISBN
978-3-658-38001-4
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38002-1