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Erschienen in:

Open Access 30.01.2024 | Angewandte Geographie

Cloudwork als Chance für den Globalen Süden?

Einkommens- und professionelle Entwicklungschancen von Online-Plattformarbeiter*innen im Übersetzungs- und Transkriptionssektor

verfasst von: Tatiana López, Patrick Feuerstein, Janine de Vera, Giulia Varaschin, Zeynep Karlıdağ, Mark Graham

Erschienen in: Standort | Ausgabe 1/2024

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Zusammenfassung

Online-Plattformarbeit – auch als „Cloudwork“ bekannt – hat in den letzten Jahren ein rasantes Wachstum verzeichnet. Entwicklungspolitische Debatten betonen in diesem Zusammenhang die neuen Einkommens- und professionellen Entwicklungschancen für gut ausgebildete, jedoch oft unterbeschäftigte Arbeiter*innen aus Ländern des Globalen Südens. Cloudwork-Plattformen bieten diesen Arbeiter*innen neue Zugänge zu Kund*innen und Aufträgen aus dem Globalen Norden, die in Dollar oder Euro vergütet werden. Gleichzeitig zeigen Studien jedoch, dass Online-Plattformarbeit oftmals mit unsicheren Bedingungen und psychischen Belastungen einhergeht. Dieser Beitrag untersucht die Einkommens- und professionellen Entwicklungschancen von Online-Plattformarbeiter*innen aus dem Globalen Süden im Übersetzungs- und Transkriptionssektor. Er stützt sich auf eine quantitative Online-Befragung mit 401 Plattformarbeiter*innen (darunter 266 aus dem Globalen Süden), die im Jahr 2022 im Rahmen des Fairwork-Projekts durchgeführt wurde. Die Ergebnisse zeigen, dass die Einkommens- und professionellen Entwicklungschancen von Cloud-Arbeiter*innen durch ihre geographische Verortung und die Art der Arbeitsorganisation auf den einzelnen Plattformen beeinflusst werden. Arbeiter*innen aus dem Globalen Süden mussten im Vergleich zu ihren Kolleg*innen aus dem Globalen Norden mehr unbezahlte Arbeitszeit (z. B. in die Suche nach Jobs) investieren. Trotzdem konnten Arbeiter*innen aus dem Globalen Süden auch unter Einberechnung der unbezahlten Arbeitsstunden eher ein Einkommen über dem lokalen Mindestlohnniveau erzielen – eine Tatsache, die sich durch internationale Unterschiede in den lokalen Lohnniveaus erklären lässt. Unbezahlte Arbeitszeit ist besonders ausgeprägt auf sogenannten „Micro-Task-Plattformen“ im Transkriptionssektor, da hier das Überangebot von Arbeitskräften in der Regel sehr hoch ist. Insgesamt verdeutlicht unser Beitrag die Machtposition von Plattformunternehmen, welche neue globale Geographien der Online-Arbeit hervorbringen und kontrollieren, und damit Chancen für gute Arbeit im Globalen Süden beeinflussen.
Hinweise

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Einleitung: Cloudwork als Motor für Beschäftigung und Entwicklung im Globalen Süden?

Online-Plattformarbeit – auch unter dem Namen „Cloudwork“ bekannt – hat in den letzten Jahren ein rasantes Wachstum verzeichnet. Laut einer Studie des Oxford Internet Institute waren im Jahr 2020 rund 163 Mio. Menschen auf Plattformen für Online-Arbeit registriert (Kässi et al. 2021, S. 6). Die global wachsende Verfügbarkeit von Internet und cloudbasierten Infrastrukturen haben es digitalen Plattformunternehmen u. a. ermöglicht, sich als neue Intermediäre für unternehmensnahe Dienstleistungen in globalen Wertschöpfungsketten zu positionieren und mittels Netzwerkeffekten immer größere Marktanteile auf sich zu konzentrieren (Grabher und van Tuijl 2020). Das Geschäftsmodell von digitalen Cloudwork-Plattformen wie Upwork oder Amazon MechanicalTurk beruht dabei auf der Koordination eines globalen Pools von Arbeitskräften, auf den Unternehmen als Kund*innen mittels der Plattforminfrastruktur zugreifen können (Graham und Anwar 2019). Wirtschafts- und Internetgeograph*innen argumentieren, dass Cloudwork-Plattformen eine neue Welle internationaler Arbeitsteilung anstoßen, indem sie Kund*innen aus dem Globalen Norden direkt mit Freelancern aus dem Globalen Süden vernetzen (Anwar und Graham 2021; Heeks 2017).
Ähnlich wie Debatten um wertschöpfungsketteninduzierte Entwicklung zu Anfang der 2010er-Jahre (siehe z. B. Stamm und von Drachenfels 2011; UNIDO 2015) hat auch die neue Welle des Outsourcings über Online-Plattformen internationale Organisationen und Forscher*innen zu optimistischen Prognosen bezüglich des Entwicklungspotenzials für die Ökonomien des Globalen Süden veranlasst (Braesemann et al. 2022; Gino und Staats 2012; Kuek et al. 2015). Diese Prognosen sehen IT-gestützte, digitale Dienstleistungen als einen neuen potenziellen Exportsektor für Länder des Globalen Südens, der nachholende Entwicklung vorantreiben könnte (Melia 2020). Forscher*innen argumentieren, dass Online-Plattformarbeit im Vergleich zu Aufträgen auf dem lokalen Arbeitsmarkt oft besser entlohnt ist, da die Bezahlung in der Regel in Dollar oder Euro erfolgt (Heeks 2017). Weiterhin sehen Entwicklungsoptimist*innen Chancen für die Integration von Frauen und anderen Personen mit Sorgeverpflichtungen in den Arbeitsmarkt, da Arbeit auf Cloudwork-Plattformen räumlich flexibel, ausgeführt werden kann (EIGE und Eurofund 2023). Zuletzt betonen Forscher*innen, dass Online-Plattformarbeiter*innen neue Fähigkeiten und Kompetenzen ausbilden können, die sie dann auch für Arbeit in nicht plattformbasierten Sektoren qualifiziert (D’Cruz und Noronha 2016; Elbanna und Idowu 2022).
Auf der anderen Seite weisen Forschungsarbeiten jedoch auf die negativen Effekte von Plattformarbeit hin (Graham et al. 2019; Rani und Furrer 2021). Diese Studien betonen, dass Plattformarbeiter*innen aus dem Globalen Süden, gemessen am lokalen Lohnniveau, in vielen Fällen zwar vergleichsweise mehr verdienen als ihre Kolleg*innen aus dem Globalen Norden, sie jedoch gleichzeitig auch mehr unbezahlte Arbeitsstunden investieren, beispielweise um nach passenden Aufträgen zu suchen oder ihr Profil zu kuratieren (Howson et al. 2022). Weiterhin sind psychische Belastungen für Arbeiter*innen aus dem Globalen Süden oft verstärkt, da sie sich nach den Zeitzonen der meist aus dem Globalen Norden stammenden Kund*innen richten müssen, was die Zeitautonomie und Flexibilität der Arbeiter*innen einschränkt (Anwar und Graham 2021).
Vor dem Hintergrund dieser Kontroverse untersuchen wir in diesem Beitrag die Arbeitsbedingungen und professionellen Entwicklungschancen von Online-Plattformarbeiter*innen aus dem Globalen Süden im Transkriptions- und Übersetzungssektor.
Dieser Sektor ist im Hinblick auf sozioökonomische Entwicklungschancen im Globalen Süden besonders interessant. Zum einen hat der globale Markt für sprachbezogene Dienstleistungen zwischen 2009 und 2019 seine Größe verdoppelt (Statista 2023). Die Verfügbarkeit digitaler Plattforminfrastruktur und algorithmischer Managementsysteme erlaubt es Plattformunternehmen, auch komplexe Aufgaben wie die Übersetzung einer Webseite, die Transkription einer Audiodatei oder die Untertitelung eines Videos in kleine Arbeitsschritte herunterzubrechen und auf mehrere Arbeiter*innen aufzuteilen, und Kund*innen immer schnellere Lieferzeiten zu bieten. Zum anderen zeichnet sich dieser Sektor geografisch durch einen besonders hohen Anteil von Arbeiter*innen aus dem Globalen Süden aus. Nach Daten des Online Labour Observatory stammen mehr als die Hälfte aller Online-Plattformarbeiter*innen im Bereich Transkription und Übersetzung aus nur vier Ländern: Bangladesch, Indien, Pakistan und Kenia (Online Labour Index 2023).
Der Beitrag stützt sich auf eine Studie zu Arbeitsbedingungen auf Online-Transkriptions- und Übersetzungsplattformen, die im Rahmen des Fairwork-Projekts zwischen November 2021 und Oktober 2022 durchgeführt wurde (Fairwork 2022).

Forschungsdesign und Methodik: Eine Aktionsforschungsstudie des Fairwork-Projekts zu Arbeitsbedingungen auf Online-Transkriptions- und Übersetzungsplattformen

Fairwork ist ein globales Aktionsforschungsprojekt, das Arbeitsbedingungen auf digitalen Plattformen, darunter auch Cloudwork-Plattformen an Hand von fünf Prinzipien für faire Arbeit analysiert und bewertet (siehe Abb. 1).
Die Fairwork-Studie (2022) zu Transkriptions- und Übersetzungsplattformen hat die Arbeitsbedingungen auf neun führenden, globalen Online-Plattformen für Sprachdienstleistungen bewertet (siehe Abb. 2).
Im Rahmen der Studie wurden eine quantitative Online-Befragung mit bis zu 60 Arbeiter*innen pro Plattform sowie 10 ergänzende Interviews mit Plattformarbeiter*innen und drei Interviews mit Vertreter*innen der Plattformen durchgeführt. Der Fragebogen umfasste neben demografischen Angaben u. a. Fragen zum Umfang der Plattformarbeit, zur Kalkulation der Bezahlung, zu Weiterbildungsmöglichkeiten sowie zu allgemeinen Arbeitsbedingungen. Arbeiter*innen wurden hauptsächlich über Online-Foren für Übersetzer*innen sowie über Gruppen auf Facebook, LinkedIn und anderen sozialen Medien rekrutiert. Um sicherzustellen, dass die Teilnehmer*innen der Befragung auch tatsächlich auf den untersuchten Plattformen arbeiten, mussten interessierte Arbeiter*innen ein Online-Formular mit Angaben zu ihrer Person ausfüllen und einen Screenshot ihrer persönlichen Auftragsübersicht auf der Plattform hochladen. In drei Fällen (Translated, Scribie und TranscribeMe) streute die Plattform selbst einen Link zu dem Online-Formular über ihre internen Mailing-Listen und Foren. Aus mehr als 2000 Interessenbekundungen wurde ein Sample von 401 Plattformarbeiter*innen aus 88 Ländern erstellt, davon 266 aus Ländern des Globalen Südens (d. h. aus Asien, Lateinamerika und Afrika). Dabei wurde ein ausgewogenes Sample nach Weltregion, Alter und Geschlecht angestrebt. Von den Teilnehmer*innen bestreiten rund 60 % ihr Einkommen ausschließlich durch Online-Plattformarbeit, rund 62 % arbeiten für mehr als eine Online-Plattform.

Ergebnisse: Einkommens- und professionelle Entwicklungschancen von Plattformarbeiter*innen aus dem Globalen Süden im Transkriptions- und Übersetzungssektor

Auf den ersten Blick bestätigen die Ergebnisse der Studie die Argumente der „entwicklungs-optimistischen“ Literatur, dass Online-Plattformarbeit im Globalen Süden neue, lohnende Einkommenschancen schaffen kann. Es lassen sich dabei jedoch leichte Variationen zwischen Regionen sowie zwischen Übersetzungs- und auf Transkriptionsplattformen beobachten. Auf Transkriptionsplattformen verdienen rund 75 % der befragten Arbeiter*innen aus Asien und Afrika sowie 85 % der befragten Arbeiter*innen aus Lateinamerika nach Einberechnung der unbezahlten Arbeitsstunden (z. B. für die Suche nach Aufträgen oder die Pflege des eigenen Profils) ein Einkommen, das dem lokalen Mindestlohn entsprach oder ihn sogar überstieg. Dies war hingegen nur für 20 % der befragten Transkriptionsarbeiter*innen aus Europa sowie für 12 % der befragten Arbeiter*innen aus Nordamerika der Fall. Auf Übersetzungsplattformen gaben sogar 94 % der befragten Arbeiter*innen aus Lateinamerika sowie 89 % der befragten Arbeiter*innen aus Asien und 74 % der befragten Arbeiter*innen aus Afrika ein Einkommen auf oder über Mindestlohnniveau an (im Vergleich zu 65 % der befragten Übersetzungsarbeiter*innen aus Europa und 55 % der befragten Arbeiter*innen aus den USA, siehe Abb. 3).
Die tendenziell höheren Einnahmen auf Übersetzungs- gegenüber Transkriptionsplattformen in unserem Sample können dabei mit der unterschiedlichen Art der Arbeitsorganisation erklärt werden: Auf den untersuchten Transkriptionsplattformen ist der Arbeitsprozess überwiegend nach dem sogenannten „micro-task“-Modell organisiert. Audiodateien werden in Segmente von zwei bis fünf Minuten unterteilt und über einen auf der Plattform einsehbaren Auftragspool nach dem „first come, first served“-Prinzip vergeben. Um Aufträge zu erlangen, müssen Arbeiter*innen kontinuierlich die Auftragsliste auf der Plattformwebsite beobachten und aktualisieren, um schnell reagieren zu können, sobald neue Aufträge verfügbar sind. Für die Transkription von fünf Audiominuten, welche in der Regel zwischen 20 und 30 Minuten Arbeitszeit erfordert, erhalten die Arbeiter*innen dann zwischen 1,25–1,70 US-Dollar. Durch das Überangebot an Arbeitskraft auf den Plattformen sind Aufträge jedoch meist schnell vergeben, so dass regelmäßig Warte- und Suchzeiten zwischen zwei Aufträgen entstehen. Diese Art der Arbeitsorganisation erfordert eine hohe Investition unbezahlter Arbeitszeit – im Falle der von uns befragten Transkriptionsplattformarbeiter*innen aus dem Globalen Süden im Schnitt 4,5 h pro Woche.
Einzelne Transkriptionsplattformen wie die Plattform TranscribeMe haben angesichts dieser Problematik Schritte unternommen, um Suchzeiten für Arbeiter*innen zu verringern, indem sie separate Auftragspools z. B. für medizinische oder juristische Transkriptionen einrichten. Um Zugang zu diesen spezialisierten Auftragspools zu erhalten, müssen Arbeiter*innen einen Qualifikationstest bestehen. Die Vorbereitung auf den Test erfordert jedoch eine beträchtliche Investition unbezahlter Arbeitszeit, die beispielsweise für Arbeiter*innen mit zusätzlichen Sorgeverpflichtungen häufig schwierig zu leisten ist. Eine weitere professionelle Entwicklungsmöglichkeit für Arbeiter*innen auf Transkriptionsplattformen besteht darin, sich durch das Absolvieren von Tests für die Rolle der oder des „Quality Assurers“ oder „Editors“ zu qualifizieren. Diese sind dafür zuständig, die von verschiedenen Arbeiter*innen angefertigten Transkriptsegmente zusammenzufügen und, wo nötig, anzugleichen, bzw. fertige Transkripte zu redigieren. Diese höher qualifizierten Positionen existieren jedoch nur im Verhältnis von 1:4 zu Transkriptionsstellen und sind somit nur für einen kleinen Teil der Arbeiter*innen verfügbar. Weiterhin erfordern sie im Vergleich zu einfachen Transkriptionsaufgaben mehrere Stunden konzentrierte Arbeitszeit am Stück. Diese Art der Arbeitsorganisation, kann somit ebenfalls Barrieren für Arbeiter*innen mit Sorgeverpflichtungen darstellen, die darauf angewiesen sind, sich ihre Arbeitszeiten flexibel einzuteilen (vgl. EIGE und Eurofund 2023).
Im Kontrast dazu ist die Arbeit auf den untersuchten Übersetzungsplattformen in der Regel nach dem „macro-task“-Prinzip organisiert. Hier erhalten Übersetzer*innen Anfragen für die Übersetzung kompletter Dokumente oder sogar für die Mitarbeit in größeren Projekten, sodass direkt mehrere Stunden (oder sogar Tage) Arbeit garantiert sind. Dementsprechend müssen Arbeiter*innen aus dem Globalen Süden auf den untersuchten Übersetzungsplattformen mit rund 1,5 h pro Woche auch weniger unbezahlte Arbeit investieren. Gleichzeitig haben Übersetzer*innen auf den meisten untersuchten Plattformen die Möglichkeit, selbst ihre Raten festzulegen, während diese auf den bewerteten Transkriptionsplattformen häufig durch die Plattform bestimmt werden. Dies beeinflusst auch die subjektive Wahrnehmung der Arbeiter*innen im Hinblick auf ihre Einkommenschancen: Während rund 76 % der befragten Arbeiter*innen aus dem Globalen Süden auf Übersetzungsplattformen finden, dass sie für ihre Arbeit fair entlohnt werden, trifft dies nur auf 42 % der befragten Transkriptionsarbeiter*innen aus dem Globalen Süden zu.
Während die Einkommenschancen auf Übersetzungsplattformen also tendenziell besser sind, ist jedoch zu beachten, dass die Barrieren, um Aufträge zu erlangen, auf den untersuchten Übersetzungsplattformen höher sind. Während der Zugang zu den Transkriptionsplattformen in der Regel nur das Bestehen einer Probetranskription erfordert, überprüfen Übersetzungsplattformen Lebenslauf und Referenzen bei der Registrierung. Auf Plattformen, die einen Bidding-Mechanismus ohne direktes Matching einsetzen, müssen Arbeiter*innen ein öffentliches Profil mit Informationen zu Lebenslauf und Referenzen anlegen. Arbeiter*innen ohne Vorerfahrung können zwar ein Profil anlegen, haben dann aber nur geringe Chancen, Aufträge zu erhalten. Von den auf der Plattform Translated registrierten 454.206 freiberuflichen Übersetzer*innen haben nach Angaben des Managements nur rund rund 2 % des globalen Arbeitskräftepools in den letzten drei Jahren Aufträge erhalten (Interview mit Translated Management, 22.07.2022). So geben 69 % der befragten Arbeiter*innen auf Übersetzungsplattformen an, dass sie gerne mehr arbeiten würden, jedoch nicht genügend Aufträge auf der Plattform vorhanden sind. Während Übersetzungsplattformen also neue Märkte für erfahrene Übersetzer*innen aus dem Globalen Süden eröffnen und zu deren professioneller Entwicklung beitragen können, bieten sie hingegen nur eingeschränkt Chancen für die große Zahl gut ausgebildeter, un- oder unterbeschäftigter Arbeiter*innen, die sich als Quereinsteiger*innen eine neue professionelle Perspektive aufbauen möchten. Diese Einschränkung ist besonders bedenklich angesichts der Tatsache, dass nur rund 30 % der befragten Übersetzer*innen aus dem Globalen Süden angaben, eine formelle Hochschulqualifikation im Bereich Übersetzung zu besitzen.
Als letzte Einschränkung für die Einkommens- und professionellen Entwicklungschancen von Transkriptions- und Übersetzungsarbeiter*innen ist abschließend die zunehmende Automatisierung zu nennen. Viele der von uns untersuchten Plattformen nutzen, wo technisch möglich (Einschränkungen ergeben sich beispielsweise aus schlechter Tonqualität von Audiodateien oder seltenen Sprachkombinationen), maschinell generierte Transkriptionen und Übersetzungen als ersten Entwurf, der dann von den Arbeiter*innen nur noch nachbearbeitet werden muss. Für die Nachbearbeitung erhalten diese einen reduzierten Bezahlungssatz pro Wort bzw. Minute. Eine in der Online-Befragung häufig von Arbeiter*innen geäußerte Kritik weist jedoch darauf hin, dass die Nachbearbeitung nicht unbedingt mit einer Zeitersparnis einhergeht, insbesondere, wenn die maschinell generierten Übersetzungen oder Transkripte eine hohe Fehlerquote aufweisen. Dies verdeutlicht unter anderem das folgende Zitat eines Übersetzers der Plattform Translated aus unserem Online-Survey: „Für ModernMT [Anm.: maschinelles Übersetzungstool, das von der Plattform Translated angeboten wird] wird die Zahlung um 15 % gekürzt. Das ist ein Dienst, den ich nicht nutze und der mir egal ist. Meistens klicke ich einfach auf STRG + A und lösche die Vorschläge der Maschine oder gebe meine Übersetzung ein, bevor die Vorschläge der Maschine angezeigt werden. Ich verstehe nicht, warum meine Bezahlung für eine Dienstleistung, die für mich nutzlos ist, gekürzt wird“. Während computergestützte Übersetzung und Transkription einerseits Kosten für Kund*innen reduziert, geht mit steigender Automatisierung also gleichzeitig auch die Gefahr einer erhöhten Prekarisierung von Online-Plattformarbeit in diesen Bereichen einher.

Diskussion und Fazit

Die Studie zeigt, dass dem Enthusiasmus „entwicklungsoptimistischer“ Narrative rund um Cloudwork als neuem Motor für Beschäftigung und Entwicklung in den Ländern des Globalen Südens mit Vorsicht zu begegnen ist. So wird zwar bestätigt, dass Arbeiter*innen aus dem Globalen Süden im Vergleich zu Arbeiter*innen aus dem Globalen Norden eher Chancen haben, ein Einkommen zu erzielen, das auf oder über dem lokalen (Mindest‑)Lohnniveau liegt. Jedoch muss beachtet werden, dass die gesetzlichen Mindestlöhne in vielen Ländern des Globalen Südens weit unter dem Subsistenzminimum liegen (vgl. Wage Indicator 2023). Das Outsourcing-Geschäftsmodell globaler Cloudwork-Plattformen, das auf Lohndifferenzen zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden beruht, begrenzt also nicht nur die Einkommenschancen von Arbeiter*innen aus dem Globalen Norden, die plötzlich mit Arbeiter*innen aus dem Globalen Süden konkurrieren, sondern ebenso jene von Arbeiter*innen aus dem Globalen Süden, da diese nur auf der Basis niedriger Löhne am globalen Plattform-Arbeitsmarkt partizipieren können (vgl. Galperin und Greppi 2017; Howson et al. 2022). Dieser Mechanismus ist besonders ausgeprägt auf sogenannten „Micro-Task-Plattformen“, wie den von uns untersuchten Transkriptionsplattformen, da hier die Bezahlung häufig einseitig von den Plattformen festgelegt wird und Arbeiter*innen ein hohes Maß unbezahlter Arbeit investieren müssen.
Um die Einkommenschancen von Online-Plattformarbeiter*innen aus dem Globalen Süden zu verbessern und nachhaltige Beschäftigungsoptionen zu schaffen, muss die Machtasymmetrie zwischen Plattformen und Arbeiter*innen verringert werden. Eine zentrale Herausforderung für die Schaffung fairerer Plattformarbeit ist daher, die Hürden für die kollektive Organisierung von Plattformarbeiter*innen, inklusive räumlicher Atomisierung und geographischer Spaltungen in Nord und Süd zu überwinden. Dass kollektive Organisierung von Online-Plattformarbeiter*innen Bedingungen und Einkommenschancen aktiv verbessern kann, zeigen unter anderem erste Studien zu der von Arbeiter*innen gegründeten Initiative „Turkopticon“ (Atzeni und Cini 2023; Panteli et al. 2020). In unserer Umfrage gaben rund 66 % der befragten Transkriptions- und Übersetzungsarbeiter*innen an, dass sie Interesse hätten, einer Organisation für die kollektive Vertretung ihrer Interessen beizutreten. Cloudwork-fokussierte Entwicklungsprogramme sollten sich daher nicht nur darauf beschränken, mehr Menschen im Globalen Süden Zugang zu Online-Plattformarbeit zu ermöglichen, sondern ebenfalls versuchen, kollektive Interessensvertretung von Cloudworkern auf nationaler und internationaler Ebene zu stärken. Ein erster Ansatzpunkt dafür können nationale Arbeitsgesetzreformen sein, die Online-Plattformarbeiter*innen explizit als Arbeiter*innen anerkennen und ihnen entsprechende kollektive Organisierungsrechte einräumen (vgl. Donini et al. 2017).
Im Hinblick auf die professionellen Entwicklungschancen von Cloudwork-Arbeiter*innen verweisen die Ergebnisse der Studie ebenfalls auf wichtige Hürden und Limitationen. Auf Transkriptionsplattformen haben Arbeiter*innen die Möglichkeit, sich durch Qualifikationstest für besser bezahlte Tätigkeiten wie spezialisierte Transkriptionen oder für die Rollen der/des Quality Assurers oder der/des Editors zu qualifizieren. Gleichzeitig erfordern diese Qualifikationstests jedoch die Investition vieler unbezahlter Arbeitsstunden in Form von Lern- und Vorbereitungszeit und sind daher für Arbeiter*innen, die z. B. noch einen weiteren Job oder Sorgearbeitsverpflichtungen haben, evtl. nicht zugänglich. Weiterhin erhöht sich mit dem Aufstieg auf ein höheres Qualifikationsniveau nicht die Verhandlungsmacht der Arbeiter*innen gegenüber der Plattform: Anders als formelle Qualifikationen in Form von Schul- oder Studienabschlüssen sind die auf einer Plattform erlangten Qualifikationen nicht auf andere Plattformen übertragbar und somit außerhalb der Plattform nicht viel wert. So ergibt sich stattdessen eher die Gefahr eines „Lock-In-Effekts“, d. h. die Gefahr, dass Arbeiter*innen aufgrund der bereits investierten Zeit auf der Plattform bleiben, auch wenn sich dort die Bedingungen verschlechtern sollten.
Auf Übersetzungsplattformen wiederum können Arbeiter*innen mit steigender Erfahrung grundsätzlich Zugang zu größeren Übersetzungsprojekten erlangen. Die Mitarbeit in solchen Projekten eröffnet Übersetzer*innen nicht nur ein stabileres Einkommen über einen längeren Zeitraum, sondern auch Zugang zu wichtiger professioneller Erfahrung und Referenzen. Von uns interviewte professionelle Übersetzer*innen aus dem Globalen Süden hoben daher die Möglichkeit, sich von kleineren Aufträgen zu Großprojekten „hochzuarbeiten“ als einen Vorteil von Übersetzungsplattformen hervor. Interviewte Quereinsteiger*innen in der Übersetzungsbranche klagten hingegen in der Regel darüber, dass sie grundsätzlich nur selten Aufträge über die Plattformen erhielten und sich so nicht für die Mitarbeit in Großprojekten qualifizieren konnten. Auf „macro-work“-Plattformen resultieren Limitationen für die Schaffung professioneller Entwicklungschancen für breitere Bevölkerungsgruppen also aus Zentralisierungseffekten, die bereits gut aufgestellten, hoch professionalisierten Arbeiter*innen mehr Aufträge bringen, während die Barrieren für Arbeiter*innen ohne Vorerfahrung höher werden. Um dieses Problem anzugehen, besteht Handlungsbedarf bei den Plattformunternehmen, die häufig algorithmisch gesteuerten „match-making“-Mechanismen, die Auftragsangebote an Arbeiter*innen schicken, kritisch auf mögliche Zentralisierungseffekte zu überprüfen, um diesen bewusst entgegen steuern zu können.
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Literatur
Zurück zum Zitat EIGE, Eurofund (2023) Gender differences in motivation to engage in platform work. Publications Office of the European Union, Luxembourg EIGE, Eurofund (2023) Gender differences in motivation to engage in platform work. Publications Office of the European Union, Luxembourg
Zurück zum Zitat Fairwork (2022) Fairwork 2022 translation & transcription platform ratings: working conditions in the global platform economy. Fairwork, Oxford, Berlin Fairwork (2022) Fairwork 2022 translation & transcription platform ratings: working conditions in the global platform economy. Fairwork, Oxford, Berlin
Zurück zum Zitat Graham M, Hjorth I, Lehdonvirta V (2019) Digital labor and development: impacts of global digital labor platforms and the gig economy on worker livelihoods. In: Graham M (Hrsg) Digital economies at global margins. MIT Press, Cambridge, New York, S 269–294CrossRef Graham M, Hjorth I, Lehdonvirta V (2019) Digital labor and development: impacts of global digital labor platforms and the gig economy on worker livelihoods. In: Graham M (Hrsg) Digital economies at global margins. MIT Press, Cambridge, New York, S 269–294CrossRef
Zurück zum Zitat Kuek SC, Paradi-Guilford C, Fayomi T, Imaizumi S, Ipeirotis P, Pina P, Singh M (2015) The global opportunity in online outsourcing. World Bank Group, Washington D.C. Kuek SC, Paradi-Guilford C, Fayomi T, Imaizumi S, Ipeirotis P, Pina P, Singh M (2015) The global opportunity in online outsourcing. World Bank Group, Washington D.C.
Zurück zum Zitat Melia E (2020) African jobs in the digital era. Export options with a focus on online labour. DIE discussion paper 3/2020. DIE, Bonn Melia E (2020) African jobs in the digital era. Export options with a focus on online labour. DIE discussion paper 3/2020. DIE, Bonn
Zurück zum Zitat Stamm A, von Drachenfels C (2011) Value chain development; approaches and activities by seven UN agencies and opportunities for interagency cooperation. ILO, Geneva Stamm A, von Drachenfels C (2011) Value chain development; approaches and activities by seven UN agencies and opportunities for interagency cooperation. ILO, Geneva
Zurück zum Zitat UNIDO, United Nations Industrial Development Organisation (2015) Global value chains and development: UNIDO’s support towards inclusive and sustainable industrial development. UNIDO, Vienna UNIDO, United Nations Industrial Development Organisation (2015) Global value chains and development: UNIDO’s support towards inclusive and sustainable industrial development. UNIDO, Vienna
Metadaten
Titel
Cloudwork als Chance für den Globalen Süden?
Einkommens- und professionelle Entwicklungschancen von Online-Plattformarbeiter*innen im Übersetzungs- und Transkriptionssektor
verfasst von
Tatiana López
Patrick Feuerstein
Janine de Vera
Giulia Varaschin
Zeynep Karlıdağ
Mark Graham
Publikationsdatum
30.01.2024
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
Standort / Ausgabe 1/2024
Print ISSN: 0174-3635
Elektronische ISSN: 1432-220X
DOI
https://doi.org/10.1007/s00548-023-00904-8

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