Corona, Ukraine-Krieg, Energiekrise, Inflation: Die Polykrise hat längerfristige strukturelle Veränderungen wie den Niedergang der Warenhäuser und das Wachstum des Online-Handels beschleunigt und die Herausforderungen für Innenstädte weiter verstärkt. Neue Konzepte und Maßnahmen werden für Zentren aller Größenordnungen in Metropolräumen wie in ländlichen Regionen diskutiert und erprobt. Sie zielen meist auf eine Erhöhung der Aufenthalts- und Erlebnisqualität sowie der urbanen Nutzungsvielfalt ab. Als Ort des Deutschen Kongresses für Geographie 2023 zeigt Frankfurt am Main dies exemplarisch: Nur wenige hundert Meter trennen den Leerstand auf der Zeil von der sommerlichen Sperrung des Mainkais, die die Verbindung von City zum Flussufer stärkt und als „blauer Bewegungsraum“ (Knöll 2023) mit Sport‑, Bildungs- und Kulturevents bespielt wird.
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Doch wie lässt sich eine zukunftsfähige und krisenfeste Innenstadt gestalten? Was funktioniert wie unter welchen Bedingungen? Die seit dem Frühjahr 2020 als „DVAG-Zukunftswerkstatt: Stadt, Immobilie & Handel – Innenstadtentwicklung im Spannungsfeld von Strukturwandel und Corona“ stattfindenden Veranstaltungen der Arbeitskreise Einzelhandel, Immobilien, Stadtentwicklung und Wirtschaftsförderung gehen regelmäßig diesen Fragen nach. Was liegt daher näher, sie als aktuelle Beiträge aus der beruflichen Praxis und der angewandten Forschung zur Zukunft der Innenstädte in einem STANDORT-Themenheft zu bündeln? Die Resonanz auf diese Idee war überwältigend, was die sieben Fach- und sechs Praxisbeiträge mit 27 Autor*innen in diesem Heft quantitativ wie qualitativ eindrucksvoll belegen.
Den Auftakt machen unterschiedlichste Fallbeispiele von der Metropole bis zur Kleinstadt. Heiner Schote zeigt auf, wie öffentliche, private und zivilgesellschaftliche Akteure durch die Neugestaltung öffentlicher Räume die Hamburger Innenstadt verändern. Lech Suwala, Nina Pfeil, Max Lange, Linus Pfeiffer und Hans-Hermann Albers gehen am Beispiel der Wilmersdorfer Straße in Berlin-Charlottenburg der Frage nach, inwieweit ein solcher Zentrumbereichskern durch eine Kombination von Nutzungsmischung, Kiezcharakter sowie der Zusammenführung und Steuerung vorhandener Strukturen („Kuration“) gestärkt werden kann. Diese Voraussetzungen sind in Kleinstädten wie Bad Bergzabern vermutlich nicht gegeben, wo Rainer Kazig, Helena Rapp und Agnes Bartmus den Leerstand und das Stadterleben in der Fußgängerzone aus der innovativen Perspektive der Atmosphärenforschung betrachten. Auf der Objektebene untersucht Marc Alan Heptig schließlich den Trend zu mischgenutzten innerstädtischen Shopping-Centern anhand von Best-Practice-Beispielen in Hanau, Mannheim und München.
Drei Fachbeiträge beschäftigen sich mit der Stärkung des Einzelhandels durch Digitalisierung. Elisa Gliesner und Daniel Schiller untersuchen digitale Instrumente der Kundenkommunikation im inhabergeführten Einzelhandel. Sie unterstreichen die Bedeutung des Wissenstransfers durch Netzwerke für den Einstieg in die digitale Kundenkommunikation. Christopher Herb, Carla Friedrich und Cordula Neiberger fragen, in welchem Ausmaß sich Handelsunternehmen in vier nordrhein-westfälischen Mittelstädten durch die Lockdowns zum Aufbau einer Internetpräsenz gezwungen sahen. Die Reaktionen unterscheiden sich nicht nur nach der Organisationsform der Unternehmen, sondern auch nach der Größe der Stadt. Ein beliebtes Instrument zur Digitalisierung des stationären Einzelhandels sind Online-Marktplätze, die Sina Hardaker, Alexandra Appel, Paulina Doll und Kerstin Ströbel am Beispiel von „eBay Deine Stadt“ einer ersten Bewertung unterziehen.
In einem Meinungsbeitrag skizzieren Jens Nußbaum und Stefan Postert die wesentlichen Herausforderungen einer erfolgreichen Innenstadt-Transformation und formulieren einige zentrale Handlungsempfehlungen. Die Praxisbeiträge beginnen mit Julian Aengenvoorts Analyse der innerstädtischen Passantenfrequenzen in acht Großstädten vor, während und nach den pandemiebedingten Einschränkungen. Dieter Bullinger gibt einen Einblick in Prozess und Ergebnisse der DVAG-Zukunftswerkstatt, die in einer Sammlung von über 150 innovativen lokalen Initiativen zur Innenstadtentwicklung mündeten. Nach dieser Übersicht untersucht Klaus Mensing den strategischen Ansatz, durch Pop-up-Konzepte auf Basis reduzierter Mieten dauerhaft Neuansiedlungen zu generieren. Er stellt Beispiele vor und arbeitet Erfolgsfaktoren heraus. Heiner Schote zeigt in seinem Praxisbeitrag, wie vor allem privatwirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Initiativen zur Wiederbelebung der Berliner City West beitragen. Am Beispiel von Braunschweig arbeitet Sebastian Hallmann heraus, wie die Beteiligungsstrukturen und Maßnahmen des Innenstadtdialogs die Innenstadt zu beleben helfen. Natalie Schmiede schließlich stellt ein Konzept vor, das Einzelhändlern in der oberpfälzischen Stadt Schwandorf dabei hilft, ihre digitale Sichtbarkeit zu verbessern und Potenziale des E-Commerce zu erschließen.
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Die in diesem Themenheft versammelten Beiträge zeigen mehr als nur exemplarisch, was die Angewandte Geographie als Schnittmenge von angewandter Forschung und beruflicher Praxis zur Lösung aktueller Herausforderungen beitragen kann. Turbulente Zeiten bieten neue Möglichkeiten, erfordern aber auch enge Kooperation und Wissensaustausch. In seinem achten Jahrzehnt ist der DVAG daher vielleicht wichtiger denn je. Die Editoren dieses Themenhefts wünschen den Leser*innen viel Freude bei der Lektüre sowie Inspirationen für die Erforschung und Gestaltung urbaner Transformationsprozesse.
Matthias Kiese
Heiner Schote
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