Skip to main content

2022 | Buch

Deformation oder Transformation?

Analysen zum wohlfahrtsstaatlichen Wandel im 21. Jahrhundert

herausgegeben von: Prof. Dr. Sigrid Betzelt, Prof. Dr. Thilo Fehmel

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

insite
SUCHEN

Über dieses Buch

Der Sammelband verfolgt die Idee, beobachtbare De- und Transformationen der Wohlfahrtsproduktion sichtbar zu machen und daraufhin zu prüfen, wie grundlegend und wie nachhaltig sie jeweils sind. Analytisch werden dabei verschiedene Aspekte des Wandels resp. Ebenen unterschieden, auf denen sich De- und Transformationen der Wohlfahrtsproduktion manifestieren (können): der Wandel sozialpolitischer Ziele, Normen und Leitbilder, der Wandel von Akteurs- und Steuerungskonstellationen bei der Wohlfahrtsproduktion, Transformationen auf Ebene der Subjekte im transformierten Wohlfahrtsstaat und schließlich alternative Modelle der Wohlfahrtsproduktion und der sozialen Sicherung.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
Einleitung: Deformation oder Transformation? Analysen zum wohlfahrtsstaatlichen Wandel im 21. Jahrhundert
Zusammenfassung
Nichts ist so beständig wie die Veränderung.
Thilo Fehmel, Sigrid Betzelt

Transformation sozialpolitischer Ziele, Normen, Leitbilder

Frontmatter
Renationalisierung der Sozialpolitik
Die Zerstörung gesellschaftlicher Solidarität durch autoritären Populismus und neue Rechte
Zusammenfassung
Der Beitrag untersucht die mittlerweile entwickelten eigenständigen sozialpolitischen Programmatiken extrem rechter und rechtspopulistischer Parteien. Mit einem instruktiven Rekurs auf Polanyis Faschismusanalysen wird gezeigt, dass diese rechten Programmatiken eine spezifische Antwort auf Krisen (Finanzkrise, 2008) und Konfliktfelder (wie Migration) sowie gesellschaftliche Entwicklungen (z. B. Veränderung der Geschlechterverhältnisse und Familienformen) darstellen, die auch im Kontext der Widersprüche neoliberaler Sozialpolitikreformen zu sehen sind. Das entstehende Dispositiv extrem rechter Sozialpolitik beruht demnach auf einer Renationalisierung von Sozialpolitik, der Forcierung traditioneller Geschlechterverhältnisse sowie der Implementation exkludierender, punitiver und edukativer Sozialpolitiken, für die eine Reihe von Beispielen in Österreich und anderen Ländern angeführt werden.
Roland Atzmüller
Wohlfahrtsstaatliche Transformation als Prozess der Ent-/Solidarisierung
Zusammenfassung
Der Beitrag analysiert, inwiefern sich innerhalb wohlfahrtsstaatlicher Transformationen Inhalt und Semantik von Solidarität als sozialstaatlicher Leitidee gewandelt haben. Nach einer theoretischen Begriffsbestimmung von Solidarität in sozialstaatlichen Arrangements wie in sozialpolitischen Diskursen wird die Frage beispielhaft in zwei zentralen Feldern untersucht: der Gesetzlichen Krankenversicherung und der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Im Ergebnis zeigen sich frappierende Diskursverschiebungen, wie „Solidarität“ von politischen Akteuren umgedeutet und zugleich als politische Machtressource genutzt wird. Es kann damit gezeigt werden, dass sich sozialstaatliche Transformation auch in einem Wandel der Strukturen und sprachlichen Verwendung von Hochwertbegriffen wie Solidarität niederschlägt. Nach wie vor ist Solidarität als sozialstaatliche Leitidee und als Chiffre wohlfahrtstaatlicher Selbstbeschreibung unverzichtbar.
Stefanie Börner
Von der Frühverrentung zum Aktiven Altern
Zur sozialpolitischen Transformation der späten Erwerbsphase seit den 1970er Jahren
Zusammenfassung
Im Fokus des Beitrages steht der als paradigmatisch identifizierte normative wie auch strukturelle Wandel – von einer Politik der Frühverrentung hin zu einer des „Aktiven Alterns“. Eingeleitet wurden diese arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Reformen, infolge derer sich ältere Arbeitnehmer*innen steigendem Druck zu längerer Erwerbstätigkeit ausgesetzt sehen, dabei jedoch nur unzureichend durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen unterstützt werden. Auf Basis differenzierter Datenanalysen wird der Frage nachgegangen, inwiefern der erkennbare Anstieg der Alterserwerbstätigkeit im Einklang mit den persönlichen Übergangsabsichten und -präferenzen älterer wie auch jüngerer Arbeitnehmer*innen steht, welche sozialstrukturellen Unterschiede sich dabei zeigen, und inwiefern sich das Sparverhalten jüngerer Arbeitnehmer*innen an die sozialpolitischen Imperative privater Altersvorsorge angepasst hat. Im Ergebnis zeigt sich ein umfassendes Bild der Verschärfung sozialer Ungleichheiten im Ruhestandsübergang.
Dirk Hofäcker, Moritz Heß
Chancen in der Krise?
Zur De- und Refamilisierung in der Corona-Pandemie
Zusammenfassung
Die Corona-Pandemie unterwirft Familien einem radikalen, zumindest temporären Zwang zur (Re-)Familisierung (Rückverlagerung der Betreuungsaufgaben in die Familien). Entlang einer Studie zur lokalen Varianz in den Kinderbetreuungspolitiken wird skizziert, wie die Corona-Pandemie auf unterschiedliche Muster der doppelten Vergesellschaftung von Müttern trifft, die durch jeweilige kulturelle Leitbilder untermauert sind. Im Ergebnis kann diese Varianz von Kinderbetreuungspolitiken daher lokal unterschiedliche Auswirkungen auf die Geschlechtergerechtigkeit haben. Vier mögliche Zukunftsszenarien mit unterschiedlichen Potenzialen für die Geschlechtergerechtigkeit werden thesenhaft vorgestellt. Deutlich wird damit die Relevanz der regional-lokalen Ebene für die Analyse normativer Deutungsmuster in der Familienpolitik, verbunden mit einer instruktiven Analyse von Potenzialen und Risiken der Corona-Pandemie im Hinblick auf Geschlechterungleichheiten.
Viviane Vidot

Wandel von Akteurskonstellationen und die Transformation staatlicher Steuerung

Frontmatter
Deformation qua Externalisierung?
Der Umgang mit Erlösdruck im deutschen Krankenhauswesen
Zusammenfassung
Der deutsche Krankenhaussektor unterliegt seit einiger Zeit einem tief greifenden Transformationsprozess mit widersprüchlichen Erwartungen: Einerseits folgt er einem wohlfahrtsstaatlichen Versorgungsauftrag; andererseits sind Erlöse zu generieren. Eine mögliche Reaktion ist die Externalisierung von Erlösdruck durch die Beeinflussung von Patientenströmen. Im Rekurs auf einen organisationssoziologischen Zugang wird anhand von Fallstudien in 14 Kliniken sowie einer spezifischen Kombination qualitativer Analyseverfahren (Mixed-methods design, Qualitative Comparative Analysis) untersucht, wann es dazu kommt. Wie in den Häusern über den Zusammenhang von Erlösdruck und Qualitätseffekten gedacht wird, entscheidet mit darüber, ob der Transformationsprozess in eine Deformation des Versorgungsauftrags führt.
Ingo Bode, Hannu Turba
Tarifsozialpolitik und Vertariflichung sozialer Sicherung
Zusammenfassung
Im Fokus des Beitrages steht die Verlagerung staatlicher Verantwortung für die Sekundärverteilung auf nichtstaatliche Akteure (Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände), mithin Prozesse der Vertariflichung von Sozialpolitik. Gefragt wird, inwieweit die Kollektivakteure die ihnen übertragene Verantwortung normativ akzeptieren, faktisch übernehmen und substanziell ausfüllen. Dies wird in einem kontrastierenden Branchenvergleich mit einem qualitativen Methodenmix untersucht. Die Ergebnisse belegen einerseits die hohe Relevanz sektoral diverser Machtressourcen, die für unterschiedliche Grade und Ausprägungen einer Vertariflichung von Sozialpolitik verantwortlich sind. Andererseits wird aufgezeigt, dass die Bereitschaft der Akteure zur Übernahme tarifsozialpolitischer Verantwortung maßgeblich von ihrem Selbstverständnis abhängt. Angesichts selektiver Verteilungseffekte von Tarifsozialpolitik wird dafür plädiert, dass der Staat wieder nachdrücklicher seiner Erfüllungsverantwortung nachkommt.
Thilo Fehmel, Norbert Fröhler
Der Wandel des Wohlfahrtskorporatismus: Staat-Verbände-Beziehungen zwischen Kooperation und Konfrontation
Zusammenfassung
Mit der Marktöffnung für privat-gewerbliche Anbieter im Bereich von Pflegedienstleistungen wurde die ehemals privilegierte Stellung der Wohlfahrtspflege zurückgenommen, womit sich ihre traditionelle Doppelrolle als Leistungserbringer und politische Mitgestalter veränderte. Der Beitrag diskutiert die strukturellen Folgen dieser Entwicklung. Er zeichnet nach, wie sich die ehemals stark konsensorientierten Verbände-Staat-Beziehungen im Pflegesektor sukzessive weiterentwickeln zu weniger koordinierten, stattdessen stärker konfrontativen Beziehungen zwischen den Wohlfahrtsverbänden und staatlichen Akteuren. Es bildet sich ein hybrider Wohlfahrtskorporatismus zwischen „konfrontativem Korporatismus“ auf politischer Ebene und komplementären Strukturen der Leistungserbringung. Das stärker sozialadvokatorische Selbstverständnis der Verbände sorgt dafür, dass schwache Interessen im politischen Diskurs eher zur Kenntnis genommen werden (müssen), was zur Stabilität des politischen Systems beiträgt.
Thomas Lange
Finanzialisierung des Wohlfahrtsstaats
Zusammenfassung
Der Beitrag untersucht die Tragfähigkeit eines finanzialisierten Sozialstaats aus einer theoretisch angelegten Perspektive. Er vergleicht die Zielsetzungen und Akteurskonstellationen der bestehenden sekundären Einkommensverteilung sowie der Alterssicherung der Bundesrepublik mit dem finanzialisierten Modell aus dem Ansatz der behavioural finance, wie es von Robert Shiller vorgelegt wurde. Max Webers klassische Schrift „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ bietet das theoretische Motiv und die methodologische Schablone. Im Ergebnis wird konstatiert, dass mit Shillers Modell zwar die soziale Ungleichheit der Gesellschaft näher quantifiziert, transparent publiziert und qua Bundestagsbeschluss explizit reproduziert werden müsste. Ein solches Modell würde allerdings auf sehr großem Vertrauen in die bürokratische Rationalisierbarkeit sozialer Verhältnisse basieren und enthielte zweifellos erhebliches politisches Sprengpotenzial.
Jürgen Schraten

Individuelles Handeln und subjektive Verarbeitung im transformierten Wohlfahrtsstaat

Frontmatter
Soziale Dienstleistungen unter Druck: Ökonomisierungsgetriebene Handlungsdilemmata und ihre emotionalen Implikationen
Zusammenfassung
Im Fokus stehen die Effekte wohlfahrtsstaatlich induzierter Vermarktlichung und Ökonomisierung auf die Handlungsbedingungen in sozialen Dienstleistungseinrichtungen (Altenpflege, geförderte berufliche Weiterbildung) sowie die sich daraus ergebenden Arbeits- und Erlebensbedingungen der dort Beschäftigten. Auf Basis qualitativer Forschung werden die intraorganisationalen Konflikte und Handlungsdilemmata für die Arbeitssubjekte aufgezeigt, um dann deren emotionale Implikationen zu fokussieren. Zutage gefördert werden belastende emotionale Zustände wie Ängste und Frustrationen, die in einen Teufelskreis aus sich gegenseitig negativ verstärkenden Coping-Strategien auf Handlungs- und Organisations-Ebene münden können. Diagnostiziert werden daher tendenziell deformatorische Wirkungen wohlfahrtsstaatlicher Transformation, die freilich auch den Keim potenzieller Widerstandsformen gegen die beschriebenen Entwicklungen in sich tragen.
Andreas Albert, Sigrid Betzelt, Sarina Parschick
Die Verwobenheit von Freiwilligenarbeit und aktivierendem Sozialstaat
Zusammenfassung
Die Programmatik des aktivierenden Sozialstaates wird gemeinhin mit der Zuführung von mit Blick auf Erwerbsarbeit inaktiven Personen zum Arbeitsmarkt in Verbindung gebracht. Gezeigt wird anhand rekonstruktiv-qualitativer Untersuchungen, dass diese Erwerbsarbeitsorientierung auch in Handlungspraxen wirksam ist, in denen die unmittelbare, kontraktualisierte Einkommenserzielung als Kriterium für Beruflichkeit und als Aktivierungsziel keine Rolle spielt. Denn auch im Bereich freiwilliger Arbeit lassen sich bei den dort „ehrenamtlich“ Tätigen Orientierungen nachweisen, die für die Übernahme beruflicher oder unternehmerischer und in diesem Sinne erwerbsarbeitstypischer Handlungsweisen sprechen. Das deutet insgesamt darauf hin, dass die sozialstaatlichen Aktivierungsimperative des gegenwärtigen Sozialstaates einen über die unmittelbare Arbeitsmarktzuführung weit hinausgehenden Einfluss haben und in ambivalenter Art und Weise handlungsorientierend für die Freiwilligen werden.
Carolin Mauritz

Alternative Transformationen der Wohlfahrtsproduktion

Frontmatter
Jenseits der sozialen Fragen
Wirkungen und Folgewirkungen sozialer Sicherheit
Zusammenfassung
Gerade der Sozialpolitik kommt es zu, die wesentlichen Voraussetzungen für politische Großprojekte wie die sozial-ökologische Transformation zu schaffen. Wenn Sozialpolitik in demokratisch verfassten Gesellschaften das Bedürfnis relevanter Gruppen nach sozialer Sicherheit nicht adäquat erfüllt, hat dies für Individuen wie auch für Politik negative Effekte, die in politischem Immobilismus zu enden drohen. Daher trägt die sozialstaatliche Erzeugung sozialer Sicherheit, einschließlich einer zukunftsbezogenen Erwartungssicherheit, wesentlich dazu bei, die durch große Transformationsprozesse entstehenden sozialen und individuellen Kosten zu überbrücken, bis ein gesellschaftlicher Umbau längerfristig soziale, politische und ökonomische Erträge erzielen kann. Im Gegensatz zu neoliberalen Annahmen wirkt soziale Sicherheit demnach nicht bremsend, sondern ermöglichend auf gesellschaftliche Innovationen.
Georg Vobruba
Nachhaltige Arbeits- und Sozialpolitik
De-Formation des Wohlfahrtsstaats in der sozial-ökologischen Transformation?
Zusammenfassung
Der Beitrag problematisiert die Rolle von Sozialpolitik in der Nachhaltigkeitstransformation. Denn der Wachstumswohlfahrtsstaat agiert selbst da, wo er soziale Probleme löst, ökologisch problemverursachend. Am Beispiel der Automobilität wird gezeigt, dass einer nachhaltigen Arbeits- und Sozialpolitik eine entscheidende Rolle für eine Nachhaltigkeitstransformation zukommt. Allerdings stehen dabei grundsätzlich die auf Wachstum basierenden Wohlstandsmodelle und wohlfahrtsstaatlichen Strukturen zur Disposition. Eine nachhaltige Transformation des national begrenzten, wachstumsbasierten und lohnarbeitszentrierten Wohlfahrtsarrangements bedarf, so die These, im Grunde seiner De-Formation. Die soziologische Sozialpolitikforschung muss ihren Horizont auf globale (sozial-)ökologische Zusammenhänge erweitern, um die entscheidenden Transformationen spätkapitalistischer Gesellschaften zutreffend beschreiben zu können.
Thomas Barth, Stephan Lessenich
Universal Basic Services: A Theoretical and Moral Framework
Zusammenfassung
Als sozialpolitische Alternative zu einem wieder verstärkt diskutierten Vorschlag eines Bedingungslosen Grundeinkommens werden “Universal Basic Services” (UBS) vorgeschlagen, also ein umfassendes System universeller öffentlicher Dienstleistungen, für das ein theoretisches und ethisches Argumentationsgerüst vorgelegt wird. Den Bezugsrahmen bildet der theoretische Ansatz allgemeiner menschlicher Bedürfnisse (common human needs) und des Capability-Ansatzes sowie das Konzept umfassender Systeme der Daseinsvorsorge. Argumentiert wird, dass ein Versorgungssystem von UBS als Teil einer grundlegend erneuerten Ökonomie (foundational economy) besser für die kollektive Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse geeignet ist als der „Turbokonsumkapitalismus“. Die Überlegenheit von UBS liegt zugleich darin, dass damit die sozialpolitischen Werte von Gleichheit, Effizienz, Solidarität und Nachhaltigkeit besser zu erfüllen sind.
Ian Gough
Metadaten
Titel
Deformation oder Transformation?
herausgegeben von
Prof. Dr. Sigrid Betzelt
Prof. Dr. Thilo Fehmel
Copyright-Jahr
2022
Electronic ISBN
978-3-658-35210-3
Print ISBN
978-3-658-35209-7
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-35210-3