Skip to main content

1991 | Buch

Demokratietheorie und politische Institutionen

verfasst von: Udo Bermbach

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

insite
SUCHEN

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Zur Demokratietheorie

Frontmatter
1. Rätesysteme als Alternative
Zum Repräsentationscharakter direkt-demokratischer Organisationsprinzipien
Zusammenfassung
Fünfzig Jahre nach dem Scheitern der ersten deutschen Rätebewegung* von 1918/19 erlebt die Diskussion des Rätegedankens in Deutschland eine neue, vielfach unerwartete Renaissance: zunehmend prinzipielle Kritik an der demokratischen Integrationskraft wie an mangelnder Effektivität des parlamentarischen Regierungssystems haben über den Gedanken partieller, vorwiegend instrumentaler Reformen der Führungs- und Leitungsgremien dieses Staates hinaus die Suche nach möglichen alternativen Verfassungsmodellen forciert und dabei jene Kritiker, denen der bürgerliche, parlamentarische Verfassungsstaat als historisch bezogen und deshalb unter den gegenwärtig gegebenen sozio-ökonomischen Bedingungen überholt erscheint, mehr und mehr auf das Modell einer Rätedemokratie verwiesen. Die alte Parole Lenins aus den Tagen der russischen Revolution: ‘Alle Macht den Räten’ wird von der außerparlamentarischen Opposition, vorwiegend den linken Studenten, als Kampfparole gegen spätbürgerlichen Parlamentarismus verstanden und wieder aktualisiert — zu einem Zeitpunkt übrigens, da die bürgerliche Historiographie sich im Zuge der genaueren Erforschung der deutschen Revolution von 1918/19 verstärkt auch dem Rätesystem in seiner damaligen Ausprägung und seinen systemimmanenten Konsequenzen zuwendet und hierbei alte Legenden — so die der Identität von Rätesystem und Bolschewismus — als Ideologisierungen reaktionarer oder doch antisozialistischer Interessen auf ihren jeweiligen historischen Wahrheitskern zurückführt1.
Udo Bermbach
2. Rätegedanke versus Parlamentarismus
Überlegungen zur aktuellen Diskussion der Neuen Linken
Zusammenfassung
„Wir zielen ein System direkter Demokratie an, und zwar von Rätedemokratie, die es den Menschen erlaubt, ihre zeitweiligen Vertreter direkt zu wählen und abzuwählen, wie sie es auf der Grundlage eines gegen jedwede Form von Herrschaft kritischen Bewußtseins für erforderlich halten. Dann würde sich Herrschaft von Menschen über Menschen auf das kleinstmögliche Maß reduzieren.“1 Die mit solchen Worten bezeichnete neuerliche Aktualisierung des vermeintlich schon historisch gewordenen Rätegedankens durch Theorie wie Aktionen der Neuen Linken verbindet sich mit der weltweit beobachtbaren Unzufriedenheit und Kritik einer Intelligenz, die den immer wieder beschworenen demokratischen Legitimitätsanspruch westlich-parlamentarischer Gesellschaften radikalisiert, um ihn solchermaßen gewendet gegen das bestehende Institutionengefüge ausspielen zu können bzw. seine Einlösung zu verlangen. Dabei läßt die Erfahrung, daß der liberal verfaßte Staat auch nach seiner unübersehbaren Wandlung zur dirigistisch orientierten „Daseinsfürsorge“ (Forsthoff) noch immer jenen Fundamentalprämissen folgt, nach denen er zu Zeiten der bürgerlichen Revolution angetreten war, daß er beispielsweise zumeist nur mit zeitlicher Verspätung und unter hohen Kosten, durch Krisenerfahrung also, jene Bereiche öffentlicher Bedürfnisse zu erkennen und befriedigen vermag, die sich privatwirtschaftlichem Maximierungsdenken zünachst entziehen, nach immer neuen Möglichkeiten demokratischen Selbstverständnisses und seiner praktischen Umsetzung suchen.
Udo Bermbach
3. Repräsentation, imperatives Mandat und recall: Zur Frage der Demokratisierung im Parteienstaat
Zusammenfassung
Daß Demokratie heute in aller Munde ist, „als Schlagwort zur Begründung jedweder Politik ins Feld geführt“1 wird, ist oft genug und zurecht bemerkt worden. Wie immer politische Organisationsformen der Gegenwart verfaßt sein mögen, die demokratische Intention wird ihnen als legitimierendes Theorem von vornherein unterschoben, nicht zuletzt in der Absicht, mögliche Kritik am sozio-politischen Kontext, den Aufweis der demokratischen Bruchstellen im Verfassungsgefüge antizipierend als potentiell undemokratisch verwerfen zu können. Die damit zugleich betriebene inhaltliche Entleerung demokratischer Begrifflichkeit führt gelegentlich zu paradoxen Aussagen, so beispielsweise dann, wenn in offenbarer Verkehrung politischer Verhältnisse behauptet wird, einen anderen als den demokratischen Staatstyp gebe es heute nicht mehr2, was wohl meint, daß alle Verfassungen der Welt sich mittlerweile zu demokratischer Selbstlegitimierung gezwungen sehen.
Udo Bermbach
4. Bürgerinitiativen — Instrumente direkter Demokratie
Thesen zur Aktivierung und Organisierung fragmentierten bürgerlichen Bewußtseins
Zusammenfassung
Unter alien Formen spontaner politischer Organisierung und basis-demokratischer Mobilisierung in liberal-parlamentarischen Regierungssystemen haben Bürgerinitiativen, so will es jedenfalls scheinen, während der letzten Jahre am spektakulärsten öffentliches Interesse auf sich gezogen. Nicht nur die Tagespresse1 auch Politiker aller Parteien2 erwiesen dem offensichtlich neu erwachten politischen Engagementwillen des vielfach beschworenen „mündigen Bürgers“3 ihre Referenz, freilich mit spürbarer Unsicherheit gegenüber einem Phänomen, dessen institutionelle Verortung wie praktisch-politische Konsequenzen sich zunächst nur schwer abschätzen ließen. So wenig einerseits gegen das durchbrechende Verlangen des Bürgers nach Mitbestimmung und Mitentscheidung einzuwenden war, so problematisch blieb doch, daß das sichtbar werdende politische Potential sich nicht in traditionellen Organisationen, wie den politischen Parteien, einband, sondern außerhalb dieser bestehenden Willensbildungs- und Entscheidungskanäle in unkontrollierbarer Selbständigkeit agierte. Vollends verdächtig wurden Bürgerinitiativen vielen professionellen Politikern spätestens dann, als sie mit dem der Studentenrevolte entlehnten Instrumentarium von Demonstrationen, Go-ins, Sit-ins, Besetzungen und anderem mehr ihre Ziele zu verwirklichen suchten, Konflikte dramatisierten und dabei „die Administration vor das Problem des Legitimitätsverlustes und die administrative Aufgabe der Massenverhaftung“4 stellten; eine nicht zuletzt deshalb so prekäre Situation, weil im Unterschied zu studentischen Demonstrationen ihre Mitglieder vor der Öffentlichkeit — aus einer Reihe schwerwiegender Gründe — nicht umstandslos zu kriminalisieren waren.
Udo Bermbach
5. Wertewandel und politisches Institutionensystem
Zusammenfassung
Die folgenden Überlegungen* thematisieren — wenn auch in einer außerordentlich verkürzten und selektiven Weise — einen Zusammenhang, der innerhalb der Wertewandel-Diskussion, wie sie während der vergangenen Jahre vornehmlich in den Sozialwissenschaften geführt worden ist1, selten angesprochen wurde, auf den deshalb hingewiesen werden soil, ohne freilich eine ins Detail gehende Analyse damit verbinden zu können: den Zusammenhang von veränderten gesellschaftlichen Werte- und Verhaltensmustern in ihrer Wirkung auf das vorherrschende Politik-Verständnis sowie die Selbst- und Fremdinterpretation politischer Institutionen. Meine These ist — um dies vorweg zu sagen —, daß die teilweise erheblichen Veränderungen der gesellschaftlichen Wertpräferenzen auch zu einem veränderten Politik-Verständnis geführt haben, das seinerseits wiederum nicht ohne tiefgreifende Folgen für die Funktionsfähigkeit wie Legitimierbarkeit der zentralen politischen Institutionen der parlamentarischen Demokratie bleiben kann.
Udo Bermbach

Zur Theorie politischer Institutionen

Frontmatter
6. Über Landstände
Zur Theorie der Repräsentation im deutschen Vormärz
Zusammenfassung
„In allen Bundesstaaten wird eine Landständische Verfassung stattfinden.“ Diese knappe Formulierung des nachmals so bedeutsamen und heftig umstrittenen Artikels 13 der Deutschen Bundesakte von 1815 bezeichnet für die deutsche Verfassungsgeschichte den Durchbruch zur geschriebenen Verfassung im modernen, d.h. liberal-konstitutionellen Sinne. Unter mehrfachem Druck, dem der ideologischen Auswirkung der Französischen Revolution, dem der eben, nicht zuletzt mit Hilfe des sich politisch emanzipierenden Bürgertums gewonnenen Freiheitskriege und schließlich dem des unausweichlichen Zwanges, innerhalb traditionsloser, teilweise willkürlich geschaffener Partikularstaaten wirksame Integrationsinstrumente für den erwünschten teilnationalen Willensbildungsprozeß bereitzustellen, wurde diese Formel — vage genug1 — in die Bundesakte aufgenommen. Was sie jedoch präzise besagen sollte, blieb zunächst unklar oder doch absichtlich ungeklärt. Denn weder waren Zeitpunkt der postulierten Verfassungsschöpfung noch gar die Art einer solchen Verfassung eindeutig festgelegt. Landstände: das konnte sich beziehen auf die vorrevolutionäre Mitsprache ständischer Repräsentanten, es konnte in Anlehnung an revolutionäre Vorbilder eine Volksvertretung mit vielleicht eng umgrenzten, aber doch rechtlich garantierten und vor allem politisch wirksamen Mitspracherechten gegenüber einem monarchischen Souverän bedeuten, ja sogar in demokratischer Interpretation die Volksvertretung selber als höchsten Souveran der Verfassung bezeichnen2. Die absichtlich dunkel gewählte Kompromißformel ließ solche kontradiktatorischen Auslegungen nich nur zu, sie forderte diese geradezu heraus.
Udo Bermbach
7. Zum Institutionenverständnis in der Zeit der Reformation
Zusammenfassung
Die folgenden Überlegungen zu Interpretationsaspekten religiös fundierter und theologisch inspirierter Institutionenkonzepte beziehen sich auf jene historische Umbruchsphase europäischer Geschichte, die gemeinhin als die Zeit der Herausbildung des frühmodernen Staates gesehen wird. Es ist dies ein historischer Abschnitt, in dem die tradierten gesellschaftlichen und politischen Institutionen durch weitgreifende strukturelle Änderungen problematisiert werden und unter beträchtlichen Legitimationsdruck geraten, sich einer durchgreifenden Neuinterpretation ausgesetzt sehen, die selbst Ausdruck des generellen Gesellschaftswandels mit entsprechenden Konsequenzen für die zentralen Institutionen der Zeit ist. Gleichsam stichwortartig wäre darauf zu verweisen, daß mit der Auflösung feudaler Produktionsweise und der beginnenden Spezialisierung und Kommerzialisierung von Landwirtschaft und handwerklicher Produktion, mit der Entwicklung und Stärkung des Finanz- und Handelskapitals und den sich ausbildenden internationalen Märkten, mit der Verstädterung und der Vermehrung der Bevölkerung bei gleichzeitiger Auflösung traditioneller Zunftordnungen, der „Formierungsprozeß des kapitalistischen Weitsystems“ (Dülmen 1982: 10) beginnt, dem in Parallele die Emergenz des modernen Staates, seiner Idee und fundamentalstrukturellen Befindlichkeit korrespondiert. Beobachtbare Zentralisierungstendenzen an den europäischen Königshöfen, konkretisiert in kabinettsähnlicher Regierungsorganisation, Ausbau des bis dahin rudimentären Finanz- und Steuerwesens, Einrichtung und Verstärkung bürokratischer Beamtenapparate und allmähliche und konsequente Professionalisierung des Militärs, Territorialisierung von Herrschaft und das gleichzeitige Zurückdrängen ständischer Rechte und Privilegien sowie die Durchdringung des mittelalterlichen Lehensrechtes mit römischem Rechtsverständnis sind Indikatoren des Beginns der europäischen Moderne.
Udo Bermbach
8. Politische Institutionen und gesellschaftlicher Wandel
Zum Institutionenverständnis im politischen Denken der Neuzeit
Zusammenfassung
Die folgenden Überlegungen1 unternehmen den Versuch, in aller, durch die Zeit erzwungenen, Kürze eine These zu formulieren, die — im Anschluß an bestimmte neuere gesellschaftstheoretische Diskussionen — behauptet, daß die Entwicklung politischer Institutionen bzw. Institutionen-Ensembles innerhalb neuzeitlicher Politik-Konzepte einem evolutionären Entwicklungsmuster folgt, das im wesentlichen die beobachtbare und allmählich sich vollziehende Ausdifferenzierung institutioneller Organisationsschemata in einen Zusammenhang mit dem parallelen Prozeß der Generalisierung von Freiheit und Gleichheit als den zentralen bürgerlichen Basisnormen bringt. Behauptet wird, daß in dem Maße, wie Freiheit und Gleichheit ihren normativen Anspruch historisch zunehmend zwingender einfordern, institutionentheoretisch innerhalb des politischen Denkens der Neuzeit durch die Strategien der Differenzierung und Komplexitätssteigerung sowohl inner- wie intra-institutionell darauf reagiert wird, wobei diese Strategien sich auf verschiedene Aspekte institutioneller Probleme beziehen. Zugleich sind mit diesen Strategien die zwei wichtigsten Möglichkeiten bezeichnet, die für alle institutionstheoretisch relevanten Aspekte analytische Bedeutung haben und mit deren Hilfe die Entwicklung der politischen Institutionen auf der Theorie-Ebene von Politik-Konzepten nachvollzogen werden kann. Dabei soil — um Mißverständnissen rechtzeitig vorzubeugen — gleich darauf hingewiesen werden, daß die für diese These gegenläufigen Tendenzen, die es selbstverständlich ebenfalls gibt — etwa als utopische, konservative oder auch sozialistische Politik-Konzepte —, nicht berücksichtigt werden; hauptsächlich deshalb nicht, weil es hier nicht um eine primär historische, sondern um eine eher systematische Analyse von Institutionen-Konzepten geht, sowie um eine evolutionstheoretische Hypothese, mit der zweierlei unterstellt wird: zum einen, daß die der modernen bürgerlichen Demokratie innewohnenden Zentralnormen Freiheit und Gleichheit sich im historischen Entwicklungsprozeß theoretischer Politik-Konzepte der letzten Jahrhunderte immer stärker durchgesetzt haben, so daß zum anderen dieser Prozeß unter der Perspektive der Entfaltung dieser beiden Normen auch am Beispiel politischer Institutionen-Konzepte rekonstruiert und als qualitativer Entwicklungsprozeß im Sinne des bürgerlichen Aufklärungsparadigmas verstanden werden kann.
Udo Bermbach
9. Defizite marxistischer Politik-Theorie
Zur Notwendigkeit einer anthropologischen und institutionstheoretischen Fundierung materialistischer Staatstheorie
Zusammenfassung
Neuere theoretische Selbstinterpretationen der liberalen Demokratien westlicher Industriegesellschaften haben in ihren Interpretationskonzepten auf den Begriff des „Staates“ und auf den Versuch der Formulierung einer „Staatstheorie“ mehr und mehr verzichtet. Unter dem Einfluß angelsächsischer Demokratietheorien ist das in der deutschen Tradition ehemals dominierende juristische Staatsdenken zunehmend stärker zurückgedrängt worden, und an seine Stelle sind Varianten einer Pluralismus-Theorie getreten, die die Ziele allgemeinen politischen Handelns als Ergebnis eines Kompromisses gesellschaftlicher Teilinteressen auf der Basis nichtkontroverser gesellschaftlicher Wertentscheidungen versteht, also Interessenartikulation und Interessenorganisation im Rahmen nichtdisponibler Prinzipien in einem gleichsam staatsfreien Raume stattfinden läßt. Die Pluralismus-Theorie hat im strikten Sinne keine „Staats“-Theorie zu entwickeln vermocht, sie konnte dies ihrer Intention nach auch nicht, denn sie war zunächst und vor allem einmal Theorie gesellschaftlicher Selbstorganisation, die die Einheit des Ganzen zwar nicht durch das „Parallelogramm der Kräfte“, wohl aber durch die Anerkennung eines „unstreitigen Sektors“ (Fraenkel) verbürgt glaubte. Sofern in pluralismustheoretischen Konzepten der Begriff des „Staates“ auftaucht, bleibt weitgehend unklar, was eigentlich damit gemeint ist. Bezeichnet die Rede vom „Staat“ zumeist Regierungsinstitutionen, so läßt sich — in Analogie und Parallele zu Marx — von der Rücknahme des Staates in die Gesellschaft, von seiner prozessualen Auflösung im Medium der Repräsentation und den parlamentarisch-demokratischen Verfahrensregeln sprechen, dem zugleich die „Vergesellschaftung“ des Politik-Begriffs entspricht. Während vor allem die juristische Staatslehre den Bereich des Politischen den zentralen Staatsinstitutionen zugesprochen hatte — etwa in der Souveränitätsdoktrin —, interpretiert die Pluralismus-Theorie die gesellschaftliche Selbstorganisation und deren bargaining-Prozesse selbst schon als „politisch“ und sieht in allgemeinen Willensbildungs- und Entscheidungsregeln den konstitutiven Rahmen politischen Handelns. Konsequent wird Politik deshalb auch als „Bereichs-Politik“ verstanden und löst die Analyse von „Politik-Feldern“ innerhalb unterschiedlicher Teilbereiche der Gesellschaft das Interesse am „Staat“ ab.
Udo Bermbach
10. Die Aufhebung der Politik durch revolutionäre Philosophie
Überlegungen zu einigen frühen Schriften von Georg Lukács
Zusammenfassung
Sich auch nur mit einem Teil des umfangreichen Werkes von Georg Lukács auseinandersetzen zu wollen, bedeutet für einen, der kein Spezialist ist, ein nicht geringes Risiko. Denn einem schnellen und allenfalls partiell gesicherten Urteil steht ein Lebenswerk entgegen, dessen Bogen sich spannt von der Literatur und Ästhetik über die Philosophie hin zur Politik, in dem sich noch einmal das Ideal bildungsbürgerlicher Gelehrsamkeit verwirklicht, allerdings in der Absicht, den kulturellen Entwicklungsprozeß des europäischen Bürgertums zu seinem ‘wahren’, d.h. revolutionären Abschluß zu bringen; ein Denken, dessen umfassender Anspruch nicht nur die Entwicklung marxistischer Philosophie und Theorie nachhaltig beeinflußt hat, sondern darüber hinaus auch noch jenes Denken affizierte, dem seine ganze Kritik galt; ein Gelehrter, dessen politisches Verhalten in seiner konsequenten Widersprüchlichkeit nicht nur die Widersprüchlichkeit seines Werkes widerspiegelt, sondern auch das Urteil darüber außerordentlich erschwert; und schließlich jene Fülle publizierter Auseinandersetzungen zu Werk und Person, die mit ihrer je unterschiedlichen, oftmals entgegengesetzten Bewertung und Einschätzung, mit ihrer Bewunderung wie Verurteilung die eigene Orientierung nicht eben erleichtern.
Udo Bermbach
11. Utopischer Minimalismus
Von der Utopie zur utopischen Intention
Zusammenfassung
Nichts könnte im Augenblick weniger zutreffend sein als der erste Satz einer 1968 erschienen Anthologie, der lapidar feststellt: „Die Vokabel ‘Utopie’ ist gegenwärtig ungemein beliebt“1. Denn utopisches Denken ist aus der Mode und nicht zuletzt durch den Zusammenbruch des sogenannten realen Sozialismus, der sich selbst als Abschnitt auf dem Weg zur Verwirklichung einer ‘wissenschaftlich’ fundierten Utopie begriff, anscheinend restlos diskreditiert. Und doch zeigt ein Blick in die Geschichte des politischen Denkens, daß von Anfang an, seit der Antike, alle Anstrengung politisch-konzeptionellen Denkens immer auch zentral auf das Ausmalen eines besseren gesellschaftlichen Zustandes gerichtet war2. Platons Dialoge über Inhalt und Struktur der besten Polis sind das Urbild einer utopischen Phantasie, die sich mit dem präzisen Erfassen dessen, was ist, nicht zufrieden geben will, und selbst Aristoteles, der sich in seinem Denken stets empirisch orientierte, richtete doch all seine Anstrengungen darauf herauszufinden, wie denn die Bedingungen für ein ‘gutes Leben’ auszusehen hätten und in welcher Form sie sich institutionell konzipieren ließen. Das siebte und achte Buch seiner ‘Politeia’ handelt vom ‘besten’ Staat und entwickelt die Prinzipien, auf die dieser sich nach Überzeugung des Philosophen zu gründen hat. Das zeigt, pars pro toto, was große politische Philosophie immer ausgezeichnet hat: daß sie die Linien individueller wie gesellschaftlicher Existenz über den status quo hinweg auszuziehen suchte und jenen kognitiven Überschuß, der den Menschen vom Tier unterscheidet, ins Konzeptionelle einer zukünftigen Selbstorganisation zu wenden suchte. Ob dies als „Utopian propensity“3 ein dem westlichen Denken eigentümliches Phänomen ist, darf bezweifelt werden, mag aber dahingestellt bleiben; daß es indessen immer wieder und kontinuierlich auftaucht, trotz aller Rückschläge nicht zum Verschwinden zu bringen ist, vielleicht am wirkungsvollsten sich in jenem Typus ‘chiliastischen Denkens’4 entfaltet, das in der abendländischen Politik-Tradition mit Augustinus anhebt, ist allerdings unbestreitbar.
Udo Bermbach

Zur politischen Theoriengeschichte

Frontmatter
12. Bemerkungen zur politischen Theoriengeschichte
Zusammenfassung
Richard Ashcraft hat jüngst in einer vehement geschriebenen Polemik sich gegen jene beobachtbare Tendenz gewandt, politische Theoriengeschichte zunehmend nur noch als Sozialphilosophie zu betreiben. Er hat diese Tendenz, die ihren Ausdruck findet in der Bevorzugung ‘überzeitlicher Fragen’ und der Reflexion auf das gesellschaftsenthobene ‘Wesen des Menschen’, als einen gravierenden Verlust historischer Substanz von Theoriengeschichte charakterisiert, in dessen Konsequenz sich große Systementwürfe — wie etwa die von Hobbes und Hegel — angesichts ihrer hohen logischen Konsistenz und ihrer philosophischen Gründlichkeit einer generell höheren Wertschätzung erfreuen als die eher eklektizistisch anmutenden Theorien etwa eines Locke, J. St. Mill oder Rousseau. Sein Schluß aus dieser Feststellung: „In most instances, a student could gather more historical and sociological information from reading a novel or a play contemporaneous with a particular political theorist than he or she would find in a secondary work discussing the ideas of that political theorist“ (Ashcraft 1980: 689).
Udo Bermbach
13. Zur Entwicklung und zum Stand der politischen Theoriengeschichte
Zusammenfassung
Als im Mai 1952* die ein Jahr zuvor gegründete „Vereinigung für die Wissenschaft von der Politik“ — der Name wurde 1959 in „ Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft“ umgeändert1 — in Berlin ihre erste wissenschaftliche Tagung veranstaltete, stand die Frage einer Ortsbestimmung des neuen Faches, seines Verhältnisses zu den Nachbardisziplinen ebenso wie das seiner eigenen Teilbereiche zueinander im Zentrum der Diskussionen. Die Vorbereitungsphase der Neuetablierung, die mit den Konferenzen von Waldleiningen und Königstein/Ts. 1949 begonnen hatte2, war abgeschlossen. Erforderlich schien nunmehr die Durchsetzung im Sinne einer Fundierung auf eigenen Forschungsfeldern und vielleicht durch Ausweis einer eigenen Methodologie, die Bestimmung der inner- wie außeruniversitären Aufgaben und Funktionen, um sowohl organisatorisch eine dauerhafte Existenz abzusichern, den Ausbau des Faches projektieren zu können als auch die Akzeptanz der traditionellen Konkurrenzfächer zu erreichen. Alfred Weber, Soziologe und einer der Promotoren des Gründungsgedankens einer politikwissenschaftlichen Vereinigung, konnte damals in seiner Eröffnungsrede mit einer gewissen Befriedigung feststellen, die Politische Wissenschaft genieße mittlerweile „eine gewisse Art von Bürgerrecht an den Universitaten“3; aber er verwies zugleich mit großem Nachdruck auf den nach wie vor bestehenden, teilweise massiven Widerstand der übrigen, häufig themennahen Disziplinen, die einerseits zusätzliche Konkurrenz befürchteten, andererseits aber auch meinten, daß „in die Hochschulen politische Fragen hineingetragen würden und die Hochschule politisiert werde“ — eine Meinung, die heute zwar weniger in den Universitäten und Hochschulen, bei passender Gelegenheit dafür um so vehementer von außen gegen das Fach vorgetragen wird.
Udo Bermbach
Backmatter
Metadaten
Titel
Demokratietheorie und politische Institutionen
verfasst von
Udo Bermbach
Copyright-Jahr
1991
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-322-99307-6
Print ISBN
978-3-531-12304-2
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-322-99307-6