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2018 | Buch

Der Staat und die Sicherheitsgesellschaft

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Über dieses Buch

Der Band vermisst die Rolle des Staates im Feld der Inneren Sicherheit und das Verhältnis von Staat und Gesellschaft angesichts der massiven Bedeutungssteigerung, die individuelle Sicherheit vor Kriminalität und Bedrohungen in der jüngeren Vergangenheit erfahren hat. Inwiefern ist der Staat an der Herstellung der neuen Sicherheitsbedürfnisse beteiligt? Wie begegnet er ihnen? Zieht er sich zurück, regiert er aus der Distanz oder ist das Feld der Sicherheitsproduktion für staatliche Akteure ein besonders attraktives? Diesen Fragen gehen die Beiträge des Sammelbandes aus verschiedenen disziplinären Perspektiven nach. Sie nehmen sowohl diverse aktuelle Facetten der Entwicklung in den Blick, als auch die Veränderungen in den zurückliegenden zwei bis drei Jahrzehnten.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Grundlegende Perspektiven

Frontmatter
Bringing the State back in
Oder: Was hat der Staat in der Sicherheitsgesellschaft verloren?
Zusammenfassung
Der Beitrag untersucht mögliche Schnittstellen und Zusammenhänge zwischen staatlicher Politik, gesellschaftlichen Prozessen und dem epochalen Trend zu einem sicherheitsgesellschaftlichen Kontrollregime. Die Beziehungen zwischen Staat und Sicherheit werden vor dem Hintergrund unterschiedlicher staatlicher Arrangements und Politikstrategien diskutiert.
Reinhard Kreissl
Sicherheitsstaat und neue Formen des Autoritären (Staates) in Europa?
Ein Versuch begrifflicher Annäherung
Zusammenfassung
Was ist eigentlich ein „Sicherheitsstaat“, durch welche Merkmale unterscheidet er sich vom Rechtsstaat oder der Demokratie? Oder handelt es sich um einen autoritären Staat? Der Beitrag versucht, Abgrenzungen und Begriffsbestimmungen vorzunehmen. Ausgangspunkt ist dabei der Sicherheitsstaat, der in Beziehung gesetzt wird zum Rechtsstaat und zur Demokratie. Verschiedene Formen der Herrschaft werden dazu gegeneinander abgegrenzt: autoritärer Staat, Faschismus, libertärer Rechtsstaat, plurale Demokratie, gelenkte und exkludierende Demokratie. Im Ergebnis ist der Sicherheitsstaat keine eigenständige Kategorie, sondern mehr oder weniger stark ausgeprägter Bestandteil dieser Herrschaftsformen.
Kadriye Pile, Andreas Fisahn
Das Paradox der Prävention
Über ein Versprechen des Rechts und seine Folgen
Zusammenfassung
Die Idee der Prävention ist allgegenwärtig. Der Staat reagiert damit auf die Freiheitsinteressen des Individuums. Freiheitsinteressen und Prävention verschmelzen im Rechtssicherheitsparadigma. Danach garantiert die gewalthabende Autorität die Verwirklichung subjektiver Rechte. Im Gegenzug kann sie vom Einzelnen – und der Gesellschaft – allgemeine Anerkennung verlangen. Die Garantiefunktion des Rechtssicherheitsparadigmas artikuliert die doppelte Schutzperspektive: Schutz vor staatlicher Macht und Schutz vor „lebensweltlichen Verunsicherungen“. Allerdings basiert dieses Projekt auf einem Paradox, auf dem Paradox der Prävention. Das Paradox besteht darin, dass Freiheitsinteressen und Rechtsstatus gerade dadurch stabilisiert werden sollen, dass das immer mögliche Gefahrenund Verunsicherungsszenario im Bewusstsein gehalten, gleichzeitig aber dessen Beherrschbarkeit in Aussicht gestellt wird. Staat und Staatsgewalten werden so fortlaufend mit neuen Gewährleistungskompetenzen ausgestattet. Der durch die liberale Moderne annoncierte Autonomiegewinn des Individuums wird so aber auf der Rückseite mit erheblichen Machterweiterungen des Staates verknüpft, deren Effekte wir unter dem Titel der „Kontroll- und Überwachungskultur“ diskutieren.
Benno Zabel

Konkretisierungen

Frontmatter
Zur Politik der Sicherheitsversprechen
Die biometrische Verheißung
Zusammenfassung
Staatliche Sicherheitsversprechen werden zunehmend an technologische Verfahren geknüpft, um Sicherheitsproblemen infolge von Naturkatastrophen und Großunfällen sowie Bedrohungen durch Terrorismus und Kriminalität mit passgenauen Lösungen zu begegnen. Der Beitrag zeigt am Beispiel der Biometrie, die seit 2001 in Deutschland als Schlüsseltechnologie im Bereich der Inneren Sicherheit wahrgenommen wird, dass der Technologie diese Passgenauigkeit nicht innewohnt. Mit Hilfe des Konzeptes der politischen Ökonomie der Versprechen lässt sich der Prozess rekonstruieren, in dem Visionen der Technologie nicht nur konstruiert, sondern das mittlerweile heterogene Feld der Biometrie immer wieder neu ausgelotet und vorangetrieben wird. Mit anderen Worten: ihre interpretative Flexibilität wird in techno-politischen Diskursen strategischer Akteure ausgehandelt. In den sich wandelnden Versprechen bilden sich dabei nicht nur kontinuierlich neue Problemkonstruktionen ab, sondern ebenso Normalisierungen vormals ‚außergewöhnlicher‘ Kontrolle.
Sylvia Kühne, Christina Schlepper
Der Staat in der prognostischen Sicherheitsgesellschaft
Ein technografisches Forschungsprogramm
Zusammenfassung
In dem Beitrag wird diskutiert, wie der staatliche Einsatz von Prognosetechnologien zur Vorhersage von Straftaten, Rückfallwahrscheinlichkeiten und gefährlichen Ereignissen empirisch untersucht werden kann. Im ersten Abschnitt wird argumentiert, dass der Staat in der Sicherheitsgesellschaft mit den Begriffen der Wissenschafts- und Technikforschung als ein Prozess der wechselseitigen Konstitution technischer und sozialer Ordnung verstanden werden kann. Prognosetechnologien werden in diesem Beitrag weder als ausschließlich technische Artefakte begriffen, die unausweichlich in die präemptive Sicherheitsgesellschaft führen, noch als Objekte ohne Handlungsfähigkeit, die nur durch soziale Prozesse erklärt werden können. Vielmehr wird im zweiten Abschnitt gezeigt, wie die Annahme, dass Prognosetechnologien Kriminalität reduzieren und die Sicherheit erhöhen in der technik- und anwendungsorientierten Forschung reproduziert wird. Darauf aufbauend wird im dritten Abschnitt ein technografisches Forschungsprogramm entworfen, das ein begriffliches und methodisches Instrumentarium zur empirischen Erforschung soziotechnischer Konstellationen in der prognostischen Sicherheitsgesellschaft anbietet.
Lars Ostermeier
Ein politisches Recht
Zwei Jahre Ausnahmezustand in Frankreich (November 2015 bis November 2017)
Zusammenfassung
Wenige Stunden nach den Attentaten in Paris im November 2015 verkündete der damalige Präsident François Hollande den Ausnahmezustand und ließ zehn Tage später das Parlament das ursprüngliche Notstandsgesetz von 1955 novellieren. Durch fünf Verlängerungsgesetze herrschte in Frankreich bis Juli 2017 der Notstand, den der neu gewählte Präsident Macron im Mai 2017 bis November 2017 verlängert hat. Der Beitrag ist eine rechtliche und politikwissenschaftliche Evaluierung der verabschiedeten Gesetze, der notstandsbezogenen Anordnungen durch die unterschiedlichen Behörden und deren Auswirkung auf die französische Gesellschaft und besonders auf die Beziehung zwischen Politik und Staatsgewalt.
Fabien Jobard
Der zu schützende Staat?
Kritik der Aufgabendefinition von Polizei und Verfassungsschutz in Deutschland und Perspektiven eines Paradigmenwechsels
Zusammenfassung
Der Schutz des Staates hat in Deutschland im behördlichen Selbstverständnis von Polizei und Verfassungsschutz ebenso wie in den gesetzlich normierten Aufgabenzuweisungen für diese Sicherheitsbehörden eine zentrale Stellung. Dieser Beitrag dekonstruiert und hinterfragt diese Referenz an den Staat und ihre praktischen Auswirkungen aus einer transdisziplinären rechts-, politikund verwaltungswissenschaftlichen Perspektive. Darauf aufbauend entwickelt er die These, dass nicht der Staat als Selbstzweck, sondern die Menschen mit ihren Grundrechten und demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten im Mittelpunkt des Schutzes stehen sollten.
Hartmut Aden

Strafrecht und Kriminalisierung im Besonderen

Frontmatter
Perioden der Kriminalisierung im und durch den (west-) deutschen Staat
Zum Wert marxistischer Analysen
Zusammenfassung
Dieser Beitrag ist erstens ein Plädoyer für ein Verständnis des Staates und seiner Sicherheitsproduktionen und Kriminalisierungsstrategien, das an die von Marx begründete Tradition anschließt und den Fokus auf das Verhältnis zwischen Ökonomie, Politik und Ideologie bzw. Hegemonie legt. Zweitens soll die Leistungsfähigkeit eines solchen Verständnisses anhand einer vorgeschlagenen Periodisierung von Kriminalisierungsstrategien in (West-) Deutschland demonstriert werden. Diese Periodisierung basiert auf der (Re-) Lektüre einschlägiger Analysen und Kommentare aus den Bereichen Kritische Kriminologie, Kritische Polizeiforschung und materialistische Staatstheorie aus den letzten fünf Jahrzehnten, die sich mit den Entwicklungen von Polizei (-praxis) und Politiken „Innerer Sicherheit“ sowie den sich wandelnden „Feinden“, die diese legitimieren (sollen), befassen. Dass eine solche (Re-) Lektüre aufgrund der Masse entsprechender Publikationen und der Komplexität des Gegenstandes immer nur partiell und selektiv erfolgen kann, versteht sich von selbst. Identifiziert wurden drei Perioden und eine aktuelle Übergangsphase, deren Kern sich noch nicht fassen lässt: der Ordoliberalismus mit „Kommunisten“ als hegemonialen Feinden (1949-1966), der keynesianistische Fordismus, während dem „Terroristen“ diese Funktion innehatten (1966-1990), der Neoliberalismus, in dem „Kriminalität“ als solche den „Feind“ konstituierte (1990-2008) sowie die aktuelle Übergangsphase des Post-Neoliberalismus (seit 2008). Bevor diese Periodisierung in Abschnitt 2 vorgestellt wird, erfolgen einige Kommentare zur marxistischen Theorietradition.
Bernd Belina
Funktionswandel des Strafrechts in der Sicherheitsgesellschaft
Zusammenfassung
Das Strafrecht, das phasenweise von Entkriminalisierung geprägt war, hat sich seit den Anschlägen der RAF und mehr noch seit dem 11. September 2001 gewandelt. Der Beitrag geht der Frage nach, wie sich dieser Wandel beschreiben lässt – und zwar mit Blick auf die Verhaltensvorschriften im Strafrecht. Im Anschluss stellt sich die Frage, warum diese Veränderung stattfindet. Sind wir heute größeren Risiken (etwa durch den Terrorismus oder Umweltkatastrophen) ausgesetzt als früher und besteht in der Bevölkerung ein stärkeres Sicherheitsbedürfnis, auf das der Staat zu reagieren hat? Oder hat sich (nur) die Art verändert, wie Gesellschaften mit Bedrohungen umgehen? Auf der Grundlage der Ursachenanalyse kann sodann der Frage nachgegangen werden, ob sich die Funktionen des Strafrechts in der modernen Gesellschaft gewandelt haben. Schließlich werden durch diese Überlegungen herkömmliche Lösungen wie die häufige Forderung nach einer Trennung zwischen klassischem und modernem präventivem Strafrecht zweifelhaft und sind zu überdenken. Vielmehr sind spezifische Legitimationshürden für das gewandelte Strafrecht zu entwickeln, die sich daran orientieren, inwiefern der Normadressat für Risiken haftbar gemacht wird, die er nicht durch eigenes Handeln auslöst, sondern die ihm zugeschrieben werden. Auch kann die Kritik an den gewandelten Strafvorschriften vertieft und spezifiziert werden.
Beatrice Brunhöber
Konturen einer „Sicherheitsgesellschaft“
Diskursanalytische Hinweise am Beispiel Jugendkriminalität
Zusammenfassung
Debatten über eine punitive Wende des Strafrechts sowie eine verstärkte Versicherheitlichung der Innenpolitik prägen den kriminologischen Diskurs bereits seit einigen Jahren. Auf Basis einer Analyse von parlamentarischen Debatten über Jugendkriminalität in den vergangenen vier Jahrzehnten geht der vorliegende Beitrag exemplarisch der Frage nach, ob eine Verschärfung strafrechtlicher Debatten in der jüngeren Vergangenheit festzustellen ist und inwiefern sich Parallelen zur u.a. von Singelnstein und Stolle (2012) beschriebenen „Sicherheitsgesellschaft“ finden lassen. Es wird aufgezeigt, dass in der Tat eine Zunahme exkludierender und bestrafender Reaktionsformen zu beobachten ist, die zurzeit allerdings auf bestimmte „Hochrisikogruppen“ beschränkt bleibt. Auch wenn die gegenwärtige Jugendstrafrechtspolitik somit weiterhin stark in wohlfahrtsstaatlichen Traditionen verwurzelt bleibt, ist ein zunehmender Fokus auf Sicherheit, Risikokontrolle und Vorbeugung nicht zu verkennen. Konturen einer Sicherheitsgesellschaft zeigen sich auch in aktuellen Auseinandersetzungen um das Jugendstrafrecht.
Bernd Dollinger, Dirk Lampe, Henning Schmidt-Semisch
Terrorismusbekämpfung durch das Strafrecht
Die Rolle des Strafrechts als Teil eines Hegemonieprojekts
Zusammenfassung
Der Umgang mit dem Phänomen Terrorismus erfolgt in Deutschland vorrangig über eine Erweiterung des Strafrechts und eine Ausweitung von Befugnissen der Sicherheitsbehörden. Dieser Beitrag will den Hintergründen der Bedeutung des Strafrechts beim Umgang mit Terrorismus nachgehen. Dabei wird die Terrorismusbekämpfung durch das Strafrecht als ein kriminalpolitisches Projekt verstanden, in dessen Zug Freiheitsansprüche zurücktreten müssen. Die aktuellen Strafrechtserweiterungen (Einführung der §§ 89a, b, c und 91 StGB) dienen als Beispiele für zwei Diskurse: Strafrecht ist seit geraumer Zeit eine tiefe Hegemonie. Sicherheit hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in einem Kampf um Hegemonie etabliert, ihre Vormachtstellung wird zudem weiter bekräftigt. Hierfür spielt das Terrorismusstrafrecht eine bedeutende Rolle. Dabei werden Staat, Gesellschaft und Justiz als Felder des Kampfes um Hegemonie ausgemacht. In Wissenschaft und Rechtsprechung zeigen sich Widersprüche, die aber keine grundsätzliche Infragestellung der aktuellen Entwicklung zulassen.
Jens Puschke, Jannik Rienhoff
Backmatter
Metadaten
Titel
Der Staat und die Sicherheitsgesellschaft
herausgegeben von
Dr. Jens Puschke
Prof. Dr. Tobias Singelnstein
Copyright-Jahr
2018
Electronic ISBN
978-3-658-19301-0
Print ISBN
978-3-658-19300-3
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-19301-0