Der Artikel behandelt die Arglistanfechtung des Versicherungsvertrags durch den Versicherer, wenn der Versicherungsnehmer Gefahrumstände verschwiegen hat, nach denen der Versicherer nicht, nicht rechtzeitig und/oder nicht textförmig gefragt hat. Die bislang vertretenen Ansichten werden aufgearbeitet. Im Ergebnis wird die Ansicht vertreten, den Versicherungsnehmer treffe unter bestimmten Umständen die Pflicht, auch über nicht oder nicht textförmig erfragte Gefahrumstände nach §241 Abs. 2 BGB in Verbindung mit §123 Abs. 1 BGB aufzuklären. Maßgeblich ist weniger das Versicherer- als das Versicherungsnehmerverhalten. Auch sind drei Rechtsfragen zu unterscheiden: die Anwendbarkeit der §§123 f. BGB in Verbindung mit §123 Abs. 1, das Vorliegen einer Täuschung und das Vorliegen von Arglist.
Der Beitrag beruht auf einem am 11.3.2010 gehaltenen Vortrag im Rahmen der Jahrestagung des Deutschen Vereins für Versicherungswissenschaft. Stand: März 2010. Ich danke Herrn Prof. Dr. Meinrad Dreher, LL.M., für wertvolle Kritik des ersten Entwurfs. Ferner danke ich Herrn Ass. iur. Martin Lange für klärende Hinweise zur versicherungsaufsichtsrechtlichen Dimension des Problems.
Da es den Parteien unbenommen ist, gemäß Invitatiomodell und insoweit mit „vertauschten Rollen“ vorzugehen, empfiehlt es sich, nicht von „Antragsfragen“, sondern von „Risikofragen“ zu sprechen. Folgenden wird die Annahme zugrunde gelegt, dass die Parteien gemäß Antragsmodell vorgehen. Zur Frage, wonach sich die vorvertragliche Anzeigepflicht im Fall des Vorgehens gemäß Invitatiomodell beurteilt: Kins, Der Abschluss des Versicherungsvertrags (2010) S. 207 ff. m.w.N.
Schäfers, VersR 2010, 301, 306 f. plädiert für eine analoge Anwendung des §19 Abs. 2 bis 4 VVG in Fällen, in denen der VN eine Anzeigepflicht aus culpa in contrahendo verletzt. Hiervon sei auszugehen, wenn das VU die Nachfrage nach einem nicht angezeigten Gefahrumstand schuldlos unterlassen habe und dem VN die Nichtanzeige vorwerfbar sei.
Sie unterscheidet sich von der mündlichen Nachfrage, welche die vorvertragliche Anzeigepflicht zwar nicht auslöst, jedoch sub specie des §123 Abs. 1 BGB bedeutsam ist; vgl. die folgenden Ausführungen.
§19 Abs. 1 Satz 2 VVG und §4 Abs. 2 Nr. 5 VVG-InfoV (Verordnung über Informationspflichten bei Versicherungsverträgen vom 18. Dezember 2007, BGBl. I S. 3004) liegen unterschiedliche Versicherungsnehmerleitbilder zugrunde, die dem Sozialmodell auf der einen und dem Informationsmodell auf der anderen Seite verhaftet sind; zu Informations- und „materialem Schutzmodell“ (allerdings mit der Annahme, beide Modelle würden sich wechselseitig ergänzen): Baumann, in: Bruck/Möller, VVG, 9. Aufl. 2008, §1 Rn. 254. §4 Abs. 2 Nr. 5 VVG-InfoV sieht vor, dass der Verbraucher-VN über die Voraussetzungen der vorvertraglichen Anzeigepflicht und somit über deren Fortdauer bis zum Vertragsschluss zu informieren ist. Die Bestimmung begreift den Verbraucher-VN als insoweit informierbar. Andernfalls wäre sie sinnlos. §19 Abs. 1 Satz 2 VVG hält den Verbraucher-VN dagegen für partiell überfordert; das VU, das die Zweitnachfrage unterlässt, soll aus einer Nichtanzeige von Gefahrumständen nach Antragsabgabe keine Rechte herleiten dürfen. Warum aber muss dem über die Voraussetzungen der Anzeigepflicht informierten VN mittels einer Zweitnachfrage vor Augen geführt werden, dass er mit der Anzeige von Gefahrumständen bei Antragsabgabe das seinerseits Erforderliche noch nicht getan hat? Während sich der informationswürdige VN entsprechend der ihm erteilten Produktinformation verhält und bis zum Zugang des Versicherungsscheins Gefahrumstände anzeigt, läuft der überforderte VN Gefahr, die Anzeige von Gefahränderungen zu unterlassen, wenn er nicht ein zweites Mal hierzu unter ggf. neuerlicher Vorlage der Risikofragen aufgefordert wird. Man könnte zugespitzt formulieren: Der verständige, informationswürdige Verbraucher-VN ist darüber zu informieren, dass er zur Anzeige nach Antragsabgabe nur im Fall einer nochmaligen Nachfrage verpflichtet ist, weil er, der unverständige Verbraucher-VN, andernfalls darauf vertraue, das Erforderliche bei Antragstellung getan zu haben. Nach Radbruch muss Rechtsphilosophie „den vorliegenden Rechtszweck im Sinne immanenter Widerspruchslosigkeit zu Ende denken“. Die zu stellende Frage laute: „Welche Voraussetzungen muss man anerkennen, um konsequenterweise diesen Rechtszweck anerkennen zu dürfen?“ Um sie zu beantworten, müsse man sich u.a. „auf seinen weltanschaulichen Hintergrund besinnen“ (Radbruch, Grundzüge, 1914 S. 26 f.). Die VVG-Reform genügt diesem Anspruch nicht, nimmt man das Verhältnis von §4 Abs. 2 Nr. 5 VVG-InfoV und §19 Abs. 1 Satz 2 VVG in den Blick. Zu historischer Einordnung und „ideologiekritischer Funktion“ der relativistischen Methode Kantorowiczens und Radbruchs: Emmenegger, Gesetzgebungskunst, 2006 S. 151 ff.
Nach vorzugswürdiger Ansicht darf das VU beim Antragsmodell in der Annahmephase dieselben und andere Fragen als in der Antragsphase stellen; vgl. Kins a.a.O. (Fn. 2) S. 158 f. m.w.N. (2010).
Dazu Knappmann, a.a.O. (Fn. 12) §14 Rn. 27: Frage ist als unwirksam und nicht gestellt zu behandeln; ähnlich Weiberle, VuR 2008, 170, 172. Brand, VersR 2009, 715, 717 geht von einer Anwendung der §§305 ff. BGB und damit des §307 Abs. 1 Satz 2 BGB aus. Er müsste folglich zu dem gleichen Ergebnis kommen. Looschelders, a.a.O. (Fn. 16) §19 Rn. 21 dagegen plädiert dafür, die Frage lediglich auf gefahrerhebliche Umstände zu beschränken.
Vgl. BGH, VersR 1986, 1089, 1090; Härle, a.a.O. (Fn. 16) §19 Rn. 45. Weitere Beispiele bei Weiberle, VuR 2008, 170, 174 f. Zu §20 Abs. 2 S. 2 AGG: Brand, VersR 2009, 715, 718. Ein Verbot ergibt sich zudem aus §18 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 GenDG.
Vgl. auch Reusch, VersR 2008, 1179, 1182 mit dem Fall, dass der Vertreter zusätzliche Risikofragen an den VN richtet, die nicht textförmig abgebildet sind.
Dass die Norm „ohne Belang“ sei, weil sie lediglich die Rechtsfolgen einer Anzeigepflichtverletzung regele, vgl. Schäfers, VersR 2010, 301, 303, überzeugt folglich nicht. §22 VVG sieht ausdrücklich vor, dass das Recht des VU unberührt bleibe, den Vertrag wegen arglistiger Täuschung, also nach §123 Abs. 1 BGB, anzufechten.
Z.B. OLG Frankfurt, VersR 2002, 1134, 1135: „aus der umfassenden Fragestellung musste sich für die VN erschließen“. Instruktiv Reusch, VersR 2008, 1179, 1181 m.w.N. zum Zusammenhang von Nachfrage und Anfechtung wegen arglistiger Täuschung.
Vgl. Brand, VersR 2009, 715, 721: „Dagegen [Gegen das Mitverschulden des die Nachfrage unterlassenden VU] lässt sich nicht einwenden, der arglistig Täuschende sei nicht schutzwürdig. Der wissend schweigende VN ist nämlich nur arglistig, wenn ihn eine Aufklärungspflicht trifft, um deren Begründung es gerade geht.“
Das OLG Celle, VersR 2008, 1532, 1535 entschied in einem Fall, der dem Transportversicherungsrecht entstammte, dass es für das Vorliegen einer Täuschung i.S.d. §123 Abs. 1 BGB „keine Rolle“ spiele, ob eine Frage gestellt worden sei, zumal die „Verwendung standardisierter Fragebögen ohnehin unüblich sei“. Man wird dieser Einschätzung dahin abmildern müssen, dass es bei fehlender Üblichkeit von Risikofragen auf das Vorliegen einer Frage im Rahmen des §123 Abs. 1 BGB nicht ankommt.
Looschelders, a.a.O. (Fn. 16) §19 Rn. 24: „Die objektive Gefahrerheblichkeit ist daher nur zu verneinen, wenn der betreffende Umstand unter keinem Aspekt geeignet ist, die Vertragsentscheidung eines verständigen Versicherers zu beeinflussen.“
Das gleiche Ergebnis – Irrelevanz eines „Mitverschuldens“ des VU – ließe sich im Wege einer Interessenabwägung erzielen. Dabei würde das Interesse des fahrlässig handelnden VU dasjenige des arglistig handelnden VN, der kein schutzwürdiges Eigeninteresse hat, überwiegen; vgl. allgemein Bydlinski, in: MüKo-BGB, Bd. 2, 5. Aufl. (2007) §242 Rn. 211, 385.
Auf die Ansicht, die bei logischer Spezialität stets den abschließenden Charakter der speziellen Norm annimmt, z.B. Tettinger/Mann a.a.O. (Fn. 53) Rn. 198, braucht folglich nicht eingegangen zu werden.
Vgl. Schmalz a.a.O. (Fn. 53) Rn. 81; a.A. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 156, 266 ff. der zur Lösung der Konkurrenzproblematik jedoch die gleichen Erwägungen wie bei strenger Spezialität anstellt.
Gegen eine parallele Anwendung sprechen auch nicht Präventions- und Effizienzgesichtspunkte; so aber Schäfers, VersR 2010, 301, 305. Dass der Gesetzgeber Vertragsparteien Informationspflichten ungeachtet tatsächlicher Informationsbedürfnisse auferlegt, um den Informationsberechtigten möglichst effektiv zu schützen und präventiv auf Informationsverpflichtete einzuwirken, dass das Frageerfordernis in §19 Abs. 1 VVG selbst dann nicht teleologisch zu reduzieren ist, wenn der VN die Gefahrerheblichkeit des konkreten Umstands kannte.
§19 Abs. 1 Satz 2 VVG soll den VN nicht vor Verzögerungen im Policierungsverfahren schützen; siehe oben unter I. Auch die Annahme, der VN wisse bei fehlender Nachfrage nach Antragsabgabe nicht, „ob der Versicherer den Antrag bereits angenommen hat oder diesen noch bearbeitet und weiterhin auf Informationen angewiesen ist“ (Schäfers, VersR 2010, 301, 305), ist wegen §1 Abs. 1 Nr. 12 VVG-InfoV nicht überzeugend; vgl. dazu noch die weiteren Ausführungen.
Es hat eine Gesamtwürdigung zu erfolgen. Maßgeblich sind Art, Umfang und Bedeutung der unrichtigen Angaben. Ferner kommt es auf das Persönlichkeitsbild und den Bildungsstand des VN an. Auch besondere Umstände bei der Ausfüllung des Versicherungsantrags können berücksichtigt werden; vgl. OLG Saarbrücken, VersR 1996, 488, 489.