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Erschienen in: ATZelektronik 9/2019

01.09.2019 | Titelthema

"Die Datenökonomie für die Zukunft der Mobilität nimmt Fahrt auf"

verfasst von: Robert Unseld

Erschienen in: ATZelektronik | Ausgabe 9/2019

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Die Welt wird stetig weiter kartografiert: Grund für den steigenden Bedarf an Geodaten ist die schnell wachsende Zahl an Anwendungen, die diese Informationen immer feingranularer einsetzen, um Mehrwert für Nutzer zu schaffen. ATZelektronik sprach mit Christof Hellmis, VP Engineering and Product Innovation bei Here, über Bewertung, Verknüpfung und ständige Aktualisierung der Daten sowie die Notwendigkeit, unterschiedlichste Quellen für ein möglichst umfassendes Gesamtbild in ein Datenmodell zu integrieren.
ATZelektronik_ Herr Hellmis, Here ist Kartenhersteller der ersten Stunde, will aber heute Plattformanbieter sein. Worauf zielen Sie ab?
Hellmis _ In der Vergangenheit waren vornehmlich statische Karten mit einzelnen dynamischen Aspekten wie Verkehrsinformationen für die meisten Anwendungsfälle ausreichend. Aber die Entwicklung ist rasant, insbesondere in der Automobiltechnik, um eine Navigation als Anwendung anbieten zu können. Mit Internet und Smartphones wurden GPS-basierte Funktionen und Dienste Standard, überall und für jeden verfügbar. Der nächste Schritt dieser Evolution war die Ausweitung der geografischen Abdeckung von rund 50 Ländern auf rund 200. Ich glaube, heute haben wir eine weitere Transformationsstufe unserer Industrie erreicht, wo das Anwendungsspektrum digitaler Karten und ortsbezogener Dienste regelrecht explodiert. Generell werden Geoinformationen immer wichtiger. Dabei geht es um Themen vom autonomen Fahren über allgemeine Mobilität bis hin zur Robotik und zu autonomen Systemen - also Anwendungen, die ganz neue Geodaten erfordern. Das ist der Hintergrund unserer Entwicklung hin zu einer Plattform, die all diese Szenarien unterstützen kann. Der alte Ansatz "eine Karte für alles" funktioniert nicht mehr, sondern wir benötigen teilweise hochdynamische oder hochpräzise Karten.
Was bedeutet das für den Markt und die Anwendungsbereiche?
Unser Geschäft bewegt sich weg von "wir sammeln Daten und verkaufen eine Karte" hin zu einer Datenökonomie, bei der unsere Kunden zugleich Datenlieferanten sind. Und das über Industriegrenzen hinweg, denn die Automobilindustrie erhebt vielleicht Daten, die für Energiewirtschaft oder Logistik interessant sind und umgekehrt. Deshalb ändert sich auch die Natur der Aufgabe im Moment total. Wir führen Käufer und Lieferanten von Informationen zusammen, das lässt diese Industrie florieren. Das ist ein wichtiger Aspekt, denn die digitale Vermessung der Welt ist sehr kostenintensiv und würde für nur einen Anwendungszweck auch nicht funktionieren. Es muss mehrere Anwendungen geben. Wiederverwendung für verschiedenste Zwecke ist ein Muss, ebenso wie Kollaboration.
Wo sehen Sie hier den besonderen Nutzen?
Unter anderem in der Logistik und im Mobilitätsbereich. Wir haben beispielsweise über tausend Städte mit ÖPNV-Daten zu Liniennetz und Fahrplänen in unserem System erfasst. Multimodalität ist das Schlüsselwort für Mobilitätsanwendungen der Zukunft, also die intelligente Kombination von Carsharing, ÖPNV, dem eigenem Auto und anderen Transportmitteln. Intelligente Verkehrssteuerung oder Telematik sind ein Mehrwert und beide fußen letztlich auf einem Austausch von Daten. Darüber hinaus gibt es ganz neue Konzepte wie Drohnen oder Flugtaxis, wo ebenfalls detaillierte 3-D-Informationen benötigt werden. Auch Stadtplanung, 5G-Infrastruktur oder Smart Cities sind Riesenthemen für detaillierte Geodaten.
Was für Entwicklungen sehen Sie generell am Markt, was macht der Wettbewerb?
Im Moment herrscht eine Art Goldrausch. Es gibt wie immer am Anfang viele Firmen, die sich auf ein neues Thema stürzen: Autonomes Fahren, Robotik, Drohnen und mehr. Die Vernetzung von Systemen wird immer erschwinglicher, Rechenleistung ist fast unbegrenzt verfügbar, es gibt tolle Algorithmen für Mustererkennung und neue Datenmodelle. Auch der Einsatz künstlicher Intelligenz macht es sehr viel einfacher, etwas aufzusetzen. Aber die Begeisterung ist das eine, Kartenmaterial in 3D dynamisch aufzusetzen und auf Dauer global mit vernünftigen ökonomischen Parametern zu betreiben etwas anderes. Bei dieser Frage trennt sich die Spreu vom Weizen.
Eine Hauptrichtung der Innovation ist momentan, wie Sie sagen, die Mobilität. Was steuern Sie dafür bei?
Wir versuchen, Daten mit höchstmöglicher Qualität zu liefern, und versehen sie mit einem Zeit- und Qualitätsstempel. Bei einer Karte für autonomes Fahren ist zum einen die Qualifizierung von Daten extrem wichtig und zum anderen deren laufende Prüfung mittels der fahrzeugeigenen Sensorik zur Aktualisierung der Karte. Wenn das Auto sagt: "Die Karte entspricht nicht dem, was meine Sensoren wahrnehmen", dann müssen wir auf dieser Basis zunächst bewerten, in welcher Qualitätsstufe die Karte für diese Stelle noch zur Verfügung steht, um diese in einem weiteren Schritt zu aktualisieren.
Wie prüfen Sie? Haben Sie eigene Fahrzeuge im Einsatz?
Ja, wir haben eine hauseigene Flotte von mehreren hundert Vermessungsfahrzeugen. Das ist die kostenintensivste Variante der Datenerhebung, aber auch die qualitativ hochwertigste. Wer in diesem Geschäft ist, kommt darum nicht herum. Wir erheben Daten so zentimetergenau wie nötig, um autonomes Fahren zu ermöglichen. Andererseits stellt sich nach jeder Fahrt sofort die Frage: Wann fahre ich wieder? Denn die Welt ändert sich kontinuierlich.
Reicht das denn aus, um die angesprochenen Diskrepanzen zu prüfen?
Nein. Sie müssen eine festgestellte Abweichung zwischen digitaler und realer Welt sofort mit einer passenden Strategie abgleichen. Gibt es an einer Stelle eine Diskrepanz, dann schaut man sich die Daten der nächsten drei oder fünf Autos, die dort fahren, genauer an und lässt sich Fotos oder eine Videosequenz schicken. So lassen sich die Abweichungen zwischen digitalem Abbild und Realdaten meist sehr schnell prüfen. Kann ich das im Auto nicht verarbeiten, dann muss es über die Cloud aufgelöst oder manuell bearbeitet und entschieden werden.
Das klingt nach einer Art Schwarmintelligenz?
Ja, Schwarmintelligenz trifft es ganz gut. Ein direkter Abgleich vor Ort macht sehr viel Sinn. Denn statt auf die Information eines Kamerasystems allein angewiesen zu sein, das vielleicht gewisse Schwächen bei der Erkennung von Verkehrszeichen aufweist, nutze ich zusätzlich einige Fahrzeuge mit anderem, eventuell besserem Sensorsatz als Gegenprüfung. Hat das nächste Fahrzeug Kameras neuerer Generation an Bord, besitzt diese Information eine höhere Plausibilität. Es wird also immer wichtiger, die Metadaten abzugleichen und eine Bewertung beziehungsweise Interpretation mit einfließen zu lassen. Die entsprechenden Algorithmen zu entwickeln und ständig zu verbessern, erfordert sehr viel Aufwand und Intelligenz.
Wie steht es denn mit der Standardisierung, vor allem zum Austausch von Daten?
Wir arbeiten sehr aktiv an der Standardisierung, beispielsweise am sogenannten Sensoris(Sensor Interface Specification)-Standard. Als Beispiel nenne ich hier unseren Hazard-Warning-Service, der sich im Wesentlichen aus Sensordaten von Fahrzeugen generiert. Dafür mussten wir zusammen mit den beteiligten OEMs eine Schnittstelle definieren, wie die Daten optimal aus dem Fahrzeug in die Cloud einfließen sollen. Anschließend wurde diese als Open Source veröffentlicht, damit jeder den Standard einsetzen kann. Für die Weiterentwicklung der Kartenanwendungen sind auch Skaleneffekte sehr wichtig. Deshalb treiben wir im Rahmen unserer Open Location Platform das Konzept eines Marktplatzes zum Austausch und zur Anreicherung von Daten voran.
Was ist der konkrete Nutzen daraus?
Beispielsweise stellt BMW seit kurzem einige seiner Daten aus den Fahrzeugen via Creative Commons-Lizenz zur Verfügung. Der Here OLP Marketplace ermöglicht einen Austausch dieser Daten. Es handelt sich um Informationen aus dem Bereich Hazard-Warning - wo sind Straßen glatt oder Umgebungsbedingungen gefährlich - Daten, die für die Allgemeinheit sehr viel Sinn machen. Durch diesen Tauschansatz bekommen wir auch die Datenökonomie ans Laufen.
Was ist das Spannende an dieser Datenökonomie aus Ihrer Sicht?
Der Hintergrund ist, dass keiner das Thema Datenakquise allein stemmen kann, es ist eine Frage des Skaleneffektes. Für eine flächendeckende Abdeckung und Aktualität braucht es Kollaboration und kritische Masse. Aktuell beziehen wir bei Here zum Beispiel bereits Daten von mehr als 1,5 Millionen vernetzten Fahrzeugen, mit steigender Tendenz. Wir haben also bereits einen Stand erreicht, der diesen signifikanten Skaleneffekt bereitstellt. Es gibt sicherlich Bereiche, in denen jeder OEM seine Differenzierung sucht, aber das sind dann spezifische Daten für einzelne Fahrzeuge oder Baureihen.
Thema Infrastruktur: Immer mehr Autos funken immer mehr Daten. Wie ist der Stand der Dinge in Sachen Bandbreite, Connectivity, Funkloch?
Genau wie Sie sagen, die Menge der produzierten und verfügbaren Daten steigt rasant, aber das ist kein Phänomen der Fahrzeugwelt allein. Auch bei Smart Home oder Smart Cities ist Datenverkehr immer ein Dreieck von Bandbreite, Rechenleistung und Speicher, das permanent optimiert wird. Für ADAS-Anwendungen macht es trotz 5G wenig Sinn, permanent Bilder aus einem Kamerasystem in die Cloud zu streamen. Das ist viel zu teuer und kostet zu viel Bandbreite. Da packe ich besser Intelligenz ins Auto, um die Bildverarbeitung zu erledigen und auch andere Abläufe zu übernehmen. Welche Objekte erkenne ich? Wie passt das, was das Auto sieht, zur Karte? So passiert die Erstverarbeitung im Fahrzeug, das in dieser Hinsicht immer leistungsfähiger wird, und nur die Abweichungen spielen für die Übertragung eine Rolle. Auch das führt schon zu ständig mehr Daten, denn die Informationen werden immer feingranularer: Früher hatten wir nur die Straße als Semantik, jetzt haben wir sie inklusive Fahrspuren mit Begrenzungslinien, Beschränkungen, Verkehrsschildern und noch mehr Kontext.
Was ist, wenn ein Funkloch auftritt?
Here Cellular Signals adressiert diesen Fall: Eine globale, zellbasierte Positionierungsplattform, deren Ursprung in der Zeit liegt, als Here noch zu Nokia gehörte. Damit können wir sagen, wie gut ein Mobilfunknetz an einer bestimmten Stelle ist. Ist es nicht gut, ist eine Ausgleichsstrategie planbar, beispielsweise indem Daten im Fahrzeug lokal gespeichert und deren Zuverlässigkeit für die Fahrzeugsysteme entsprechend qualitativ gewichtet werden, damit dieses die Stelle überwinden kann. Es addieren sich sehr viele unterschiedliche Quellen in unserer Plattform, inklusive Mobilfunkzellen und WiFi-Hotspots.
Gibt es weitere Anwendungsfälle, wo Sie ihre Geodaten sehen, über die Navigation hinaus?
Extrem viele: Das Thema Geointelligenz spielt wie gesagt in die Stadtplanung hinein, beispielsweise bei der Anordnung von Funkmasten für 5G-Netzwerke. Weitere Anwendungen liegen in der Logistik, beispielsweise bei der Entwicklung eines globalen End-to-end-Trackings. Das ist alles andere als trivial, wird aber immer relevanter durch die weltumspannenden Warenströme. Auch Drohnenflüge sind ein interessanter Fall, wo wir für eine Anwendung verschiedenste Daten aus Luftaufnahmen, Satellitendaten, Katasterplänen, Lidardaten unserer Messfahrzeuge und mehr miteinander verschmolzen haben, um 3-D-Daten in der nötigen Qualität bereitstellen zu können. Das ist die eigentliche Kunst beim Erstellen von Karten: Unterschiedlichste Datenquellen miteinander zu verknüpfen, ein kongruentes, adaptierbares und erweiterbares Datenmodell zu erstellen und dieses über Jahrzehnte aktuell zu erhalten. Diesen langen Atem muss man haben. Kartografie ist ein Marathon, keine Kurzstrecke.
Herr Hellmis, ich bedanke mich für das aufschlussreiche Gespräch.
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Metadaten
Titel
"Die Datenökonomie für die Zukunft der Mobilität nimmt Fahrt auf"
verfasst von
Robert Unseld
Publikationsdatum
01.09.2019
Verlag
Springer Fachmedien Wiesbaden
Erschienen in
ATZelektronik / Ausgabe 9/2019
Print ISSN: 1862-1791
Elektronische ISSN: 2192-8878
DOI
https://doi.org/10.1007/s35658-019-0094-5

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