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2000 | Buch

Die Diffusion von Politikinnovationen

Umweltpolitische Innovationen im Mehrebenensystem der USA

verfasst von: Kristine Kern

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

Buchreihe : Gesellschaftspolitik und Staatstätigkeit

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Über dieses Buch

Die Diffusion politischer und institutioneller Innovationen ist leider ein in der Politikwissenschaft weitgehend vernachlässigtes Thema. Zwar wird die Be­ deutung externer Anstöße für die Entwicklung neuer Politikansätze bisweilen am Rande erwähnt, über diese eher randständige Stellung kommt das hier im Zentrum stehende Thema aber selten hinaus. Den deutlichen Defiziten bei der systematischen Analyse der verschiedenen Varianten der Politikdiffusion steht eine Entwicklung in der politischen Praxis gegenüber, die die Bedeu­ tung des Transfers von Politiken und institutionellen Arrangements immer wieder betont. Im Zuge der zunehmenden politischen und ökonomischen Globalisierung scheint das Thema sogar immer wichtiger zu werden. Dieses Buch hat eine lange Geschichte. Vielleicht hätte ich dieses Unter­ nehmen gar nicht erst in Angriff genommen, wäre mir damals klar gewesen, welche Anstrengungen erforderlich sein würden, um ein solches Vorhaben überhaupt realisieren zu können. Ausgangspunkt war ein Projekt zu den Ver­ fahren zur Festsetzung von Umweltstandards in der Schweiz, den Niederlan­ den und den USA, das ich von 1990 bis 1992, zusammen mit Wolfgang Jae­ dicke, am Institut für Stadtforschung und Strukturpolitik in Berlin be.arbeite­ te. Dabei stellte sich heraus, daß die Standardsetzung, gerade in den beiden kleinen Ländern, sehr stark von der Entwicklung in anderen Nationalstaaten und von den Empfehlungen internationaler Organisationen geprägt wurde.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
Einleitung
Zusammenfassung
Dezentrale Politikinnovationen breiten sich in den USA häufig wie ein ‚Flächenbrand‘ aus, d.h. sie werden von anderen Einzelstaaten1 innerhalb relativ kurzer Zeit übernommen. Solche dynamischen Politikentwicklungen sind keineswegs neu, z.B. wurde mothers’ pensions,eine Art Witwenrente, 1911 erstmals in Illinois eingeführt, bereits 2 Jahre später von 18 weiteren Einzelstaaten übernommen, und 1917 gab es solche Gesetze bereits in 35 der damals 48 Einzelstaaten. Daß es sich bei Diffusionsprozessen nicht notwendigerweise um äußerst spektakuläre Ereignisse handeln muß, zeigte die ‚silent revolution‘ im amerikanischen Scheidungsrecht (Jacob 1988). ‚Erfunden‘ wurde diese Politikinnovation 1966 in New York, 1970 entschloß man sich in Kalifornien für eine entsprechende Reform, und schon 1974 existierten ganz ähnliche Bestimmungen in 43 Einzelstaaten. Da vergleichbare Phänomene in vielen Politikfeldern auftreten, scheint es sich um allgemeine Funktionszusammenhänge zu handeln, die, wie sich an dem genannten Beispiel aus der Frühphase der amerikanischen Sozialpolitik erkennen läßt, schon vor mehreren Dekaden beobachtet werden konnten. Zudem kann die Diffusion von allen politischen Institutionen getragen werden: Initiativen der Vorreiter können von der Exekutive oder der Legislative der Einzelstaaten aufgegriffen werden, Diffusionsprozesse können die Rechtsprechung betreffen (Puro, Bergerson und Puro 1985; Lutz 1997), und selbst Volksinitiativen können vergleichbare Wirkungen entfalten.2
Kristine Kern
Kapitel 1. Politikintegration und Politikdiffusion
Zusammenfassung
Über die Leistungsfähigkeit von (föderalistischen) Mehrebenensystemen besteht keineswegs Einigkeit: Einerseits können Entscheidungsprozesse in Mehrebenensystemen, so wird argumentiert, zu Handlungsblockaden führen (Scharpf 1985; Benz 1991; Benz 1995). Andererseits behauptet Renate Mayntz (1995: 134), daß Föderalstaaten aufgrund der Existenz von zwei interdependenten Entscheidungsebenen prinzipiell höhere Problemlösungspotentiale als unitarische Systeme hätten, denn „Föderalismus heißt nicht einfach Dezentralisierung, sondern bezeichnet eine Mehrebenenstruktur, die interdependente Gleichzeitigkeit einer zentralen und einer regionalen Entscheidungsebene. Nicht das im Föderalismus enthaltene Element politischer Dezentralisierung, sondern genau diese Gleichzeitigkeit mehrerer Entscheidungsebenen stellt in evolutionärer Hinsicht seinen entscheidenden Vorzug dar.“ Gerade bei hohem Anpassungsdruck in einer komplexen Umwelt seien föderalistische Mehrebenensysteme leistungsfähiger als zentralisierte hierarchische Ordnungen. Mayntz begründet diese Überlegenheit im Anschluß an Herbert Simon mit den Vorteilen einer lockeren horizontalen Koppelung von Einheiten, die zwar koordiniert, aber dennoch relativ selbständig agieren (Mayntz 1995: 139; March 1994: 193).1
Kristine Kern
Kapitel 2. Politikintegration und Entwicklungsphasen des amerikanischen Föderalismus
Zusammenfassung
Der Wandel der Kompetenzverteilung und die daraus resultierenden Folgen sind zwar ein zentrales Problem aller Mehrebenensysteme, gerade für Föderalstaaten sind sie jedoch von besonderer Relevanz. Anders als in Europa werden Fragen der Interdependenz und Integration mehrerer Politik- und Verwaltungsebenen in den USA schon seit über 200 Jahren diskutiert. Dabei lautet das aktuelle Stichwort jenseits des Atlantiks allerdings nicht Subsidiarität,1 sondern Devolution. Während mit der europäischen Subsidiaritätsdebatte die Hoffnung verbunden ist, die Entstehung eines europäischen Superstaates vermeiden zu können, konzentriert sich die aktuelle amerikanische Diskussion auf die Verlagerung von Staatsaufgaben nach unten. Nicht die Verhinderung des Machtzuwachses einer Zentralregierung steht im Mittelpunkt der Überlegungen, sondern die freiwillige Rückübertragung zentralstaatlicher Kompetenzen auf die Einzelstaaten, die heute — anders als noch vor einigen Dekaden — in der Lage sind, wichtige (innenpolitische) Aufgaben in eigener Regie zu übernehmen.
Kristine Kern
Kapitel 3. Interne Determinanten einzelstaatlicher (Umwelt-)Politikinnovationen
Zusammenfassung
Für die Analyse der endogenen Innovationspotentiale der Einzelstaaten sind mehrere Erklärungsansätze, die sich seit den sechziger Jahren entwickelt haben, relevant. Ausgangspunkt dabei war die Kontroverse über die Bedeutung sozioökonomischer und politisch-institutioneller Variablen für die Politikergebnisse (policy output), die auch die Debatte über die Determinanten der einzelstaatlichen Innovationsfähigkeit beherrschte. Ergänzend heranzuziehen sind zudem einige neuere Studien, die den Zusammenhang zwischen der öffentlichen Meinung und der ‚Liberalität‘ politischer Programme in den Mittelpunkt stellen (Erikson, Wright und McIver 1993). Dezentrale Politikinitiativen können somit auf sozioökonomische und politisch-institutionelle Variablen zurückgeführt werden. Sie können aber auch im Lichte der öffentlichen Meinung oder genauer gesagt der Liberalität der Wähler erklärt werden, die vor dem Hintergrund der politischen Kultur1 der Einzelstaaten zu sehen ist. Nach einer allgemeinen Darstellung der verschiedenen Erklärungsansätze (Abschnitt 1), werden diese auf die Umweltpolitik angewandt (Abschnitt 2). Im Anschluß wird ein für seine besonders innovative Umweltpolitik bekannt gewordener Einzelstaat, das im Nordwesten an der Pazifikküste gelegene Oregon, genauer betrachtet (Abschnitt 3). Abschließend wird auf den Zusammenhang zwischen der politischen Kultur, der umweltpolitischen Innovationsfähigkeit und den ökonomischen Entwicklungsmustern der Einzelstaaten eingegangen (Abschnitt 4).
Kristine Kern
Kapitel 4. Horizontale Politikdiffusion
Zusammenfassung
Während die Diffusion von Politikinnovationen in der vergleichenden Politikanalyse ein recht neues Thema ist, hat die Diffusionsforschung eine lange Tradition. Die ersten Ansätze entstanden bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Frankreich, wo sich Gabriel Tarde die Frage stellte, warum bestimmte Innovationen imitiert wurden, andere jedoch binnen kürzester Zeit wieder in Vergessenheit gerieten (Rogers 1995: 39 ff.). In einzelnen Sozialwissenschaften avancierte die Diffusionsforschung schon vor mehreren Jahrzehnten zu einer etablierten Forschungsrichtung. Die bekanntesten Studien stammen aus soziologischen Teildisziplinen: Bereits in den vierziger Jahren untersuchten Ryan und Gross (1943) die Verbreitung der Verwendung von hybridem Saatgut unter den Landwirten zweier Dörfer Iowas. Dabei stellte sich heraus, daß die Innovateure über ein höheres Bildungsniveau, größere Höfe und ein höheres Einkommen verfügten und zudem öfter nach Des Moines, der größten Stadt Iowas, reisten. Eine zweite häufig zitierte Untersuchung von Coleman, Katz und Menzel aus den fünfziger Jahren ist der Medizinsoziologie zuzurechnen (siehe z.B. Coleman, Katz und Menzel 1966). Analysiert wurde die Diffusion eines neuen Antibiotikums (tetracycline), d.h. es wurde ermittelt, wann dieses Mittel erstmals von den befragten Ärzten aus vier Städten in Illinois verschrieben wurde. Im Gegensatz zu Ryan und Gross wurden dabei die interpersonellen Diffusionsnetzwerke berücksichtigt, wobei festgestellt werden konnte, daß die informellen Kommunikationsnetzwerke zwischen den Ärzten bei der Verbreitung der Arznei eine ganz wesentliche Rolle spielten (Rogers 1995: 69).1
Kristine Kern
Kapitel 5. Vertikale Politikdiffusion und Politikinnovationszyklen
Zusammenfassung
Neben horizontaler Diffusion zwischen den Einzelstaaten, die auf dezentraler Regulierung beruht, kann es in Mehrebenensystemen zu vertikaler Diffusion1 kommen, die Mehrebenenregulierung voraussetzt. Vertikale Diffusion liegt dann vor, wenn der Bund einzelstaatliche Politikinnovationen übernimmt, an die allgemeinen Rahmenbedingungen anpaßt und dann in nationales Recht, das für alle Einzelstaaten bindend ist, überleitet. Ein Beispiel für diese Form der Politikdiffusion ist die Übernahme zentraler Elemente des 1976 in New Jersey verabschiedeten Spill Compensation and Control Act — insbesondere die Schaffung eines Fonds zur Beseitigung von Altlasten — in den 4 Jahre später vom Kongreß beschlossenen Superfund (vgl. Pendergrass 1994: 12). Darüber hinaus kann vertikale Diffusion sogar als Basis für die Entstehung von Politikinnovationszyklen dienen, falls nach der vertikalen Diffusion von der dezentralen zur zentralen Ebene ein neuer Innovationszyklus auf der dezentralen Ebene einsetzt. Solche Fälle treten aber nur dann auf, wenn sich der Bund auf die Festsetzung von Mindeststandards beschränkt, d.h. auf Totalharmonisierung verzichtet, oder zumindest einem Einzelstaat eine Ausnahmegenehmigung erteilt, was zur Entstehung von Doppelstandards führen kann. Daraus kann eine dynamische Entwicklung resultieren, in deren Verlauf dezentrale Impulse die wiederholte Verschärfung nationaler Standards zur Folge haben. Gerade für die Umweltpolitik ist dies von großer Bedeutung, da Umweltstandards neue wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigen und daher immer wieder angepaßt werden müssen. Horizontale und vertikale Politikdiffusion schließen sich dabei keineswegs gegenseitig aus, sondern können durchaus gemeinsam auftreten, weil horizontale in vertikale Diffusion übergehen kann. Die Abgrenzung der beiden Formen bereitet trotzdem keine Probleme: Das entscheidende Kriterium dafür ist die Verbindlichkeit der Regulierung, denn nur bei vertikaler Politikdiffusion werden vom Bund Regelungen getroffen, an die sich alle Einzelstaaten halten müssen. Bei horizontaler Diffusion gilt dies nicht, weil hier kein Zwang besteht, Politikinnovationen zu übernehmen.
Kristine Kern
Kapitel 6. Voraussetzungen und Typen der Politikdiffusion
Zusammenfassung
Mit dem nun folgenden Schlußkapitel werden zwei Zielsetzungen verfolgt: Zum einen sollen die Resultate der vorangegangenen Kapitel zusammengefaßt und einige Schlußfolgerungen gezogen werden. Zum anderen geht es darum, die auf der Struktur und Funktionsweise des amerikanischen Systems basierenden Ergebnisse auf andere Mehrebenensysteme zu übertragen. Im Anschluß wird daher zunächst auf die Grundannahmen zur Diffusion von Politikinnovationen eingegangen (Abschnitt 1). Danach werden die Rahmenbedingungen der Politikdiffusion im amerikanischen Mehrebenensystem skizziert (Abschnitt 2). Dem folgt eine Darstellung der Typen der Politikdiffusion, d.h. der beiden Varianten der horizontalen Politikdiffusion, die auf der Selbstkoordination der amerikanischen Einzelstaaten beruht, sowie der vertikalen Politikdiffusion zwischen den Politikebenen. Ergänzt wird dieser Teil durch einige Schlußfolgerungen im Hinblick auf die Politikgestaltung (Abschnitt 3). Vor dem Hintergrund der Analyse des amerikanischen Mehrebenensystems wird dann nach der Übertragbarkeit des hier skizzierten Ansatzes auf andere Mehrebenensysteme gefragt, wobei schwerpunktmäßig auf das internationale System und auf die Europäische Union eingegangen wird (Abschnitt 4). Abschließend wird ein kurzes Resümee zur allgemeinen Anwendbarkeit und zu den Erweiterungsmöglichkeiten des Untersuchungsansatzes gezogen (Abschnitt 5).
Kristine Kern
Backmatter
Metadaten
Titel
Die Diffusion von Politikinnovationen
verfasst von
Kristine Kern
Copyright-Jahr
2000
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-663-09686-3
Print ISBN
978-3-8100-2467-1
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-663-09686-3