Der grundlegende Denkfehler der traditionellen Herangehensweise der ökonomischen Analyse des Rechts liegt auf der Hand. Sie beruht vor allem auf zwei Annahmen, die – wie gerade gezeigt – einander widersprechen: einerseits, dass die Menschen exogen gegebene Präferenzen, Nutzen- oder Auszahlungsfunktionen haben, die sie zu maximieren suchen, und andererseits, dass ein neues Gesetz das Ergebnis des Spiels beeinflusst, indem es die Auszahlungen verändert, die die Spieler von ihren Handlungen erwarten können, also indem es die Spielregeln und somit das Spiel selbst verändert. Sobald eine vollständige Beschreibung des Spiels des Lebens vorliegt, die nicht nur die Bürgerinnen und Bürger, sondern auch alle relevanten staatlichen Akteure umfasst, sehen wir, dass das Recht an sich keinen Einfluss hat auf die Aktionen, die den Akteuren zur Verfügung stehen, oder auf die daraus erwachsenden Auszahlungen. Kurz gesagt: Das – vollständig beschriebene – Spiel, das die Mitglieder einer Gesellschaft spielen, ändert sich nicht durch die Novellierung eines Gesetzes oder die Verabschiedung eines neuen.
Anzeige
Bitte loggen Sie sich ein, um Zugang zu Ihrer Lizenz zu erhalten.
Allerdings bemerkte Bobbio (1989, S. 197) angesichts der zahlreichen Konferenzen, die anlässlich von Hobbes’ 400. Geburtstag im Jahr 1988 stattfanden: „Konferenzen dienen zunehmend der Tourismusförderung …“
Dies wird klar anhand von Kap. 26, „Von staatlichen Gesetzen“, in Leviathan (Hobbes 1668 [1994]). Jedoch enthält Hobbes’ Werk einige störende Unklarheiten. In seiner Analyse von Hobbes’ Rechtsbild weist Goldsmith (1996) darauf hin, dass Hobbes in Leviathan das Recht als eine Sammlung von Befehlen begreift, die sich an Menschen richten, die „gehorchen müssen“ (S. 274). Doch wenn das so ist, wozu brauchen wir dann Institutionen, die das Recht durchsetzen? Zur Klarstellung sei außerdem gesagt, dass in Hobbes’ Darstellung der gesetzgebende Herrscher oder die gesetzgebende Versammlung vom Volk gewählt wird. Nach der Wahl erlangt diese Regierung aber irgendwie eine Autonomie, die sie der Kontrolle durch das Volk entzieht. Ihre Befehlsgewalt ist dann also exogen gegeben. Hobbes fiel in seiner Zeit als großer Bewunderer mathematischer Methoden auf. Seine Analyse von Recht und Macht zeigt aber, dass ein Bewunderer der Mathematik nicht automatisch auch ein guter Logiker ist. Cooter (1982) nähert sich Hobbes aus einer anderen Richtung. Er spricht in diesem Zusammenhang von „Hobbes’ Theorem“, welches er für unhaltbar, jedoch für einen „aufschlussreichen Irrtum“ hält (S. 18).
Im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert haben verschiedene Autoren einzelne Aspekte dieser Idee von Hume behandelt, aber niemals umfassend. In den letzten Jahrzehnten hat das Forschungsinteresse daran zugenommen. Lukes (1974) und Havel (1986) führen politische Macht bis hin zum Totalitarismus auf die Erwartungen der Menschen untereinander zurück. Daraus entstand Havels Argumentation, die Unterdrückten seien Mitverschworene jener, die üblicherweise als die Unterdrücker angesehen werden (Basu 1986). Mit meinem spieltheoretischen Vorgehen verwandte Ideen finden sich auch bei Lewis (1969), Cooter (1998), Sunstein (1996, 1996a), Posner (2000), Mailath/Morris/Postlewaite (2007, 2017), und McAdams (2015). Einige dieser Ideen habe ich in anderer Form schon früher behandelt (Basu 1993, 2000). Später komme ich auf einige dieser Arbeiten und ihr Verhältnis zum vorliegenden Buch zurück.
Myerson (2004, S. 93) hat dasselbe Problem hervorgehoben und mit der folgenden Beobachtung eine subtile Frage der Fairness aufgeworfen: „Jedes Mitglied einer Gruppe von Spielern […] muss unabhängig von den anderen den Namen eines anderen Spielers auf einen Zettel schreiben. Wenn alle den gleichen Namen aufschreiben, bekommt jeder $100, nur der Genannte bekommt $200. Andernfalls bekommt jeder gar nichts. Die Spieler sind sich vorher nie begegnet. Gerade als alle den Stift in die Hand nehmen wollen, um einen Namen aufzuschreiben, kommt jemand in den Raum, setzt eine große, glänzende Krone auf den Kopf eines Spielers und geht wieder raus.“ Dadurch wird wohl ein fokaler Punkt geschaffen, nämlich die gekrönte Person. Das interessante Gerechtigkeitsproblem besteht darin, dass die gekrönte Person nicht zufällig ausgesucht sein muss (siehe auch die Diskussion in McAdams 2015, Kap. 3). Ethisch noch problematischer wird es, wenn einem der Spieler die Idee kommt, sich selbst zu krönen (eine Strategie, die in der Geschichte durchaus erfolgreich angewendet worden ist). Für jeden der anderen ist es nun naheliegend, den Namen des Usurpators aufzuschreiben, obgleich ihnen sein verschlagenes Vorgehen vielleicht zuwider ist.
In die gleiche Richtung argumentiert Posner (2000, S. 3) mit seiner rhetorischen Frage: „Können wir verschiedene Arten der rechtlichen Intervention anhand der Wahrscheinlichkeit beurteilen, dass sie erwünschte Formen der außergesetzlichen Kooperation fördern und unerwünschte behindern?“ Siehe ebenso Geisinger (2002).
Es überrascht nicht, dass es Gruppen von Bürgerinnen und Bürgern, Unternehmen oder Verbänden auch ohne Rückgriff auf staatliche Institutionen oftmals gelingt, Regeln durchzusetzen, die das Verhalten der Mitglieder kontrollieren (Bernstein 1992; Greif 1993; Greif et al. 1994; Myerson 2004; Dixit 2004, 2014). Das erklärt auch die Möglichkeit spontaner Ordnung, zu der es eine umfangreiche Literatur gibt (siehe z. B. Elster 1989; Sugden 1989; Ellickson 1991; Hadfield und Weingast 2013).
In Kap. 5 werde ich auf einige dieser Ideen näher eingehen. Auf den ersten Blick mag sich diese These ein wenig mystisch anhören und an Frank Hahns (1980, S. 289) nicht ganz ernst gemeinte Beschreibung Keynesianischer Politik erinnern: „Einige Ökonomen haben eine ziemlich merkwürdige, um nicht zu sagen paradoxe Haltung gegenüber makroökonomischer Politik eingenommen. Die Merkwürdigkeit besteht darin, dass solche Politik im Rahmen eines Modells diskutiert wird, in dem eben diese Politik unnötig ist.“
Zumindest kann es das nicht in der direkten Art und Weise, wie traditionell angenommen wird. Wie wir später sehen werden, gibt es einige Wege für die Schaffung neuer Gleichgewichte, aber ihre Entstehung unterscheidet sich grundlegend von er traditionellen Perspektive.
W. H. Auden hat dies in seinem Gedicht „Law Like Love“, welches sich unmöglich übersetzen lässt, ungleich lyrischer ausgedrückt:
Others say, Law is our Fate;
Others say, Law is our State;
Others say, others say
Law is no more.
Law has gone away.
And always the loud angry crowd,
Very angry and very loud,
Law is We,
And always the soft idiot softly Me.
Hoff/Stiglitz (2001) haben in einem ausgezeichneten Aufsatz die Plausibilität von multiplen Gleichgewichten im echten Leben untersucht, insbesondere im Kontext von Entwicklungsländern. Zahlreiche Arbeiten auf diesem Gebiet widmen sich der Erklärung von Armutsfallen und der Persistenz von Armut (siehe Bowles et al. 2006). Eine ungewöhnlichere, obwohl ebenfalls auf multiplen Gleichgewichten basieren Idee ist die einer „Ungleichheitsfalle“. Dabei ist eine Gesellschaft in einem Gleichgewicht gefangen, das sowohl ungleiche Einkommensverteilung als auch wirtschaftliche Ineffizienz aufweist (siehe Bourguignon et al. 2007). So lässt sich auch ein Zustand erklären, in dem nur Kinder aus reichen Familien eine gute Ausbildung erfahren und sich die Ungleichheit somit verstetigt (Roemer 1998). Das Interessante an solchen Gleichgewichten, wie wir auch an anderen Stellen im Buch diskutieren werden, ist, dass ihr Zustandekommen nicht nur von ökonomischen, sondern auch von sozialen und politischen Faktoren abhängt.
Genau wie wir nutzt auch Myerson (2006) die Idee eines „Effekts des fokalen Punktes“, um Institutionen zu erklären, aber interessanterweise erweitert er den Begriff des fokalen ‚Punktes‘ auf mengenbasierte Lösungskonzepte von solcher Art wie der schon von Basu/Weibull (1991) verwendeten ‚curb‘-Menge (‚closed under rational behaviour‘). Würden wir diese Strategie für die Ziele dieses Buches anwenden, wofür sie durchaus geeignet wäre, dann müssten wir nach der fokalen curb-Menge suchen, also einer curb-Menge, die auf irgendeine Weise hervorsticht, sodass alle Spieler wissen, dass dies die Menge an Lösungen ist, innerhalb der das Spiel enden wird. Dann würde ein neues Gesetz die Gesellschaft nicht zu einem wohldefinierten Ergebnis führen, sondern zu einer Menge an möglichen Ergebnissen. Ich werde hierauf im letzten Abschnitt dieses Kapitels noch tiefer eingehen. Das Konzept ist wichtig, denn das wirkliche Spiel des Lebens ist derart komplex, dass es so gut wie unmöglich ist, die prognostizierten Verhaltensweisen präzise zu beschreiben. Das Recht spezifiziert das gewünschte Verhalten typischerweise nur für einige wenige Situationen, und wir müssen es dann per Analogie und Interpretation auf immer mehr Anwendungsfälle ausdehnen. Bei der Formalisierung dieser auf Levi (1949, siehe auch Swedberg 2014, Kap. 4) zurückgehenden These helfen mengenbasierte Gleichgewichtskonzepte, weil sie Bewegungs- und Interpretationsraum zulassen. Einen Hinweis auf die gleiche Idee liefert bereits Hardins (1989) Darstellung der Rolle von Verfassungen. Für ihn ist eine Verfassung weniger ein Vertrag als eine Koordinierungshilfe, die in einer Gesellschaft sich wechselseitig verstärkende Verhaltenserwartungen entstehen lässt.
Beschreibungen multipler Gleichgewichte in realistischen Situationen liefern z. B. Basu/Van (1998), Platteau (2000), Hoff/Stiglitz (2001), Morris/Shin (2001) und Basu/Weibull (2003).
Ich will diese Argumentation nicht weiter vertiefen, weil sie schon in der Literatur zum Mechanism Design umfassend behandelt wurde; siehe z. B. Myerson (1983), Maskin/Sjostrom (2002) und Arunava Sen (2007).
Hadfield (2016, S. 289) bemerkt dazu: „Es ist nicht so, dass es in armen und Entwicklungsländern keine formalen Rechtsregeln und -systeme gebe. Vielmehr gibt es oftmals so viele Regeln und Systeme, dass man unmöglich allen gerecht werden kann.“
Ein Praxisbeispiel aus dem indischen Recht (India’s Banking Regulation Act, 1949): „Unbeschadet anders lautender Bestimmungen eines in Kraft befindlichen Gesetzes sind der Bundesregierung keinerlei Gebühren aus dem Vermögen der Bank zu zahlen.“ Es wäre interessant zu sehen, ob eine Bank damit Erfolg hat, wenn sie unter Berufung auf diese Bestimmung versucht, eine von einem anderen Gesetz verlangte Zahlung an die indische Bundesregierung zu verweigern.
In ähnlichem Sinne zeigen Acemoglu/Johnson/Robinson (2005), wie eine gemeinsame Kultur Gesellschaften dabei hilft, sich auf bestimmte Gleichgewichte zu koordinieren. Insofern kann Kultur das gleiche wie das Recht erreichen, und genau aus dem gleichen Grund kann Kultur auch das Recht behindern.
Dieses Resultat wurde auf der Mikroebene durch Weber/Camerer (2003) bestätigt, die in Laborexperimenten nachweisen konnten, dass ein Zusammenschluss zweier Firmen mit unterschiedlichen Unternehmenskulturen den Unternehmenserfolg beeinträchtigt.
Posner (2000, S. 4) macht eine ähnliche Beobachtung, indem er schreibt: „Ob eine geplante Rechtsnorm Erfolg verspricht, … hängt nicht nur vom Vorhandensein eines kollektiven Handlungsproblems einerseits und kompetenten Rechtsinstitutionen andererseits ab. Entscheidend ist, inwieweit Mechanismen, die außerhalb des Rechtssystems stehen, dieses Problem bereits adressieren und ob die Rechtsnorm diese Mechanismen behindern würde.“
Dennoch beschränkt sich das Problem keineswegs auf Entwicklungsländer. Wie Mailath et al. (2016) anmerken, gibt es selbst in den Vereinigten Staaten des 20. Jahrhunderts viele Beispiele dafür. So wurden während des Zweiten Weltkrieges in den USA Zehntausende Menschen japanischer Abstammung, die meisten davon US-Bürgerinnen und -Bürger, inhaftiert und ihr Besitz konfisziert. Dieser eklatante Verstoß gegen die amerikanische Verfassung wurde von den staatlichen Funktionsträgern einschließlich des Obersten Gerichtshofes kollektiv geduldet. Acemoglu/Jackson (2015) nennen zudem zahlreiche Beispiele von britischen und französischen Gesetzen, die vollkommen ignoriert worden sind.
Gemischte Strategien – so wie „Ich spiele O mit einer Wahrscheinlichkeit von ¾ und U mit einer Wahrscheinlichkeit von ¼.“ – stehen also nicht zur Verfügung.
Nur der Vollständigkeit halber: Wenn die Spieler unendlich viele Strategien zur Verfügung haben, ist die formale Definition von „curb“ ein solches kartesisches Produkt einer nicht leeren und kompakten Untermenge von Strategien für jeden Spieler, dass wenn jeder Spieler erwartet, dass alle anderen nur innerhalb dieser jeweiligen Untermenge auswählen, kein Spieler einen Anreiz hat, eine Strategie außerhalb seiner eigenen Untermenge zu wählen.
Es überrascht nicht, dass curb nur ein Beispiel eines mengenbasierten Gleichgewichtes ist. In der Literatur sind zahlreiche verwandte Konzepte untersucht worden, z. B. von Bernheim (1984), Pearce (1984), Voorneveld (2002) und Arad/Rubinstein (2019).
Kommentare zur inhärenten Ambiguität des Rechts haben eine lange Tradition. Wie Singer (2005, S. 121) bemerkt, hat schon Kant darauf hingewiesen, „dass die Anwendung des Rechts auf die Tatsachen mitnichten eine Routineübung ist. Vielmehr verlangt sie Urteilskraft.“ Man kann argumentieren, obwohl mich das weit über die Grenzen dieses Buches hinaus führen würde, dass Ambiguität nicht nur Teil des Rechts ist, sondern dass sie dazu dient, das Recht wirkungsvoller und sogar gerechter zu machen.
In seiner Diskussion autonomer Dorfgemeinschaften und der militärischen Verteidigung des Dorfes bemerkt Myerson (2017, S. 6): „Es ist klar, dass eine militärische Operation eine Führungsperson erfordert, die gefährliche Einsätze anordnen kann.“ Myerson diskutiert dies im Zusammenhang mit Henry Maines (1871) Klassiker über die Notwendigkeit, eingeborenen Stammesoberhäuptern Führungsrollen im Staat zu geben. Während das nicht die analytische Richtung ist, die Myerson verfolgt, ergibt sich aus dieser Diskussion doch die Frage, warum eine Gesellschaft eine Führungsperson benötigen kann und warum sie ihr folgt. Die Idee einer Führungsperson als fokalem Spieler weiterzuentwickeln, kann helfen, unser Verständnis von Krisensituation weiter zu verbessern.