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2014 | Buch

Die Ordnung des Kontingenten

Beiträge zur zahlenmäßigen Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft

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Über dieses Buch

Die Moderne ist durch eine Mathematisierung der Natur gekennzeichnet. Dass diese Zahlensucht die Art und Weise betrifft, wie die Gesellschaft sich selbst beschreibt, stellt hingegen eine Hochunwahrscheinlichkeit dar, die noch weiter aufgeklärt werden soll. Es ist bekannt, dass zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert einerseits die ersten Sterblichkeits- und Morbiditätstafeln bearbeitet werden, die nicht nur der modernen Bevölkerungsstatistik und Demografie, sondern auch jeder Leibrentenberechnung und demnach den Lebensversicherungsanstalten zugrunde liegen, andererseits die ersten Staatsfinanzberichte vor der Öffentlichkeit bekannt gegeben werden. Hier handelt es sich um eine anspruchsvolle Homogenisierung und Rekombination des Sozialen, deren Abstraktheit der Ausdifferenzierungsform der modernen Gesellschaft besonders angepasst ist. Die Beiträge zielen darauf, die historischen Ursachen, die gesellschaftsstrukturellen Bedingungen und die funktionale Entwicklung eines solchen Phänomens zu erläutern.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
Zahlen, Zahlenverhältnisse, Zahlensucht
Zusammenfassung
Das Interesse der Wissenssoziologie an der Erzeugung und Durchsetzung numerischer Darstellungen sozialer Phänomene ist in jüngster Zeit sehr rege geworden. Tatsächlich setzte es mit dem wohlbekannten Beitrag von Paul Lazarsfeld (1961) ein, doch erst die Intensivierung der philosophisch-historischen Forschung über Statistik und Wahrscheinlichkeitstheorie in den 1980er Jahren gab ihm den entscheidenden Schub; von da an und vor allem im letzten Jahrzehnt hat das Interesse an einer Reduzierung des Sozialen auf numerische Indikatoren außergewöhnlich zugenommen – vielleicht auch deshalb, weil man sich inzwischen daran gewöhnt hat, das Thema der Quantifizierung nicht quantitativ zu behandeln.
Alberto Cevolini

I. Sozialtheoretische und kulturwissenschaftliche Beobachtungen

Frontmatter
Komplexe Ereignisse und kontingente Mengen. Anmerkungen zur Soziologie der Zahl
Zusammenfassung
Wenn ‘Soziologie’ die Frage nach der Möglichkeit sozialer Ordnung stellt und dieses Fragen als Beobachtung der Kommunikation über diese Möglichkeit versteht, dann kann eine ‘Soziologie der Zahl’ nichts anderes beabsichtigen als die Beobachtung der Kommunikation über die Möglichkeit sozialer Ordnung im Medium des Zählens. Die Zahl interessiert weder als Bezeichnung einer Einzelheit noch einer Uniformität, sondern als Bezeichnung einer Varianz möglicher Ordnungsformen. Soziologisch ist letzteres die entscheidende Pointe – eine Zahl ist zwar eine potentiell ‘große Zahl’ (Desrosières 2005), aber sie ist dies nicht nur im Sinne einer Umfassung sehr vieler gleicher Elemente zu einer Menge, sondern auch (und vor allem) im Sinne einer kontextuellen Varianz an Verknüpfungsformen von Elementen und Mengen. Elemente unterscheiden sich, sie sind Individuen – und dies immer zugleich im Sinne einer allgemeinen und im Sinne einer besonderen Eigenheit, so dass große Zahlen immer ‘mikrodiverse’ Mengen bezeichnen: ‘mehr oder minder massierte Zufälle’ (Luhmann 2009: 23; 1997b).
Maren Lehmann
Die Ordnung der Zahlen und die Intransparenz der Öffentlichkeit
Zusammenfassung
Zahlen und Zahlenverhältnisse beherrschen die öffentliche Meinung der modernen Gesellschaft. Sie gehören zu den Produktions- und Selektionskriterien der Nachrichten und inzwischen würde Vieles von dem, was geschieht, niemand verstehen und evaluieren, ohne auf Zahlen, Wachstumsraten oder quantifizierte Größenordnungen Bezug zu nehmen. Betroffen ist nicht nur der Journalismus. Wirtschaft und Wissenschaft, vor allem die sogenannten hard sciences, würden kaum nachvollziehen, wovon sie handeln, könnten sie nicht auf mathematische Formeln oder statistische Variationen zurückgreifen.
Giancarlo Corsi
‘Unwahrscheinliche Wahrscheinlichkeit’. Evidenz im 18. Jahrhundert
Zusammenfassung
1724, am Ende seines Rektorats in Leiden – an einer Universität, die zu dieser Zeit berühmt ist für naturwissenschaftliche Forschung und das, was man anfängt die ‘Newtonsche Philosophie’ zu nennen – hält der Mathematiker und Philosoph Willem ’s Gravesande seine Abschiedsrede: die Rede über Evidenz (Gravesande 1774: 330-345). Das Wort Evidenz entnimmt der Rektor dem philosophischen Sinne nach den Schriften von Descartes und Pascal, Leibniz und Locke. Und er arbeitet weiter am Konzept Evidenz, das noch etwa vierzig Jahre später die Berliner Akademie der Wissenschaften ihrer Preisfrage nach dem Verhältnis zwischen mathematisch-naturwissenschaftlichem und historisch-moralischem Wissen zu Grunde legt.
Rüdiger Campe
Literatur und Statistik. Über das Verhältnis von alphabetischer und numerischer Soziographie
Zusammenfassung
Das Thema dieses Aufsatzes wird zumeist unter Voraussetzung des heute geläufigen Wortsinns von ‘Statistik’ behandelt. Gemeint ist dann die Erhebung und mathematische, vor allem probabilistische Verarbeitung numerischer Daten. Die Geschichte der Statistik rückt damit in die Perspektive einer Vorgeschichte eines bestimmten Zweigs der angewandten Mathematik. Historische Untersuchungen ihres Zusammenhangs mit Literatur setzen dementsprechend bei den Anfängen der Probabilistik in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ein (Kendall 1970; Hacking 1975). Die angesichts der etymologischen Verwandtschaft von ‘zählen’ und ‘erzählen’ zu vermutende Nähe von mathematischen und literarischen Zeichenpraktiken wird an einem Problembezug fest gemacht, den der neuzeitliche Roman mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung teilt: einer neuartigen Erfahrung von Kontingenz.
Marcus Twellmann

II. Sozialwissenschaftliche und wirtschaftstheoretische Untersuchungen

Frontmatter
Das Projekt als quantifiziertes Versprechen
Zusammenfassung
Projekte sind heute eine weit verbreitete Form, in der wir zukünftige Handlungen entwerfen. Sie sind in allen gesellschaftlichen Bereichen verbreitet: von der Wirtschaft über die Wissenschaft bis hin in die Kunst und sogar in die Soziale Arbeit. Projekte finden eine bemerkenswerte Anwendung in Firmen und in formalen Organisationen aus unterschiedlichen Bereichen. Von Projekten ist aber auch in der privaten Sphäre die Rede und die Prinzipien des Projektmanagements breiten sich dermaßen aus, dass sogar von einem Prozess der Projektifizierung der Gesellschaft gesprochen wird (Lundin/Söderholm 1998).
Cristina Besio
Vage Evidenz der Innovation. Zur politischen Konjunktur eines Begriffs
Zusammenfassung
Kaum ein Begriff ist heute so bedeutend und gleichzeitig unbestimmt wie Innovation. Jede Firma setzt darauf, um am Markt Kunden für ihre Angebote zu gewinnen. Im Angesicht rückständiger Entwicklung oder gar von Krisen ist es der Politik das Mittel zur Lösung schlechthin. Selbst Einrichtungen sozialer Dienstleistungen sollten Innovationen aufweisen (Aghamanoukjan 2012). Leistungsfähigkeit und Wohlstand der Gesellschaft scheinen ganz allgemein von Innovationen abhängig zu sein.
René John
Der Preis der Hoffnung
Zusammenfassung
Eine Merkwürdigkeit von Evolution liegt darin, dass Systemanpassung mit einer Steigerung von Komplexität und Unsicherheit einhergeht. Ein gesellschaftliches Beispiel dafür ist das Versicherungswesen. Seine Funktion besteht nicht darin, Sicherheit zu produzieren, sondern eher darin, die selbsterzeugte Ungewissheit auszudehnen, die die Gesellschaft durch Entscheidungen absorbieren kann. Die Entscheidung dient nach wie vor dazu, Zeit zu konstruieren, das heißt Vergangenheit und Zukunft in einer für den Entscheider verbindlichen Weise zu aggregieren, ohne die Zeit lediglich ablaufen zu lassen. Dadurch wird in erster Linie möglich, unendlich viele Zeitzäsuren neu zu kombinieren. Ungewissheit wird erzeugt, indem die Risikobedingungen jeweils präzisiert werden, die die Versicherung handzuhaben vermag. Zu diesem Zweck zieht man den Konsensualvertrag heran. Das Wesen der Versicherung lässt sich damit als eine Präzisierung zugunsten der Ausdehnung der in der Gesellschaft selbsterzeugten Ungewissheit beschreiben.
Alberto Cevolini
Zukunft sui generis? Computersimulationen als Instrumente gesellschaftlicher Selbstfortschreibung
Zusammenfassung
Dieser Beitrag beschäftigt sich mit computersimulierten Vorhersagen als Instrumenten gesellschaftlicher Selbstbeobachtung und Handlungskoordination. Die zunehmende Verwendung numerischer Prognosen zur Vorhersage sozialer Dynamiken wird dabei nicht auf eine sich bahnbrechende technische Eigenlogik reduziert, sondern als kontingente Herausbildung sozio-technischer Vorhersagearrangements verstanden. In diesen Arrangements überlagern sich technische Rationalitäten mit ökonomischen, politischen, professionellen und organisationalen Logiken, die sich sowohl wechselseitig stabilisieren als auch miteinander konkurrieren können. Aus Perspektive der Wissenschafts- und Technikforschung wird in diesem Zusammenhang gefragt, wie die Etablierung computersimulierter Vorhersagen als schrittweise Verschränkung und wechselseitige Ausrichtung von numerischen Prognosen und sozialen Dynamiken verstanden werden kann.
Cornelius Schubert
Algorithmische Kontingenz. Der Umgang mit Unsicherheit im Web
Zusammenfassung
Wie die Soziologie und andere Disziplinen inspirierend und facettenreich untersucht haben (siehe nur Luhmann 1992; Foucault 1966; Koselleck 1979), ist die moderne Gesellschaft geplagt und fasziniert von der Kontingenz – von der immer unbestimmter werdenden Offenheit des Möglichen, mit all ihren Möglichkeiten und Bedrohungen. Wie dieses Phänomen bewertet wird, ist bekanntlich immer noch sehr unterschiedlich. Die Risikodebatte verdeutlicht dies: Die Ausdehnung des Möglichen führt dazu, dass aktiv Gelegenheiten geschaffen werden, die genutzt werden können, sie erzeugt aber auch die Gefahr vor Verletzungen, Enttäuschungen und Schuldzuweisungen.
Elena Esposito
Prognose als plausible Narratio
Zusammenfassung
»Why did no one see the credit crunch coming?«. Im Nachklang der Finanzkrise 2008/09 wurde nicht nur von der englischen Königin gefragt, warum die Ökonomen diese Krise nicht haben vorhersagen können. Offensichtlich hat die Ökonomie ein Nichtwissensproblem: auch wenn man hinterher meint klären zu können, warum die Krise entstand, kann man nicht hinreichend erklären, warum man sie vorher nicht hatte hinreichend erklären oder prognostizieren können. Doch auch was man post hoc geklärt zu wissen meint, fällt wiederum so vielfältig und inkongruent aus, dass man nun doch nicht behaupten kann, wir wüssten, woran es lag.
Birger P. Priddat
Wie wissen wir Wirtschaft? Die Quantifizierung der Wirtschaft als Mediatisierung & Wissenskultur
Zusammenfassung
Es erscheint uns zu Beginn des 21. Jahrhunderts völlig selbstverständlich, dass, wenn über Wirtschaft gesprochen wird, dies vor allem unter Bezugnahme auf Quantitäten passiert. Sowohl die Beschreibung als auch die Analyse und Prognose wirtschaftlicher Belange passiert stets unter Verwendung von zählen, Zahlen und Zahlenverhältnissen.
Werner Reichmann
Die Beobachtung makroökonomischer Zahlen auf den Finanzmärkten
Zusammenfassung
Seit dem Zusammenbruch von Bretton Woods vor ca. vierzig Jahren sind die Währungsmärkte zu globalen Finanzmärkten geworden, auf denen mittlerweile 5,3 Billionen Dollars täglich umgesetzt werden. Weil Wechselkurse zu den wichtigsten Preisen in der Ökonomie zählen, stellte sich bereits in den 1970er Jahren die Frage, wie die Preisbildung auf den Währungsmärkten mit volkswirtschaftlichen Größen wie Inflation, Zinsen und Wachstum zusammenhängt. Diese Frage trieb schließlich eine ganze Generation von Ökonomen zur Verzweiflung. Denn nachdem in den späten 1970er Jahren plausible makroökonomische Modelle zur Bestimmung und Vorhersage Markt-determinierter Wechselkurse entwickelt worden waren (siehe vor allem Dornbusch 1976; Frankel 1979; Frenkel 1976), ergaben anschließende ökonometrische Untersuchungen, dass diese Wechselkursmodelle nicht besser zur Vorhersage taugten als ein Zufallsgenerator (Meese/Rogoff 1983).
Leon Wansleben
Backmatter
Metadaten
Titel
Die Ordnung des Kontingenten
herausgegeben von
Alberto Cevolini
Copyright-Jahr
2014
Electronic ISBN
978-3-531-19235-2
Print ISBN
978-3-531-19234-5
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-19235-2