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2008 | Buch

Die Semantik der neuen deutschen Außenpolitik

Eine Analyse des außenpolitischen Vokabulars seit Mitte der 1980er Jahre

herausgegeben von: Gunther Hellmann, Christian Weber, Frank Sauer

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Über dieses Buch

Das Humboldt’sche Ideal der „Einheit von Forschung und Lehre“ fehlt auch in „Bologna“-Zeiten nur selten in den Reden deutscher Hochschulpolitiker. Dass die Freiräume zur praktischen Umsetzung dieser „Einheit“ unter den Bedingungen moderner deutscher BA/MAssenuniversitäten allerdings immer stärker schw- den, liegt für alle Insider auf der Hand. Umso dankbarer sind sie, wenn sie diese wenigen Freiräume ausschöpfen und den gesamten Forschungsprozess von der Formulierung eines Problems bis zur Veröffentlichung eines wissenschaftlichen Aufsatzes bzw. eines Buches in einem Lehr-Forschungsprojekt durchlaufen k- nen. Das vorliegende Buch und ein parallel von der „Politischen Vierteljah- schrift“ veröffentlichter Aufsatz sind das Ergebnis eines solchen Projekts. Beide basieren auf den Ergebnissen der zweisemestrigen, forschungsorientierten Le- veranstaltung „Das neue außenpolitische Vokabular der Berliner Republik: - tersuchungen zur Veränderung deutscher Außenpolitik“, die Gunther Hellmann im Wintersemester 2004/2005 sowie im Sommersemester 2005 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main unterrichtet hat. Frank Sauer und Sonja Schirmbeck haben diese Veranstaltung anfangs als Tutoren begleitet. Christian Weber war zunächst als Student Teilnehmer der Veranstaltung. Bereits im Frühjahr 2005 unterstützte er den Arbeitsbereich allerdings auch als „stud- tische Hilfskraft“ – und in diesem Zusammenhang wirkte er wesentlich an der Umsetzung dieses Lehr-Forschungsprojekts mit.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
De. Vokabularanalyse — Ein sprachanalytischer Ansatz zur Erforschung außenpolitischer Identität
Auszug
Kontinuität und Wandel sind zwei Kategorien, die die politikwissenschaftliche Analyse deutscher Außenpolitik im letzten Jahrzehnt wesentlich prägten. Außenpolitische Kontinuität wurde dabei zumeist im Sinne des Festhaltens an den bundesrepublikanischen Handlungsmaximen eines „Handelsstaates“ oder einer „Zivilmacht“ verstanden, außenpolitischer Wandel hingegen in aller Regel als Hinwendung zu einer stärker eigenständigen und machtorientierten Politik konzeptualisiert. Befürworter eines so verstandenen Wandels forderten eine „Normalisierung“ der deutschen Außenpolitik, während diejenigen, die ihn eher befürchteten denn erhofften, vor einer drohenden „Militarisierung“ warnten.3 Bis weit in die erste Amtszeit der Regierung Schröder hinein dominierte in fachwissenschaftlichen Kreisen die Auffassung, dass die Kategorie der Kontinuität die Außenpolitik des vereinten Deutschlands weit treffender charakterisiere, als die des Wandels. Je deutlicher die rot-grüne Regierung jedoch von früheren außenpolitischen Maximen abwich, desto mehr geriet die Kontinuitätsthese in Widersprüche. Beispiele wie der Konflikt mit Frankreich um die Verstärkung der deutschen Stimmgewichtung im EU-Ministerrat Ende der neunziger Jahre, die deutschen Vorstöße zur Relativierung des Euro-Stabilitätspakts oder auch das forcierte Streben nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat waren nur schwerlich mit der „Bonner“ Tradition außenpolitischer „Zurückhaltung“ in übereinstimmung zu bringen. Erst die markanten und teilweise auch offen als Tabu-Brüche markierten Einschnitte in der deutschen Außenpolitik im Nachgang zu den Ereignissen des 11. Septembers 2001 sowie dem US-Feldzug gegen Saddam Hussein im Irak ließen auch in politikwissenschaftlichen Fachkreisen die Erkenntnis wachsen, dass die Veränderungen möglicherweise doch tiefer reichen könnten, als lange Zeit angenommen.
Gunther Hellmann, Christian Weber, Frank Sauer, Sonja Schirmbeck
De. Deutschland
Auszug
Im alltäglichen Sprachgebrauch beziehen sich die Begriffe deutsch und Deutschland nicht nur auf den geografischen Raum in der Mitte Europas. Ebenso werden mit ihnen die Staatsbürgergesellschaft innerhalb der Grenzen Deutschlands (das ‚deutsche Volk’), die Nation, Sprache und Kultur benannt, sowie Eigenarten einer Sache, Person oder Personengruppe. Die inhaltliche Wertung, was mit deutsch oder Deutschland impliziert wird, bleibt dabei unbestimmt.
De. Europa
Auszug
Das Wort Europa wird meist als geographische Bezeichnung für den Erdkontinent verwendet. Dieser Gebrauch des Wortes ist eng mit einer konkreten Vorstellung von Größe, Grenzen und zugehörigen Staaten auf einer definierten Landmasse verknüpft.
De. Frieden
Auszug
Der Begriff Frieden beschreibt im allgemeinen Sprachgebrauch eine soziale Beziehung, da er einen Zustand des Zusammenlebens klassifiziert: ein friedliches Miteinander mehrerer Individuen und Gruppen innerhalb einer Gesellschaft oder zwischen Staaten. Als Antonym zu Krieg wird durch Frieden die Abwesenheit von Gewalt und somit eines der grundlegenden menschlichen Bedürfnisse nach körperlicher, geistiger und seelischer Unversehrtheit bezeichnet.
De. Gleichberechtigung
Auszug
Im alltäglichen Sprachgebrauch wird die Bedeutung von Gleichberechtigung meist mit einer Art von ‚Gleichrangigkeit’ oder ‚Ebenbürtigkeit’ verbunden. Gleichberechtigung im Sinne von ‚Gleichrangigkeit’ bezieht sich auf einen Maßstab innerhalb einer sozialen Beziehung, der den Beteiligten einen bestimmten Rang zuteilt. Die Forderung nach Gleichberechtigung impliziert also immer, dass die Beziehung ungleich sei.
De. Integration
Auszug
Im alltäglichen Sprachgebrauch versteht man unter Integration die Herstellung einer Einheit, bzw. die Eingliederung einer Person oder Gruppe in ein größeres Ganzes. Die Integration einer neuen Mitarbeiterin in ein Kollegium oder die eines Zuwanderers in eine bestehende Gesellschaft bedeutet, dass sie sich in einer neuen Umgebung zurechtfinden und dort als Teil des Kollektivs aufgenommen und akzeptiert werden. Wenn es um die Integration von Staaten in der internationalen Politik geht, wird dagegen nicht unbedingt vorausgesetzt, dass bereits ein Zusammenschluss existiert. Vielmehr kann dort Integration auch als Prozess verstanden werden, in dem einzelne Staaten sich zu einer neuen Einheit formieren. Integration meint im außenpolitischen Sprachgebrauch zudem mehr als nur ‚Kooperation’ oder ‚Zusammenarbeit’ zwischen einzelnen Staaten. Von Integration wird nur dann gesprochen, wenn mehrere Staaten sich auf der Grundlage multilateraler Vereinbarungen zu einem Verbund zusammenschließen und sich nach gemeinsamen Prinzipien und Regeln neu organisieren.
De. Interesse
Auszug
— (1) zufrühest in der rechtssprache, der antheil, der dem vermögen jemandes aus der handlung eines andern entsteht, (...) (2) dann nutzen, vortheil überhaupt (...), (3) namentlich häufig in der gewöhnlichen sprache der zins eines ausgeliehenen kapitals (...) (4) milderes wort für gewinnsucht, eigennutz (...) (5) in der gewählteren spräche seit dem vorigen Jahrhundert ist interesse der antheil, den wir an einer sache nehmen.
De. Macht
Auszug
Macht bezeichnet heute im allgemeinen Sprachgebrauch die Möglichkeit oder Fähigkeit, eine angestrebte Wirkung zu erzielen oder zumindest wahrscheinlicher zu machen. Unter Macht wird vor allem auch das Vermögen verstanden, seinen eigenen Willen durchzusetzen. Darüber hinaus ist der Begriff auch grundlegender Bezugspunkt politischer Theoriebildung und zentrale Analysekategorie in der Politikwissenschaft.
De. Multilateralismus
Auszug
Multilateralismus ist ein Begriff aus der Fachsprache der Politikwissenschaft. In der Alltagssprache wird er fast überhaupt nicht verwendet. Da er allerdings im Fachdiskurs der Internationalen Beziehungen in den vergangenen Jahrzehnten aufgrund der zunehmenden Verflechtung und Kooperationsnotwendigkeiten der internationalen Politik zu einem zentralen Begriff avancierte, hat er auch verstärkt Eingang in die Sprache von Außenpolitikern und Medienvertretern gefunden.
De. Normalität
Auszug
Normalität beschreibt im alltäglichen Sprachgebrauch einen Zustand, dem eine allgemein anerkannte (Verhaltens-)Regel zu Grunde liegt. Solche Normen, die sich entweder an einem Ideal, an einem erwünschten Zustand oder am Durchschnitt orientieren, werden fortwährend gesellschaftlich konstruiert. Da die Wahl der Bezugspunkte den subjektiven Anschauungen jedes Einzelnen unterliegt, sind die daraus erwachsenden Normen prinzipiell erst einmal umstritten. So ist es nur natürlich, dass eine Vielzahl von Auslegungen und Interpretationen über die Bedeutung des Wortes Normalität existieren.
De. Selbstbewusstsein
Auszug
Im bdalltäglichen Sprachgebrauch steht Selbstbewusstsein gemeinhin für eine erstrebenswerte Eigenschaft von Individuen oder Gruppen, die sich insbesondere in ihrem Verhalten gegenüber anderen Individuen (oder Gruppen) äußert. Selbstbewusstsein ist in diesem Sinne notwendigerweise ein relationales Phänomen. Nicht selten verweist es auf die soziale Positionierung von Individuen oder Gruppen innerhalb einer Hierarchie. Da Selbstbewusstsein durchweg positiv konnotiert ist, benutzen Politiker den Begriff gerne als Stilmittel zur Aufwertung ihrer eigenen Politik. Wegen seiner Unbestimmtheit eignet er sich gut, um die eigenen Vorstellungen gegenüber politischen Alternativen als die eigentlich angemessenen hervorzuheben und in griffiger Form zu transportieren.
De. Sonderweg
Auszug
Die Vokabel Sonderweg findet im alltäglichen Gebrauch wenig bis gar keine Verwendung. Nach dem 2. Weltkrieg wurde sie zumeist im Zusammenhang mit deutscher Außenpolitik angewandt. In den überwiegenden Fällen wird ein solcher Weg als ein deutsches Abweichen von bewährtem außenpolitischen Handeln verstanden, der abseits jener Wege beschritten wird, die die europäischen Nachbarn verfolgen.
De. Stolz
Auszug
Mit dem Begriff Stolz bringt man im alltäglichen Sprachgebrauch ein Gefühl der Freude und der Selbstgewissheit über die eigenen Leistungen, den eigenen Besitz oder die eigene Identität zum Ausdruck. Stolz braucht immer einen Träger und einen Bezugspunkt, also eine Person oder eine Gruppe, der oder die auf etwas stolz ist. Stolz wird gemeinhin als berechtigt akzeptiert, solange dafür eine Grundlage ersichtlich ist. Eine übertreibung darüber hinaus erweckt schnell den Eindruck von Prahlerei und Arroganz.
De. Verantwortung
Auszug
Verantwortung wird im allgemeinen Sprachgebrauch als eine Sorgfalts- und Aufsichtspflicht verstanden sowie als eine Pflicht, Konsequenzen zu tragen. Innerhalb eines Verantwortungsbereiches folgen aus dem Handeln Konsequenzen in Gestalt von Erfolg, Misserfolg, Glück oder Schuld. Dieses anerkannte Verständnis wird von Politikern aufgegriffen, um die Notwendigkeit ihrer Handlungen zu rechtfertigen. Kein Akteur, gleich aus welcher politischen Richtung er kommt, wird die Notwendigkeit bestreiten, verantwortlich zu handeln. Es ist ein vertrauter und anerkannter Begriff, dem in der Regel nicht widersprochen wird, da niemand einer unverantwortlichen Aktion schuldig gemacht werden will. So dient der Verantwortungsbegriff besonders Regierungsmitgliedern zur Legitimierung der eigenen Politik, die somit als alternativlos dargestellt wird.
De. Zivilität
Auszug
Der Begriff Zivilität, im alltäglichen Sprachgebrauch mit Höflichkeit oder Anstand gleichbedeutend, geht auf das lateinische Wort ‚civilis“ (bürgerlich) sowie das Stammwort ‚civis“ (Bürger) zurück. Die grundlegende Bedeutung des Begriffes wird in der Regel auf den Entwicklungsstand eines Individuums, einer Gesellschaft oder Zivilisation bezogen.
De. Fazit — Ein neues, eigenständigeres Deutschland
Auszug
Das Anliegen dieses Buches ist es, einen neu entwickelten, sprachphilosophisch inspirierten Forschungsansatz zu präsentieren und exemplarisch anzuwenden, den wir „Vokabularanalyse“ nennen. Zwei Referenzpunkte machen die Analyse ausgewählter Schlüsselbegriffe des außenpolitischen Diskurses in Deutschland mit Blick auf die letzten zwanzig Jahre besonders interessant: Zum einen die Annahme, dass sich Außenpolitik — wie generell jegliche Politik und auch ein großer Teil menschlichen Handelns überhaupt — im Wesentlichen sprachlich artikuliert und insofern auch die ((un-)veränderte) außenpolitische Praxis in ((un-) veränderten) Redeweisen zum Ausdruck kommt; zum anderen die im fachlichen Diskurs anhaltende Debatte darüber, wie die Entwicklung deutscher Außenpolitik in den vergangenen Jahren zu charakterisieren sei — eine Debatte, die sehr stark unter der (unseres Erachtens irreführenden) Dichotomisierung geführt wurde, ob Kontinuität oder Wandel überwiege. Vor diesem Hintergrund war unser Ziel ein theoretisch reflektierter wie auch empirisch untermauerter Zugriff, der sich von der alten „Kontmuität-oder-Wandel“-Debatte insofern abhebt, als er eine Antwort auf die Frage zu geben versucht, wie genau sich deutsche Außenpolitik in den letzten ca. fünfzehn Jahren nun eigentlich entwickelt hat — d.h. welche Art von Beschreibung dieser Entwicklung besonders treffend erscheint. Die eingehendere Untersuchung des Gebrauchs von ausgewählten Schlüsselbegriffen im außenpolitischen Vokabular Deutschlands sollte insbesondere nachzeichnen, in welcher Weise das Selbstverständnis Deutschlands (artikuliert in Sprechakten der außenpolitischen Elite) in diesem Zeitraum durch Veränderung gekennzeichnet ist. Die empirische Untersuchung verschiedener Schlüsselbegriffe förderte dabei in der Tat augenfällige Verschiebungen zu Tage.
Gunther Hellmann, Christian Weber, Frank Sauer
Backmatter
Metadaten
Titel
Die Semantik der neuen deutschen Außenpolitik
herausgegeben von
Gunther Hellmann
Christian Weber
Frank Sauer
Copyright-Jahr
2008
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-91209-7
Print ISBN
978-3-531-16064-1
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-91209-7