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Open Access 2021 | OriginalPaper | Buchkapitel

Die Theater brauchen eine starke Kulturpolitik, um sich verändern zu können

Ein Interview mit Marc Grandmontagne, Geschäftsführer des Deutschen Bühnenvereins

verfasst von : Birgit Mandel

Erschienen in: Cultural Governance

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Der Deutsche Bühnenverein ist sowohl Arbeitgeber- wie Interessenverband der Theater und Orchester in Deutschland und unterstützt diese in künstlerischen, organisatorisch-strukturellen wie in kulturpolitischen Fragen mit dem übergreifenden Ziel, „die einzigartige Vielfalt der Theater- und Orchesterlandschaft in Deutschland zu erhalten“.
Der Deutsche Bühnenverein ist sowohl Arbeitgeber- wie Interessenverband der Theater und Orchester in Deutschland und unterstützt diese in künstlerischen, organisatorisch-strukturellen wie in kulturpolitischen Fragen mit dem übergreifenden Ziel, „die einzigartige Vielfalt der Theater- und Orchesterlandschaft in Deutschland zu erhalten“.
In welcher Weise begreift sich der Deutsche Bühnenverein als kulturpolitischer Akteur, in welcher Weise nimmt er Einfluss auf Veränderungsprozesse in der Theaterlandschaft?
Wir sind zunächst Arbeitgeberverband der deutschen Theater und Orchester mit rund 140 öffentlichen und rund 70 privaten Theatern sowie über 30 selbständigen Orchestern. Neben den künstlerischen Leitungen sind bei uns die Rechtsträger – also bei den öffentlichen Häusern die Kommunen und Bundesländer – Mitglieder. Zu unseren Aufgaben gehört daher der ganze Bereich Tarifpolitik, Tarifverhandlungen und Tarifabschluss für das künstlerische Personal sowie der große Bereich des Urheberrechts. Auf der Arbeitnehmer*innenseite sitzen uns drei Gewerkschaften gegenüber.
Wir sind gleichzeitig auch der Interessenverband für die institutionalisierten darstellenden Künste, woraus sich nicht nur Verpflichtungen zur Pflege der aktuellen Theater- und Orchesterlandschaft ergeben, sondern auch zur Weiterentwicklung für die Zukunft. Dies beinhaltet vor allem, gesellschaftliche Debatten aufzugreifen, Stellung zu beziehen und sie konstruktiv in den Diskurs mit den Mitgliedern, aber auch mit der Politik und der Öffentlichkeit einzubringen. Hieraus können sich bisweilen auch schwierige Spannungsfelder zur Arbeitgeberrolle ergeben, die aber wichtig sind und die wir nicht für eine Schwäche, sondern eine Stärke unseres Verbands halten. Bei uns sitzen sowohl die Kunst als auch die Politik am Tisch, Lösungen sind nur möglich, wenn beide Gruppen von Akteuren ins Gespräch kommen. Der Deutsche Bühnenverein ist auf vielen Feldern aktiv: Wir tragen durch unsere Publikationen, insbesondere die jährliche Theater- und Werkstatistik dazu bei, den empirisch nur schwach ausgeleuchteten Raum der Kulturpolitik ein wenig zu erhellen, wir engagieren uns sehr im Verbund mit vielen anderen Verbänden und Akteuren in der Kulturpolitik (etwa im Deutschen Kulturrat, der Deutschen UNESCO-Kommission, dem Deutschen Städtetag, der Deutschen Theatertechnischen Gesellschaft und vielen anderen), verleihen gemeinsam mit den Bundesländern und der Kulturstiftung der Länder den jährlichen Deutschen Theaterpreis „DER FAUST“ und beteiligen uns in der Umsetzung von Förderprogrammen wie z. B. „Kultur macht stark“, um nur einige Beispiele zu nennen. Auch mit vielen neuen Initiativen, wie z. B. dem „Ensemble Netzwerk“, „art but fair“ oder „dancersconnect“ suchen wir den Dialog. Es ist viel Energie, leider auch viel Frust und Enttäuschung im System, das ist komplex, wir müssen uns dem aber stellen und gemeinsam nach Lösungen suchen.
Ein Schlüssel für eine erfolgreiche Bewältigung der anstehenden Aufgaben ist eine starke Kulturpolitik. Hier sind leider seit vielen Jahren Defizite zu verzeichnen, die Kulturpolitik hat selbst einen schweren Stand im politischen System, viele Kulturpolitiker*innen haben eine Fülle von weiteren Verantwortungsbereichen zu bewältigen und können daher auch nur selten zu Sitzungen des Bühnenvereins kommen. An all diesen Dingen ist zu arbeiten, die Kulturpolitik muss mutiger und konkreter werden in der Entwicklung eigener Erwartungen und muss im sensiblen Prozess der Veränderungen gleichzeitig wieder mehr Verlässlichkeit den Häusern und Künstler*innen gegenüber bieten. Die Kulturpolitik selbst muss mit den von ihr geförderten Theatern stärker in den Diskurs gehen: Was will ich von meinem Theater? Künstlerische Exzellenz? Möchte ich mehr Engagement im Bereich Bildung? Welche Rolle spielen etwa soziale Teilhabe, Diversität und Geschlechtergerechtigkeit? Damit greift Politik nicht in die künstlerische Freiheit ein, sondern gestaltet den kulturpolitischen Rahmen.
Was sind aktuell die größten Herausforderungen für den Deutschen Bühnenverein?
Sicherlich überlagert die Corona-Pandemie zurzeit alles: Neben der Herausforderung Perspektiven für die künstlerische Produktion und Öffnung unter Infektionsschutzgesichtspunkten zu erarbeiten, schauen wir mit großer Sorge auf die Entwicklung der öffentlichen Finanzen, vor allem in den Kommunen. Es muss verhindert werden, dass in den nächsten Jahren ein Kahlschlag zulasten der Kultur stattfindet. Die Folgen wären dramatisch für das öffentliche Leben. Starke Institutionen wie Theater und Orchester haben eine Schlüsselrolle und -verantwortung im System der darstellenden Künste, auch als Auftraggeber*innen für die vielen freien Gruppen und Künstler*innen.
Eine der zentralen weiteren Herausforderungen für uns als Arbeitgeberverband liegt darin, die Zukunft der Arbeits- und Vergütungsbedingungen in den geltenden Tarifverträgen zu gestalten: Neben Fragen der Mindestvergütung und zu den Arbeitszeiten muss gewährleistet werden, dass es nach wie vor ausreichende Freiheiten für die Kunst geben muss. Das Thema ist außerordentlich komplex, spielen hier auch aktuelle kritische Diskurse zu Machtverhältnissen und Missbrauch, zur Geschlechtergerechtigkeit und zu strukturellen Fragen mit rein. Dazu kommen neue Bedürfnisse einer jungen Generation, die sehr genaue Vorstellungen von der eigenen Work-Life-Balance hat. All das muss mit finanziellen Möglichkeiten und künstlerischen Anforderungen vereint werden, eine große Herausforderung.
Überhaupt sind Themen der strukturellen Verfasstheit, der inneren Ordnung und Kommunikation, der Partizipation und Mitsprache etwas, was den Nerv der Zeit trifft: Debatten um Macht und Machtmissbrauch, #MeToo, Geschlechtergerechtigkeit, Familienfreundlichkeit, Diversität und Rassismus wühlen das Theater (aber auch die gesamte Gesellschaft) zurzeit sehr auf, hier herrscht großer Gesprächs- und Handlungsbedarf.
Die Liste weiterer zentraler Themen ist lang: Der Fachkräftemangel im technischen und administrativen Bereich ist ein großes Problem. Nach einer internen Erhebung in unserem Verband wird es sehr schwierig werden, den Personalbedarf in diesen Bereichen bis 2030 zu decken. Neben der Stärkung eigener Ausbildungskapazitäten bedarf es kommunikativer Anstrengungen in der Öffentlichkeit, dass Theater Ausbildungs- und Arbeitsplätze bereithalten, auch für Berufsgruppen, die einem nicht sofort in den Sinn kommen. Interessant ist doch, dass einige traditionelle Berufe wie Modist*in oder Hutmacher*in fast nur noch am Theater erlernt werden können.
Daneben dringen Themen wie Klimaschutz und Nachhaltigkeit stärker auf die Tagesordnung. Hier sind alle Bereiche des Theaters betroffen: Die künstlerische Produktion, Gastspiele und Konzertreisen, der technische Betrieb des Hauses und das Publikum. Auch die Digitalisierung auf, vor und hinter der Bühne ist nach wie vor ein großes Thema, ebenso wie die zahlreichen Bau- und Sanierungsvorhaben in vielen Häusern.
Ohne eine starke Kulturpolitik sind diese Herausforderungen nicht zu stemmen.
Welchen gesellschaftlichen Auftrag haben die öffentlich getragenen Theater und welche unterschiedlichen Erwartungen gibt es an diese?
Grundsätzlich lautet der Auftrag, gute Kunst für die Menschen vor Ort zu machen. Die öffentlichen Theater stehen dabei oft der etwas schizophrenen Situation gegenüber, dass einerseits in der Öffentlichkeit ein Bündel verschiedener und kaum miteinander in Einklang zu bringender Erwartungen existiert, das andererseits auf wenig konkrete Vorstellungen aus dem politischen Raum trifft. Ich sage mal so: Theater können nicht Defizite kompensieren, die in der Jugend-, Sozial- oder Bildungspolitik liegen. In einem Konzept stimmiger Kulturpolitik können sie aber gemeinsam mit Jugend-, Bildungs- und Sozialinstitutionen dafür sorgen, dass Themen wie kulturelle Bildung, Teilhabe, Vermittlung und Inklusion erfolgreich bearbeitet werden.
Vor diesem Hintergrund eröffnet gutes Theater die Resonanzräume, in denen eine Gesellschaft ihre Werte und Konflikte mit künstlerischen Mitteln verhandelt. Übrigens ohne erhobenen Zeigefinger, darin liegt ihre Stärke. Theater ist so alt wie die Menschheit, es gehört als Ausdruckssprache zum Menschsein dazu und ist Ausdruck von Freiheit und Komplexität: Kunst produziert stets Alternativen, indem sie Perspektivwechsel vollzieht und uns Menschen den Spiegel vorhält. Das macht sie so gefährlich für totalitäre und autoritäre Strukturen. Kunst ist gleichzeitig im besten Sinne überflüssig und entzieht sich jeder Instrumentalisierung. Darstellende Kunst ist zudem ephemer. Was für ein Glück in dieser Zeit des Optimierens und Funktionierens, in der scheinbar alles zu jeder Zeit verfügbar geworden ist.
Selbstverständlich müssen sich die Theatermacher*innen anstrengen, ihren gesellschaftlichen Auftrag vor Ort mit der Stadtgesellschaft, der Politik und dem Publikum immer wieder neu auszuhandeln. Welche Themen spielen eine Rolle in der Gesellschaft? Welches Publikum erreiche ich und welches nicht? Welche Inhalte und Formate biete ich an? Wie werde ich der Verantwortung als öffentlicher Ort gerecht? Wenn ein Haus mit öffentlichen Mitteln finanziert wird, bestehen auf vielen unterschiedlichen Ebenen auch Verpflichtungen gegenüber der Öffentlichkeit. Das bedeutet nicht, künstlerische Ansprüche zu verhandeln, sondern den Rahmen so zu gestalten, dass die Kunst vollumfänglich ihre Kraft mit größter Wirkung in der Gesellschaft vor Ort entfalten kann. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe, aber im Theater arbeiten viele kluge Menschen mit großer Kraft und Leidenschaft. Gute Kunst hat noch immer am besten den Beweis dafür erbracht, warum Theater relevant ist.
Und die Theater tun sehr viel: In den letzten Jahren wurden die Programme diverser gestaltet und ausgeweitet, um der Diversifizierung der Gesellschaft Rechnung zu tragen. Insbesondere Diskursformate wie Vor- und Nachbesprechungen von Aufführungen, theaterpädagogische Angebote, Bürgerbühnen oder Diskussionsveranstaltungen in den Häusern zeugen davon, wie sehr vor Ort daran gearbeitet wird, den gesellschaftlichen Diskurs zu befördern. Davon zeugen auch unsere Zahlen in der Theaterstatistik.
Befindet sich das deutsche Theatersystem in der Krise?
Krise kann ein Antrieb sein, positive Energien freizusetzen. Keine Krise hieße, alles gut, wir müssen uns nicht mehr verändern. Den Zustand wird man nie erreichen. Daher glaube ich, es ist ein Antrieb, der zur Weiterentwicklung und zum Hinsehen verpflichtet und der uns vor Augen führt, dass es nicht die endgültige Lösung gibt, sondern immer nur temporäre. Auch der kulturpolitische Auftrag ist ja nur auf Zeit angelegt. Selbstverständlich fliegen auch hin und wieder die Fetzen, Erhitzung gehört aber sowohl zum politischen als auch zum künstlerischen System dazu. Und an Themen mangelt es ja nicht.
Auf welche Weise sollten sich die Stadt- und Staatstheater verändern?
Zunächst: Dem hier und da zu vernehmenden Mantra des unveränderten Stadttheaters würde ich widersprechen. Die Häuser haben sich in den letzten Jahren stark geöffnet, sich hinterfragt und vor Ort vieles getan, um auf der Höhe der Zeit zu sein: Vermittlungsprogramme, Diskursformate, kulturelle Bildung, Theaterpädagogik, Kooperationen mit Schulen und anderen Einrichtungen etc. Auch ein neues Bewusstsein für mehr Geschlechtergerechtigkeit und Familienfreundlichkeit setzt sich durch, es wird viel über Diversität und Rassismus gestritten. Wir sind längst in einer unaufhaltsamen Entwicklung in der gesamten Gesellschaft, die natürlich auch vor dem Theater nicht Halt macht. Zudem gibt es innerhalb des Theatersystems viele große Unterschiede: Eine norddeutsche Landesbühne ist etwas völlig anderes als die bayerische Staatsoper, insofern kann man höchstens fragen, welche Veränderungsnotwendigkeit sich im konkreten Einzelfall ergibt.
Natürlich verfügen manche Strukturen nach wie vor über eine große Beharrung, auch das ist völlig normal und nicht immer schädlich. Gerade Corona hat uns doch vor Augen geführt, welche Vorteile eine öffentliche Theaterstruktur hat. Ohne Zweifel ist die Kritik am System ernst zu nehmen: Machtmissbrauch muss unterbunden werden, ein männlicher Geniekult ist kein Angebot mehr in dieser Zeit und Rassismusvorwürfen ist konsequent nachzugehen. Ich warne aber davor, das Kind mit dem Bade auszuschütten: Nur weil es Probleme gibt, muss nicht gleich die ganze Struktur über Bord geworfen werden. Zumal viele Forderungen kämpferisch klingen, aber wenig konstruktiv daherkommen. Was unter einem antirassistischen Theater zu verstehen ist, liegt eben nicht auf der Hand, es muss verhandelt werden. Familienfreundliche Arbeitsbedingungen sind ohne die Politik nicht zu erreichen, denn das kostet zusätzliches Geld. Gegen das Intendant*innenmodell zu Feld zu ziehen ist nur konsequent, wenn ich gleichzeitig sage wie (vor allem unbequeme) Entscheidungen stattdessen herbeigeführt werden können, vor allem wenn die Politik nach wie vor eine*n Verantwortliche*n haben will. Auch die Verdammung des Normalvertrags Bühne übersieht oft, welche dramatischen Folgen seine Abschaffung realistisch herbeiführt. All das bedeutet natürlich nicht, ihn nicht konsequent und mutig weiter entwickeln zu müssen. Mehr Komplexität wäre angebracht, auch mehr Qualität gerade was die Zusammenarbeit mit der Kulturpolitik angeht. Auch die Medien sind in diesem Zusammenhang zu kritisieren, auch wenn es natürlich strukturelle Gründe dafür gibt, warum das Niveau der Berichterstattung teilweise so unterkomplex geworden ist. Wir reden zwar ständig über das „was“ zu tun ist, aber kommen selten dazu dem „wie“ ausreichend Beachtung zu schenken. Viele Debatten enden bevor sie angefangen haben, weil zwei, drei Schlagworte ausreichen, um völlig an der Sache vorbeigehende Erregungsdebatten auszulösen, die meist nichts zur Lösung beitragen.
Insofern kriegen wir die Debatten um Geschlechtergerechtigkeit, Vergütungsgerechtigkeit und Diversität am Theater nur in den Griff, wenn es gelingt, andere Bedingungen der Kommunikation zu etablieren – in den Ensembles, den Häusern und in der Kulturpolitik. Das ist eine große Herausforderung für die demokratisch verfassten Gesellschaften unserer Zeit.
Wie viel Mitbestimmung braucht der Theaterbetrieb?
Der Intendant, das absolutistische Wesen. Theater als der letzte Hort des Feudalismus. Wenn solche Vorwürfe aufbranden, sagt das oft weit mehr über die Persönlichkeit des oder der Betreffenden als über die Strukturen aus. Zunächst: Spartenintendanzen können ziemlich gut funktionieren, es gibt ein System der Mitbestimmung durch Betriebs- und Personalräte, es gibt Ensemblesprecher*innen, Leitungsrunden, Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsbeauftragte etc. Hinzu kommen Verwaltungs- und Aufsichtsräte, Kulturausschüsse und Gemeindeparlamente. Und doch erfahren wir immer wieder, dass es mancherorts nicht funktioniert. Intendant*innen können Menschenschinder sein, Betriebsräte komplett dysfunktional, Aufsichtsgremien blind und taub und Leitungsrunden ängstlich und entscheidungsunfähig. Es gibt auch das genaue Gegenteil. Radikale Versuche, die Mitbestimmung im Theater zu etablieren, sind in den 1970er Jahren eher gescheitert, die Gründe dafür liegen auf der Hand.
Ich selbst finde es richtig, wenn die einzelnen Sparten selbst über die Kunst entscheiden können. Die Spartenintendanz ist ein gutes Beispiel dafür. Und ich finde es natürlich, wenn auch ein*e Spartenintendant*in die eigenen Leute in die konzeptionelle künstlerische Arbeit aktiv mit einbezieht. Arbeiten auf Augenhöhe sozusagen. Das ist mehr eine Kommunikationsaufgabe als am Ende die Frage der juristischen Entscheidungsberechtigung. Ein offenes Ohr für das eigene Team und motivierende Transparenz und Kritikfähigkeit sind Bedingungen, die im Jahr 2020 normal sein sollten. Dass am Ende eine Person oder eine Doppelspitze die politische Verantwortung mitträgt, das halte ich für einen Gewinn.
Was ist die größte Schwierigkeit bei den notwendigen Schritten zur Transformation des Theatersystems?
Wir leben in einer sehr heterogenen Gesellschaft, in der es sehr viele verschiedene Ansichten darüber gibt, was „richtig“ ist. Daher wird es vermutlich keine Lösung geben, der alle applaudieren. Zudem gibt es ein Nebeneinander verschiedenster Logiken im System Kunst-Gesellschaft-Politik. Kommunale Finanzpolitik funktioniert nicht nach der Logik eines Theaters, das Publikum hat andere Erwartungen als die Intendanz oder der Gemeinderat. Und manchmal entscheidet ganz einfach die Feuerwehr oder der TÜV, ob gespielt werden kann oder nicht. Eine Änderung des künstlerischen Stils kann das Publikum irritieren und zu Einnahmeausfällen führen, was wiederum die Politik in Gang setzt. Bis neues Publikum ans Haus gebunden ist, dauert es oft Jahre – Zeit, die dem oder der Neuen an der Spitze eines Hauses oft nicht gegeben wird. Veränderungen rufen Widerstand hervor. Unbequeme Entscheidungen benötigen Haltung und Kraft, Fehler machen angreifbar. Wir befinden uns hier eher auf der Ebene der Psychologie. Auch hier geht es eher um das „wie“ als um das „was“. Kommunikation, Transparenz und Haltung sind notwendig, um überhaupt etwas zu bewirken. Und noch mal: Ohne eine verlässliche Kulturpolitik funktionieren Transformationen nicht. Erst politische Rückendeckung erlaubt es, gemeinsam Veränderungen zum Positiven anzustoßen.
Begrenzt sich Kulturpolitik in Deutschland auf die Auswahl der Intendanzen?
Wenn es so ist, läuft was schief. Natürlich muss die Kulturpolitik die Leitungen aussuchen. Dem vorausgehen sollte aber eine genaue Meinungsbildung, was der Rechtsträger mit dem Theater will und welche Voraussetzungen dafür notwendig sind. Soll künstlerische Exzellenz fortgesetzt oder etabliert werden? Was sind die konkreten Bedingungen in der Stadt? Welche Bedeutung haben kulturelle Bildung, Vermittlung oder soziales Engagement? Und was muss der oder die Neue an Management-Skills mitbringen, damit er oder sie für die betriebliche Führung ausreichend vorbereitet ist? Wer ist am Auswahlprozess zu beteiligen? Welche Erwartungen stellt die Stadt an die Entwicklung der nächsten Jahre? Und in welchem Verhältnis definiert sich die Politik mit Bezug zum Theater? Das sind alles ziemlich komplexe Fragen. Gerade vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Debatten um Macht am Theater, „#MeToo“ und Rassismus ist die Kulturpolitik gut beraten, sich frühzeitig Gedanken zu machen und diese in einem politischen Prozess zu mandatieren.
Selbstverständlich muss die Kulturpolitik auch nach Auswahl der Intendant*in mit an Bord bleiben: Gerade das Instrument der Zielvereinbarung ist ein gutes Mittel, um sich verbindlich auf Punkte zu einigen, die gemeinsam erreicht werden sollen. Dazu gehört der kulturpolitische Rahmen, wie ich ihn oben beschrieben habe, ebenso wie gesellschaftspolitische Ziele, familienfreundliche Arbeitsbedingungen etwa. Wichtig ist in diesem Punkt die Verbindlichkeit für beide Seiten – die Theaterleitung ebenso wie die Kulturpolitik. Ein steter und regelmäßiger Dialog zwischen Theater und Politik, Begleitung und konstruktive Zusammenarbeit im Hinblick auf diese Ziele sollten dann die Grundlage des Miteinanders sein.
In welchem Verhältnis stehen kulturpolitische Zuwendungsgeber zu den Theatern?
Im besten Fall in einem partnerschaftlich konstruktiven, in dem auch Kritik jederzeit möglich ist. Die Politik trägt und fördert die Theater, sie bestimmt den kulturpolitischen Rahmen und kommuniziert die Erwartungen, die an das Haus und seine Leitung gestellt werden. Die Politik sollte sich mehr für das Haus, die Kunst und seine Menschen interessieren. Leider fehlt es in der Politik teilweise immer noch an Wissen darüber, wie ein Theater funktioniert. Es ist ja auch eine erstaunlich komplexe Institution. Sich interessieren, die Entwicklung strategisch begleiten und für politische Unterstützung sorgen, auch wenn es Gegenwind gibt – das wären ideale Bedingungen. Wünschenswerte Veränderungen müssen politisch begleitet und ermöglicht werden, Familienfreundlichkeit etwa. Entweder wird weniger produziert oder das Ensemble aufgestockt. Oder die kulturelle Versorgung im ländlichen Raum. Hier fehlt es oft an gemeinsamen Aushandlungen zwischen Politik und den Theatern: Wie lässt sich eine solche Ankerfunktion der Theater in der Kommune gestalten? Welche Beteiligungsstrukturen und welche Kooperationen braucht man? Inwiefern kann man solche Erwartungen explizit formulieren und aus dem Bereich des Ungefähren rausholen?
Wenn man von den Häusern eine Entwicklung erwartet, dann müssen sich auch Politik und Publikum mit entwickeln. Und das werden sie nicht auf Knopfdruck, sondern dafür ist ein Entwicklungs- und Transformationsprozess notwendig. Einen Verständigungsprozess zwischen den unterschiedlichen Partnern und Interessen herzustellen wäre eine Aufgabe einer fortschrittlichen Kulturpolitik. Diesen Rahmen zu bilden und damit eine Verlässlichkeit zu bieten ist notwendig. Dann hat man auch das entsprechende Setting, um Erwartungen an die Theater zu stellen.
Wie beurteilst du die generelle Publikumsentwicklung an den deutschen Stadt- und Staatstheatern?
Wir wissen viel zu wenig, um darüber eine belastbare Aussage zu treffen, es gibt nur sehr wenig Forschung und empirische Daten dazu. Bei den Zahlen, die wir in der Theaterstatistik erheben, gibt es keinen Grund, im Moment irgendwie von einer Krise zu sprechen. Die Zahlen sind seit Jahren stabil, mit leichten Abweichungen nach oben und unten. Corona ist selbstverständlich noch kein Thema gewesen. Trotz aller Kassandra-Rufe ist es bisher immer gelungen, dem Schwund des Klassikpublikums Einhalt zu gebieten. Es gibt viele Aktivitäten zur Heranführung neuen Publikums, vor allem über Vermittlungsprogramme an Schulen oder über junges Theater.
Aber die Welt wird immer diverser, auch die Art des Kunstkonsumierens oder -nutzens ändert sich natürlich, weil es immer mehr andere Möglichkeiten gibt, sich zu beschäftigen. Theater ist vielleicht gar keine tragende Säule mehr für viele, sondern irgendeine Art von Freizeitbeschäftigung, die mit dem Hallensport oder dem Computerspielen konkurriert. Das heißt, wir müssen damit leben, dass wir einem verschärften Wettbewerb ausgesetzt sind, das muss aber an sich gar nichts Schlechtes sein.
Die Theater und Orchester haben in den letzten Jahren viele Versuche unternommen, ihr Publikum zu erweitern und man merkt auch in den Häusern an der Stimmung, ob das gelingt. Selbstverständlich kann man nie alle erreichen, auch hier muss die Situation vor Ort beurteilt werden. Am Ende ist auch das eine politische Frage, für die man sich im Haus und in der Stadtgesellschaft interessieren sollte. Wer soll unbedingt erreicht werden? Wer kommt schon und wer nicht? Wo setzen wir Schwerpunkte. Auch hier gilt: Das Theater kann nicht kompensieren, was an fehlenden Voraussetzungen in der Gesellschaft herrscht. Theaterpädagogik kann viel, sie kann aber nicht das heilen, was an Schulen nicht stattfindet.
Wie reagiert das Publikum auf Veränderungen der Theater?
Das hängt ganz vom Ort des Geschehens ab: Es gibt zum einen immer noch das bildungsbürgerliche Publikum, das gerne Theater sieht, wie man es immer sah. Das an Klassiker gewöhnt ist und auch sieben Stunden Vorstellung begeistert verfolgt. Wenn das in einer Stadt ist, in der die Auswahl eher klein ist, kann es zu schwierigen Irritationen kommen, wenn sich der Charakter des Hauses in der Kunst ändert. Das Abonnementpublikum kündigt dem Haus möglicherweise die Treue, die Einnahmen brechen weg, die Theaterleitung könnte in Kürze ein politisches Problem bekommen. Wenn der Wandel wirklich so radikal ist, sollten das aktuelle Publikum und die Politik eingebunden werden und Teil der Transformation werden. Man darf andererseits auch nicht die Neugier des Publikums unterschätzen, aber das geht nicht ohne Begleitung. Und zudem gibt es ja auch die Möglichkeit, dass sich das Publikum im Lauf der Zeit ändert. Es kann aber auch sein, dass das Publikum die Veränderungen unterstützt und wohlwollend mitgeht. Das muss man sehen im Einzelfall.
Eine Herausforderung ganz eigener Art ist die ganze identitäre populistische Bewegung, die insbesondere in den neuen Bundesländern, aber auch teilweise im Westen massiv gegen künstlerische Leitungen und Aufführungen, gegen Flüchtlingsstücke und feministisches Theater kämpft, also gegen die Themen, die beispielhaft für diese Öffnung stehen.
Zugleich merkt man, dass sich dadurch Leute fürs Theater interessieren, die nie in eine Aufführung gehen. Sondern da wird das Theater zum symbolischen Austragungsort einer gesellschaftlichen Debatte, die eigentlich um die Frage der eigenen Identität kreist. Da wird Theater dann auf eine ganze andere Weise plötzlich aktuell.
Wie siehst du die Perspektiven für die Theater?
Theater hat es immer gegeben und wird es auch geben, solange der Mensch existiert. Es ist eine zutiefst menschliche Angelegenheit. In einer Zeit wachsender Differenzen und zunehmender Sprachlosigkeit kann die Kunst, kann Theater Verbindungen schaffen, indem es den Menschen mit sich selbst konfrontiert, Gefühle freisetzt und Verhärtungen aufbricht. Das ist die Macht der Kunst in all ihrer Überflüssigkeit und Nutzlosigkeit (im besten Sinne). Kunst löst damit keine Probleme, aber sie produziert durch Perspektivwechsel immer Alternativen und bildet damit auch einen Kontrapunkt in einer Welt, deren politische Entscheidungen zunehmend vom Schlagwort der Alternativlosigkeit geprägt sind. Öffentliche Theater verstehen sich in diesem Sinne als Räume der Begegnung für alle. Das ist das Fundament, der positive Grund, warum ich an die Zukunft der Stadt- und Staatstheater glaube. Trotzdem werden uns viele schmerzhafte Debatten nicht erspart bleiben und Schäden an der kulturellen Infrastruktur sind in den nächsten Jahren leider nicht auszuschließen. Zudem werden wir in den nächsten Jahren in einem aufgeheizten Klima schwierige Debatten führen, deren eines Ende vom Ziel einer humanistischen Gesellschaft der Freiheit und Gleichheit bestimmt wird und deren anderes Ende von Instrumentalisierungen zum Erreichen ideologischer Ziele geprägt ist. Umso wichtiger, dass die kleine verschworene Community der darstellenden Künste lernt, wer ihre wirklichen Feinde sind und mit wem es klug ist, Allianzen einzugehen.
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Titel
Die Theater brauchen eine starke Kulturpolitik, um sich verändern zu können
verfasst von
Birgit Mandel
Copyright-Jahr
2021
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-32159-8_4