Bevor detaillierter auf die historische Entwicklung von Genrekonzeptualisierungen eingegangen wird, wird ein kurzer Überblick über die Felder der Genretheorie gegeben.
2.1.2 Entwicklung von Genrekonzeptualisierungen
Die Schriften der frühen Filmtheorie aus den 1920er und 1930er Jahren in Deutschland zeichnen sich vor allem durch eine ablehnende Haltung gegenüber Genreproduktionen aus, denen sie als populäre Massenware ohne ‚originären Kern‘ eine Formelhaftigkeit und Stereotypie vorwerfen. Insgesamt haben Genres als Symbol der Massenunterhaltung in der Weimarer Republik keinen guten Stand, da übergreifend der ‚künstlerisch anspruchsvolle‘ Film als Maßstab gilt. Rudolf Arnheims Überlegungen zum „Konfektionsfilm“ zeigen dies eindringlich. Als Konfektionsfilm bezeichnet er seriell gefertigte Filme, die ohne künstlerische Ambitionen für die anspruchslose und flache Unterhaltung eines Massenpublikums hergestellt werden. Der „konfektionierte Massenfilm“ (270) lenkt von der Ungerechtigkeit der Wirklichkeit ab, indem er eine Welt des Guten und Schönen präsentiert, in der die Schlechten bestraft werden, womit er als „harmlose Unterhaltungsware“ die bestehende Gesellschaftsordnung stabilisiert, statt sie zu hinterfragen. In der hohen Nachfrage nach „Konfektionsfilmen“ sieht Arnheim die Gefahr, einen Geschmack der „Durchschnittsmenschen“ zu bedienen und darin „Spießer[n] gefährlichsten Kalibers“ zu gefallen (165–172).
Dies Dumme und Schlechte im Menschen streichelt der Konfektionsfilm; er sorgt dafür, dass die Unzufriedenheit sich nicht in revolutionäre Tat entlade, sondern in Träumen von einer besseren Welt abklinge. Er serviert das Bekämpfenswerte in Zuckerpastillen. (164)
Auch Siegfried Kracauer bezeichnet die seriellen Produktionen seiner Zeit als „Durchschnittsproduktion“ für den gemeinen Massengeschmack, deren ideologischen Einfluss zu brechen er zur Aufgabe des Filmkritikers macht („Aufgabe des Filmkritikers“, 63).
Die Filmproduktion hat sich so stabilisiert wie das Publikum. Ihre Erzeugnisse weisen typische, immer wiederkehrende Motive und Tendenzen auf, und selbst die vom Durchschnitt abweichenden Filme bieten kaum noch eine Überraschung. Eine Verfestigung, die sich sowohl auf die Filmfabel wie auf das technische Verfahren erstreckt. […] Nicht die Typisierung des Films ist verwerflich. […] Verwerflich ist die Gesinnung der Filme. […] (U)nsere gesellschaftliche Wirklichkeit (wird) auf bald idiotisch-harmlose, bald verruchte Weise verflüchtigt, beschönigt, entstellt. („Der heutige Film“, 101)
Diese Überlegungen setzen später Max Horkheimer und Theodor W. Adorno fort und spitzen sie im Rahmen ihrer Diskussion der ‚Kulturindustrie‘ noch einmal systemkritisch zu, wenn sie vom „Stein der Stereotypie“ sprechen, der „(b)ei allem Fortschritt der Darstellungstechnik, der Regeln und Spezialitäten, bei allem zappelnden Betrieb das Brot (bleibt), mit dem Kulturindustrie die Menschen speist“ (175). Sowohl Kracauer als auch die Vertreter der Kritischen Theorie werfen den Genreproduktionen eine Wirklichkeitsferne vor und unterstellen Genres eine generelle Verblendung, worin sie dem Publikum allerdings eine Unmündigkeit bescheinigen. Die dennoch unternommenen, wenn auch wenigen Versuche, Genreproduktionen an kunsttheoretische Debatten anzuknüpfen, wie durch Béla Balázs und Erwin Panofsky mit Analogien zur vorindustriellen Volkskunst oder zu mittelalterlichen Dombauhütten (Schweinitz, 103), bleiben ohne Wirkung. Bis in die 1960er Jahre hinein dominiert nicht nur in Deutschland die Kunstkino-Perspektive die filmtheoretischen Debatten, die darum bemüht sind, die Kunstfähigkeit des Films zu belegen. Die zahlreichen Genreproduktionen bleiben konträr dazu gesetzt und erhalten kaum eine theoretische Beachtung. Wie Jörg Schweinitz in seiner Skizzierung der Diskursentwicklung verdeutlicht, ist die Kunstdebatte aber der Filmindustrie in ihrer Frühphase durchaus sehr zuträglich gewesen: „Die Kunsttheorie des Films besaß im Lichte solcher Bemühungen der Industrie etwas von einer flankierenden Funktion.“ (Ebd. 102) Denn als sich Mitte der 1910er Jahre der abendfüllende Langspielfilm – der sogenannte feature film – als Produktionsstandard durchsetzt, markiert dies den Höhepunkt der filmindustriellen Bestrebungen, bei möglichst effizienter Standardisierung der Produktion auch eine innovative Neuheit zu schaffen. So wird zwar stets der Charakter des originären Kunstwerks betont, aber zugleich werden Elemente des Bekannten und Bewährten mitbeworben. Dies erfolgt dann häufig durch den Bezug auf bestehende Filmgenres, wie Staiger im frühen Hollywoodkino aufzeigt („Mass-Produced Photoplays“).
Erste eingehendere Genrediskussionen entstehen in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren, als sich vermehrt mit einzelnen Genres auseinandergesetzt wird. Wegweisende Schriften veröffentlichen Robert Warshow in den USA und André Bazin sowie Jean-Louis Rieupeyrout in Frankreich. Ihre frühen Genrestudien konzentrieren sich dabei häufig auf den Western und den Gangsterfilm, die während der Hochphase des klassischen Hollywoods überaus populäre Genres darstellen, wie Barry Keith Grant bemerkt: „It is not surprising that Warshow and Bazin focused on westerns and gangster films since these have been perhaps the two most durable of American film genres […].“ (XVIIf.) In seiner strukturellen Auslegung des Gangsterfilms, nach der das gleiche Muster mit jedem neuen Film wiederholt wird, nimmt Warshow die später folgenden strukturalistischen Ansätze vorweg.
In its initial character, the gangster film is simply one example of the movies’ constant tendency to create fixed dramatic patterns that can be repeated indefinitely with reasonable expectation of profit. One gangster film follows another as one musical or one Western follows another. („Westerner“ 12)
Die aus den Kunstdebatten resultierende oppositionelle Paarung von ‚Kunst vs. Genre‘, die den Weg für generische Betrachtungen nicht nur in Deutschland für lange Zeit blockiert, verliert bei Warshow nicht nur an Bedeutung, er überführt das dichotome Verhältnis in ein relationales, in dem künstlerische Formen ebenso konventionelle Iterationsstrukturen hervorbringen: „But this rigidity is not necessarily opposed to the requirements of art. There have been very successful types of art in the past which developed such specific and detailed conventions as almost to make individual examples of the type interchangeable.“ (Ebd. 12) In seinen Überlegungen zum Western geht Bazin noch einen Schritt weiter, indem er die strukturellen Merkmale einer mythologischen Deutung unterzieht und kulturell aufwertet: „Diese formalen Attribute, an denen man den Western gewöhnlich erkennt, sind nur Zeichen und Symbole dessen, was er in Wirklichkeit ist: Mythos.“ („Western“ 257) Diese ersten Genrestudien sind von einer valorisierenden Reflexion über einzelne Genres gekennzeichnet, die inspiriert von Roland Barthes’ Mythentheorie nicht nur künstlerischen Ursprüngen nachspürt, sondern vor allem Genres als eine ästhetische Verkleidung gesellschaftlicher Mythen begreift („Mythen des Alltags“). Mit ihrem Blick auf die tieferen Schichten populärer Genreunterhaltung legen sie den Grundstein für spätere systematischere Studien, die ab den 1970er Jahren vornehmlich in den USA entstehen und sowohl allgemeine Theoriemodelle als auch exemplarische Einzelstudien hervorbringen, unter anderem zum Musical (Altman, „American Film Musical“), zum Western (Buscombe) und zum Melodram (Neale, „Melo Talks“ und Elsaesser, „Tales of Sound“).
Voraussetzung dafür, dass sich das Genrekonzept schließlich in der Filmtheorie durchsetzen kann, ist die Abwendung von autor- und werkbezogenen Betrachtungen. Über den Umweg der Auteur-Theorie, die in den 1960er Jahren maßgeblich durch Andrew Sarris in die USA überführt und weiterentwickelt sowie popularisiert wird, wird in Anlehnung an die Cahiers du Cinéma nach den künstlerischen Handschriften der Regisseure innerhalb des amerikanischen Genreproduktionssystems gefragt. Dies ebnet den Weg hin zu einer offeneren Betrachtung der Genreproduktionen Hollywoods („Auteur Theory“). Die dieser Auseinandersetzung noch innewohnende Widersprüchlichkeit, „einen ‚Auteur‘ selbst dann wie einen klassischen Künstler zu behandeln, wenn er ein Filmgeschehen einrichtet, das aus der Perspektive eines überlieferten Kunstverständnisses eigentlich nicht anders als ‚trivial‘ erscheinen konnte,“ (Schweinitz, 104) wird erst mit der Entstehung der Filmsemiotik sowie dem kritischen Zeitgeist der späten 1960er Jahre aufgelöst. Bisherige Denkrichtungen und Kunstverständnisse werden infrage gestellt, das Interesse sowohl am Film als Sprachsystem als auch an seinen ideologischen bzw. mythologischen Bedeutungsschichten gewinnt an Konjunktur und befeuert die genretheoretischen Diskussionen, die in den 1970er Jahren erste systematische Beiträge vor allem im angloamerikanischen Forschungskontext hervorbringen. Die strukturalistischen und textimmanent operierenden Ansätze erfassen die Komplexität generischer Merkmale und Strukturen mittels fixierter Systeme (siehe u. a. Cawelti, Buscombe, Kaminsky und Schrader). So bilden Filmgenres beispielweise für Cawelti komplexe Textklassen, die über ein vielgliedriges Invarianzmuster das immer gleiche Strukturmuster variieren und als „structural pattern which embodies a universal life pattern or myth in the materials of language“ (387) zu bestimmen sind. Auch diese Diskussionen begreifen die populären Formen des Genrekinos als eine moderne Art der Mythologie, die auf gesellschaftliche Dispositionen antwortet und über genrespezifische Themen, Figuren und Ästhetiken gesellschaftliche Wert- und Normvorstellungen reflektiert.
Neben dieser angloamerikanischen Diskussion verfolgen in den 1970er und 1980er Jahren poststrukturalistische Genretheorien aus Frankreich vor allem pragmatische Definitionsansätze, wie sie unter anderem bei Gérard Genette, Jacques Derrida und Roger Odin zu finden sind. Ähnlich Tzvetan Todorovs Einführung zur fantastischen Literatur entstammen viele dieser Arbeiten der literaturwissenschaftlichen Diskussion, die Genres als intertextuelle Beziehungsgeflechte beschreiben. Todorovs Arbeit zum Fantastischen bildet eine der ersten theoretischen Bestimmungen des Genres, auf die vor allem auch die deutschsprachige Diskussion zum Fantastischen aufbaut (u. a. Friedrich, Giesen). Mit Todorov lassen sich Genres im audiovisuellen Kontext als Relais beschreiben, mit denen Filme in historische Kontexte wie die Filmgeschichte eintreten.
D’une manière plus générale, ne pas reconnaître l’existence des genres équivaut à prétendre que l’œuvre littéraire n’entretient pas de relations avec les œuvres déjà existantes. Les genres sont précisément ces relais par lesquels l’œuvre se met en rapport avec l’univers de la littérature. (12)
Viele der französischen Ansätze verorten Genres innerhalb der Lektüre als einen Akt der Identifizierung: Für Genette besitzen Genres eine ‚architextuelle‘ Qualität, über die der Text in Beziehung zu anderen Texten tritt („Palimpseste“ 9). Doch hierbei ist es nicht der Text selbst, der sein Genre bestimmt, sondern die Aufgabe „des Lesers, des Kritikers, des Publikums“ (ebd. 14), das Genre zuzuordnen. Für diese Personenkreise konzentriert sich in Genres wichtiges transtextuelles Wissen, welches den Erwartungshorizont und die Rezeption von Texten lenkt und bestimmt (ebd.). Auch bei Jean-Marie Schaeffer werden Genres trotz ihrer textuellen Ähnlichkeiten als Klassifikationsgröße der Lektüre konzipiert („Du texte au genre“ 199 f.).
5 Dagegen geht Jacques Derrida von Markierungen aus, über die sich Texte auf vielfältige Weise generisch ausweisen und an kulturellen Genrekonventionen teilnehmen, ohne dass diese Markierungen selbst eine genrehafte Spezifik annehmen („The Law“ 64 f.). Da dieses Verständnis von Genremarkierungen Genres auf der Textebene verortbar macht, ohne von einer Immanenz auszugehen, und sie in Bezug zu kulturellen Konventionen von Genres setzt, wird Derridas Ansatz innerhalb des Theorie- und Methodendesigns der vorliegenden Arbeit zur Beschreibung der textuellen Ebene von Genreproduktionen herangezogen.
Die deutschsprachige Filmwissenschaft entdeckt das Genrekonzept erst Ende der 1970er Jahre. 1979 bringen Bernhard Roloff und Georg Seeßlen mit dem Buch Western-Kino, von Seeßlen und Claudius Weil geschrieben, den ersten Band ihrer Grundlagen des populären Films im Rowohlt-Verlag heraus, in dem sie die bis dato abseits des dominierenden Autorenkinos und innerhalb von Filmclubs geführten Debatten um das Genrekino reflektieren. Bereits zuvor haben sie im Münchner Eigenprogramm Roloff und Seeßlen die „Typologie, Geschichte und Mythologie“ einiger ‚großer‘ Genres wie der Komödie, des Gangsterfilms und des erotischen Films aufgearbeitet. Weitere Rowohlt-Bände zur Reihe, die inzwischen in Neuauflagen und Überarbeitungen im Schüren Verlag erscheinen, widmen sich dem Thriller, dem Melodram, dem Horror-, Science-Fiction-, Detektiv-, Abenteuer- und Polizeifilm. Angelehnt an den mythischen Genrebegriff liefern die mehrbändigen Grundlagen des populären Films erste umfangreiche historische Übersichten, die in der deutschen Film- und Fernsehwissenschaft sowohl den Genrebegriff etablieren als auch den Blick nachhaltig auf die Wechselwirkungen zwischen populären Kinoformen und gesellschaftlichen Wertesystemen richten.
Im Gegensatz zu den strukturalistischen Ansätzen setzt sich auch in den angloamerikanischen Genrediskussionen in den 1980er Jahren allmählich die Einsicht durch, dass Genres nicht durch statische Taxonomien festzusetzen sind, sondern vielmehr Familienähnlichkeiten aufweisen, die Wandlungen und Verschiebungen unterliegen. Das geht mit der zentralen Einsich einher, dass es sich als Trugschluss erweist, „daß
ein Muster wenigstens zu einem gewissen Zeitpunkt das gesamte Genre restlos beherrschen und
eine geschlossene narrative Makrostruktur für das Gesamtgenre bereitstellen würde“ (Schweinitz, 108; Herv.i.O.). Statt also nach festen Mustern eine Art ahistorischer Genreessenz zu suchen, werden Genres vielmehr in ihrer historischen und kulturellen Veränderbarkeit als Phänomene erfasst, die einem steten Wandel unterliegen. Ähnlich Wladimir Propps Strukturmodell, das bereits 1928 für russische Märchen verschiedene Motive als flexibel und variabel wiederkehrend identifiziert und keine übergeordnete, festgeschriebene Makrostruktur aufstellt, lösen sich die Genrekonzepte von einem starren Schematismus und einer essentialistischen Vorstellung und nehmen, wie bei Robert Altman, eine Neuausrichtung genretheoretischer und genrehistorischer Diskussionen vor:
As long as Hollywood genres are conceived as Platonic categories, existing outside the flow of time, it will be impossible to reconcile genre theory, which has always accepted as given the timelessness of a characteristic structure, and a genre history, which has concentrated on chronicling the development, deployment, and disappearance of this same structure. („Semantic/Syntactic“ 29)
Altman schlägt in Abkehr zu den semiotisch-strukturalistischen Konzepten einen semantisch-syntaktischen Zugang vor, der dual operiert, indem er die semantische Textanalyse mit einer syntaktischen Betrachtung verbindet: „By simultaneously accepting semantic and syntactic notions of genre we avail ourselves of a possible way to deal critically with different levels of ‚genericity‘.“ (Ebd. 34) Statt der semantischen Gesamterscheinung isoliert Altman einzelne Elemente als semantische Einheiten, die viele generische Bedeutungsträger – wie beispielsweise typische Figuren, spezifische Settings und Kameraeinstellungen – umfassen können. Diese werden auf der syntaktischen Ebene eines Films strukturell jeweils neu miteinander kombiniert und organisiert. Daraus leitet Altman das jeweils neue generische Gesamtbild eines Films ab. Später fügt Altman seinem Zugang noch eine pragmatische Dimension hinzu, in der er die diskursive Beschaffenheit von Genres einbindet („Film/Genre“ 208). In Anerkennung der unterschiedlichen Nutzungsweisen von Genreterminologien, die mitunter in Konkurrenz zueinander treten können, sind Genres ebenso wenig auf einer pragmatischen Ebene festzuschreiben. Vielmehr sind sie über verschiedene Diskurse, Gebrauchsformen und Lesarten zu beschreiben, was auch den Ausgangspunkt des Theorie- und Methodendesigns bildet. Dieser Variabilität und Vielfalt auf semantischer, syntaktischer und pragmatischer Ebene verdanken nach Altman viele Genres ihre Existenz:
Instead of a word or a category capable of clear and stable definitions (the goal of previous genre theorists), genre has here been presented as a multivalent term multiply and variously valorized by diverse user groups. Successful genres of course carry with them an air of user agreement about the nature both of genres in general and of this genre in particular, thus implying that genres are the unproblematic product of user sharing. In fact, the moments of clear and stable sharing typically adduced as generic models represent special cases within a broader general situation of user competition. While genres may make meaning by regulating and coordinating disparate users, they always do so in an arena where users with divergent interest compete to carry out their own programs. (Ebd. 214 f.)
Wegbereitend für weitere Genrestudien, die in den 1980er und 1990er Jahren insgesamt einen neuen Boom an Genretheorien verzeichnen und unter anderem im
Film Genre Reader I-IV von Grant nachverfolgt werden können, ist Steve Neales Vorschlag eines prozessualen und kontextuellen Genreverständnisses, den er bereits 1980 („Genre“) entwirft und in den folgenden Jahrzehnten weiterentwickelt (siehe „Questions of Genre“ und „Genre and Hollywood“). Genres bilden für Neale zentrale narrative Modi innerhalb des filmischen Systems („Genre“ 20), das er als „systems of orientations, expectations and conventions that circulate between industry, text and subject“ und „a constantly fluctuating series of signifying processes“ (ebd. 19) beschreibt. Für dieses System bilden Genres prozesshafte Größen:
Genres, then, are not systems: they are processes of systematization. It is only as such that they can perform the role allotted them by the cinematic institution. It is only as such that they can function to provide, simultaneously, both regulation and variety. (Ebd. 51)
Die prozesshafte Natur von Genres führt er später auf die Interaktion zwischen „the level of expectations, the level of generic corpus, and the level of the ‚rules‘ or ‚norms‘ that govern both“ („Questions of Genre“ 189) zurück, womit er die Textebene mit der Produktions- und Rezeptionsseite zusammenführt und Altmans multidimensionale Betrachtung vorwegnimmt. Neale und Altman stehen repräsentativ für einen
historical turn innerhalb der Genreforschung, mit dem sich die Prämisse durchgesetzt hat, dass Genres grundlegend einer fortlaufenden Transformation unterliegen.
6 Da diesem historischen Verständnis auch die vorliegende Arbeit folgt, werden die Ansätze von Altman und Neale innerhalb des Theorie- und Methodendesigns für die historische Konzeption von Genres herangezogen.
Parallel zu den prozessualen Genrekonzepten entwickeln sich in den 1990er Jahren vermehrt kognitivistische Ansätze, die von der Psychologie und der allgemeinen Rezeptionstheorie des Films herkommend verstärkt die kognitive, kommunikative und emotionale Steuerung der Filmrezeption durch Genres untersuchen. Innerhalb kognitiver Vorgänge des allgemeinen Filmverstehens werden Genres hinsichtlich ihrer kommunikativen Funktion betrachtet und als Verständigungsinstrumente zwischen Produktion und Rezeption aufgefasst. Daran anschließend werden Genreproduktionen dahingehend befragt, wie sie sich an Zuschauende richten und rezipiert werden (u. a. Casetti; Mikos; Seel/Keppler).
7 Angesichts der aufscheinenden Konsistenz von Genrezusammenhängen auf Seiten der Rezeption entwickelt Schweinitz in Rückgriff auf einen kognitionspsychologischen Prototypenansatz ein ‚filmkulturelles Genrebewusstsein‘, das erst „dem ‚Genre-Code‘ als Faktor innerhalb des filmkulturellen Diskurses lebendige Existenz (verleiht).“ (113) Schweinitz’ Ansatz erfasst die kulturelle Ebene von Genres sowohl über Konventionalisierungen als auch über Prototypen, wie ihn
Psycho für den Horrorfilm und Psycho-Thriller bildet. Das Theoriedesign nutzt dieses Konzept, um in Kombination mit Derridas poststrukturalistischem Ansatz eine Textebene von Genres zu erarbeiten, die über Markierungen Konventionen einbindet. Durch die an Konjunktur gewinnenden Kognitionswissenschaften in den 1990er Jahren rücken des Weiteren emotionale Aspekte des Genreerlebens in den Fokus genretheoretischer Betrachtungen, sowohl in der angloamerikanischen wie etwas später auch in der deutschsprachigen Forschung. Bereits Ende der 1980er Jahre beschäftigt sich Christian Mikunda mit Emotionen im Film, die er aus kognitionstheoretischer Perspektive untersucht. Weitere Arbeiten von Edward Branigan, Peter Wuss, Joseph D. Anderson, Ed S. Tan, Carl Plantinga / Greg M. Smith sowie Hans Jürgen Wulff („Psychologie und Film“), Anne Bartsch et al. etablieren das kognitive Paradigma innerhalb der Filmwissenschaft und legen damit eine filmtheoretische Grundlage, auf die weitere kognitionstheoretische Arbeiten zu Genres aufbauen (siehe Grodal und Carroll,
Emotion). Beispielsweise untersucht Carroll die emotionale Steuerung von Zuschauenden durch Filmgenres, wobei Emotionen nicht mehr als körperliche Effekte neben kognitiven Vorgängen gestellt werden, sondern nunmehr als Teil von Kognitionen verstanden werden. Emotionale Zustände formieren sich erst über das kognitive Erkennen von bestimmten Merkmalen, die den entsprechenden emotionalen Zustand auszeichnen: „In fear, the object must meet the criterion of being harmful or, at least, of being perceived to be harmful.“ (27 ff.). Nach Carroll evozieren Genres eine ganze Bandbreite an Emotionen, wobei bestimmte Genres spezielle emotionale Zustände vorstrukturieren.
That is, whereas all genres tend to evoke anger, joy, hatred, and the like, in addition to these emotions some genres also aim at arousing specific emotions in spectators as a condition of being an instance of the very genre in question. Or, to put it differently, raising various preordained emotions in spectators is the sine qua non of certain film genres. (35)
Phänomenologische Ansätze, deren maßgebliche Theorien zu Beginn der 1990er Jahre erscheinen und richtungsweisende Arbeiten wie Vivianne Sobchacks Phenomenology of Film Experience hervorbringen, führen Genrediskussionen noch weiter und erfassen filmische Effekte insbesondere über körperbezogene Wahrnehmungen, wobei verschiedene körperbezogene Modi adressiert und ein intensives Körpererleben ermöglicht werden. In ihrem psychoanalytischen Theoriemodell der „body genres“ („Körper-Genres“) konzipiert Linda Williams eine übergreifende Genretheorie des Horrors, des Melodrams und des pornografischen Films, die entlang generischer und genderspezifischer Konfigurationen des Körpers spezifische generische Affektökonomien entwickeln („Film Bodies“). Die Spezifik dieser Genres vereint nach Williams eine audiovisuelle Inszenierungsweise, die die materielle Verfasstheit und sinnliche Erscheinung von Körpern in den Vordergrund stellt und über explizite Körperbilder die (Körper-) Wahrnehmung der Zuschauenden affiziert. Dass die Genres auf der Darstellungsebene primär den weiblichen Körper als Figuration des ekstatischen Spektakels von Lust, Angst und Schmerz verobjektivieren, setzt Williams sowohl in Bezug zu Freud’schen Urfantasien der Verführung, Kastration sowie des Ursprungs als auch zu spezifischen Perversionen des Sadismus, Sadomasochismus und Masochismus. Beide Seiten finden in den Genres ihre Entsprechung und manifestieren sich insbesondere innerhalb der lüsternen, gequälten und heulenden Frau (ebd. 173). Mit der wirkungsästhetischen Beschäftigung der body genres nimmt Williams schließlich eine Relektüre der häufig als ‚niederwertig‘ angesehenen Genres vor: „these ‚gross‘ body genres, which may seem so violent and inimical to women, cannot be dismissed as evidence of a monolithic and unchanging misogyny, as either pure sadism for male viewers or as masochism for females.“ (Ebd. 175) Hiermit stellt sie nicht nur die feministische Filmtheorie der 1970er in Bezug auf ihre Kritik an der patriarchalen und misogynen Symbolik in Frage, sondern trägt innerhalb der Genretheorie zu einer erheblichen Komplexitätssteigerung der genre- wie auch gendertheoretischen Diskussionen bei. Indem sie aufzeigt, wie ein genussvolles Filmerleben möglich ist, auch wenn die Zuschauerin mit einer zum Opfer gemachten Frauendarstellung konfrontiert ist, stellt sie einerseits die geschlechtlich uneindeutige Erfahrungsdimension dieser Genres heraus, die zwischen den Wahrnehmungspolen aktiv/passiv, männlich/weiblich und sadistisch/masochistisch vielmehr changieren, als dass sie eindeutige Zuordnungen anbieten. Anderseits wendet sie sich damit auch von bisherigen psychoanalytischen ‚Bestrafungsdeutungen‘ dieser Genres ab. Da Williams’ Theoriemodell der body genres sich sowohl als Einzeltheorie für die Betrachtung der einzelnen Genrekonzepte heranziehen lässt als auch eine allgemeine Theorieperspektive auf phänomenologische Dimensionen von Genres und ihre Affektsteuerung erlaubt, wird dieser Ansatz insbesondere in den Analysen der Sequels herangezogen, um den Schrecken als genrespezifisches Grundmoment zu konturieren, der von den Produktionen immer wieder reaktiviert wird.
Ansätze der feministischen Filmtheorie haben sich bereits in den 1970er Jahren unter dem Einfluss der psychoanalytischen Theorie und Film-Semiotik mit Hollywood, dem Genrekino und der Positionierung von weiblichen Figuren kritisch auseinandergesetzt. Insbesondere das Hollywood-Melodrama bot reiches Material für die feministische Kritik der 1970er Jahre, wie Mulvey rückblickend ausführt: „Anhand dieses Genres, das sich speziell an ein weibliches Publikum richtete, konnten die häusliche Sphäre und Dilemmata, mit denen Frauen als Mütter konfrontiert waren, untersucht werden.“ (Mulvey 22) Mit den aufkommenden Gender Studies in den 1980er Jahren erhalten diese von Judith Butlers
Gender Trouble inspirierten Fragestellungen eine neue Richtung, indem sie Gender als kritische Analysekategorie zu einer zentralen Begrifflichkeit erheben und vermehrt Geschlechterverhältnisse und Darstellungsweisen von Weiblichkeit als auch Männlichkeit in Genres untersuchen. Das steigende Interesse der Genretheorie an Gender-Repräsentationen als genrespezifische Konfigurationen spiegelt sich beispielsweise in der Auseinandersetzung mit dem Horrorfilm wider, an dem unter anderem Barbara Creed in Rückgriff auf Kristevas Abjekt-Theorie ihr Konzept des „Monströs-Femininen“ (Monstrous-Feminine) entwickelt. Aber vor allem mit Linda Williams‘
body genres und Carol J. Clovers Untersuchung des
Final Girl wurden für die Genre- als auch Gendertheorie wegweisende Arbeiten vorgelegt, die beide Konzepte in produktiver Weise zusammenführen.
8 Am Beispiel der Slasher-, Rape-Revenge- und Occult-Filme konzipiert Clover eine Gendertheorie des modernen Horrorfilms, in dem das
Final Girl nicht nur als einzige die Angriffe des Serienkillers überlebt, sondern die ihr anfänglich zugeschriebene Opferrolle auch noch übersteigt und mit brutaler Heftigkeit zurückschlägt. Sie besiegt ihre Angreifer eigenhändig, während sich die männlichen Figuren als untaugliche Helfer herausstellen. Als eine der wenigen standardisierten weiblichen Heldenfiguren besteht ihre generische Spezifik in der Personifizierung des sowohl zu erleidenden Terrors als auch der attackierenden Gegenwehr, die sich in eine transgressive Gender-Figuration übersetzen und eindeutige Geschlechterzuordnungen negieren:
For if ‚masculine‘ describes the Final Girl some of the time, and in some of her more theatrical moments, it does not do justice to the sense of her character as a whole. She alternates between registers from the outset; before her final struggle she endures the deepest throes of ‚feminity‘; and even during the final struggle she is now weak and strong, now flees the killer and now charges him, now stabs and is stabbed, now cries out in fear and now shouts in anger. She is a physical female and a characterological androgyne: like her name, not masculine but either/or, both, ambiguous. („Men, Women“ 63)
Neben Williams wird auch Clovers Theorie für die Analyse der Sequels und von
Bates Motel herangezogen, weil sie einerseits von einer breiten Intertextualität ausgeht, die Genres als stete Variationen und schematisch-repetitive Formen ansieht, und anderseits in ihrer Teilstudie zum Slasherfilm
Psycho nicht nur als „ancestor“ (ebd. 23) den Analysen prominent voranstellt, sondern ausgehend von
Psycho’s populär gewordenen Genremustern mehrere analytische Bezugspunkte entwickelt. Neben dem
Final Girl und den meist sexuell gestörten, infantilen Mördern (oder Vergewaltigern) umfassen diese eine phallische Waffensymbolik, Opfertypen und Schockmomente (ebd. 21–64), an denen Clover das transgressive Spiel mit heteronormativen Gender-Schemata und die genderspezifische Cross-Identifikation des vornehmlich männlichen Publikums mit dem
Final Girl beschreibt. Diese sind analytisch auf die Sequels und
Bates Motel anwendbar, wobei in den Sequels die Elemente der Waffen, Opfer und Schockmomente einbezogen werden, während
Bates Motel hinsichtlich der von Clover in Rückbindung an Butlers Gender-Begriff konzipierten Gendersemantik des Horrors untersucht wird. Denn insbesondere die Slasher- und Rape-Revenge-Filme lösen nach Clover biologisch determinierte Geschlechtervorstellungen und heterosexuelle Gendernormen in einer queeren Lektüre des „female victim-hero complex“ (ebd. 19) auf:
In both cases, the gender of the ‚victim‘ part of the story (the rape sequence in the rape-revenge film, the flight-and-pursuit sequence in the slasher) overrides the gender of the ‚hero‘ part of the story. […] I proposed that the willingness of the slasher film to re-present the traditionally male-hero as an anatomical female suggests that at least one traditionally heroic act, triumphant self-rescue, is no longer strictly gendered masculine. The rape-revenge film is a similar case, only more so; it is not just triumphant self-rescue in the final moments of the film that the woman achieves, but calculated, lengthy, and violent revenge of a sort that would do Rambo proud. (Paradoxically, it is the experience of being brutally raped that makes a ‚man‘ of a woman.) What I am suggesting, once again, is that rape-revenge-films too operate on the basis of one-sex body, the maleness or femaleness of which is performatively determined by the social gendering of the acts it undergoes or undertakes. (Ebd. 158 f.)
Clovers und Williams’ Konzepte bleiben lange Ausnahmen innerhalb genretheoretischer und genderbezogener Diskurse, wie Christine Gledhill in der Einführung zu
Gender Meets Genre in Postwar Cinemas 2012 festhält:
Genre and gender representation, two key areas of Film Studies, have generated challenging theories and debate. However, bar some notable exceptions, these concepts rarely intersect. Studies of gender representation and sexed spectatorship largely subsume genre into narrative and visual organization. Studies of genre too often assume gender as a relatively unproblematic component of specific generic worlds. (1)
Auch im deutschsprachigen Diskurs bilden ausführlichere Betrachtungen des interdependenten Verhältnisses von Genre und Gender, wie es Andrea B. Braidt in ihrem Konzept des „Film-Genus“ schließlich entwirft, Ergebnisse jüngerer Diskussionen (u. a. Liebrand; Liebrand/Steiner). Dabei weisen die Konzepte neben der etymologischen Gemeinsamkeit – beide stammen vom lateinischen ‚genus‘ ab – auch eine forschungsgeschichtliche Ähnlichkeit auf (I. Schneider 16). Analog zur Genretheorie wird innerhalb der Betrachtung von Geschlechtlichkeiten sukzessive von der Idee einer inneren Wesenseigenschaft Abstand genommen, um im Anschluss an Judith Butlers Thesen von einer grundsätzlichen kulturellen Konstruktion von Geschlecht und Geschlechtlichkeit auszugehen. Männlichkeit und Weiblichkeit bilden performative Ergebnisse sozialer Handlungen und medialer Inszenierungen, die biologisch nicht als determiniert zu setzen sind, sondern anti-essentialistisch zu konzipieren sind. Aus diesen Similaritäten fügen sich Genreformen und Genderkonfigurationen zu einem sich gegenseitig befruchtenden Verhältnispaar zusammen, in dem sich Genres immer auch als über Gender-Konfigurationen formierbar und veränderbar begreifen lassen und Gender-Formationen ebenso Genre-Konstellationen beschrieben werden (Blaseio 44), wie dies in der Analyse von Bates Motel herausgearbeitet wird.
In den letzten Jahren sind zudem intermediale Ansätze und Diskussionen zur Hybridität hervorzuheben, die wesentliche Neuerungen in die Genretheoriedebatten eingebracht und den Blick für intermediale Perspektiven weiter geöffnet haben, wie unter anderem Jason Mittells intermedialer Cluster-Ansatz („A Cultural Approach“ und „Genre and Television“), der Genres innerhalb vielfältiger Wechselverhältnisse verortet:
We need to look beyond the text as the locus for genre and instead locate genres within the complex interrelations among texts, industries, audiences, and historical contexts. The boundaries between texts and the cultural practices that constitute them (primarily production and reception) are too shifting and fluid to be reified. Texts exist only through their production and reception, so we cannot make the boundary between texts and their material cultural contexts absolute. Genres transect these boundaries, with production, distribution, promotion, and reception practices all working to categorize media texts into genres. (Mittell, „Cultural Approach“ 7)
Intertextualität gehört zum Grundgerüst genretheoretischer Konzeptualisierungen. Als eine Art gemeinsamer Nenner sieht Scheinpflug die Funktion vieler Genrediskurse darin begründet, dass sie zur Bezeichnung und Perspektivierung von intertextuellen Strukturen genutzt werden (Scheinpflug, „Formelkino“ 65). Da sich Genreformationen nicht nur in einem Medium wiederfinden, sondern sich vielmehr medienübergreifend entwickeln, ist der intertextuellen Struktur eine Intermedialität hinzuzufügen. Aus der Genrepraxis bieten sich zahlreiche Beispiele für eine solche produktive, intermediale Genrebetrachtung an. Im Bereich des Western sind es diverse kulturelle Praktiken, die dessen mediale Ikonografie prägen: Literarische Werke über Abenteuergeschichten in der Zeit des Wilden Westens, Groschenhefte (dime-novels) über Buffalo Bill, populäre Wild West Shows in den USA und Völkerschauen in Europa entwerfen und etablieren bereits eine Medialität des Western, die vom Medium Kino schließlich übernommen sowie weiterentwickelt und inzwischen auch erfolgreich in Videospielen fortgeführt wird (Kirsten, „Western remediated“), wo verschiedene Adaptionen filmischer Genremuster zu beobachten sind (u. a. Mosel und Klein). Auch der Film noir lässt sich auf Genretraditionen in der Literatur zurückführen, wie beispielsweise die hardboiled novels, und in Fernsehserien, Comic-Reihen oder Videospielen in Form noir-typischer Stile wiederfinden. Ähnliches gilt für das Kriminalgenre, in dem Detektive Kriminalfälle in allen Medien ermitteln und mit Sherlock Holmes ein überaus prominentes Beispiel für eine medienübergreifende Genrefigur auszumachen ist, aber auch für den Horrorfilm, dessen Monster und haunted houses Überbleibsel der gothic novel-Erzählungen bilden. Intermediale Sichtweisen ermöglichen es, generische Beziehungen als Mediengeschichten zu erarbeiten, was nach Hickethier nicht nur die bestehende Differenz zwischen Kinofilm und Fernsehfilm überwindet, sondern auch Kontinuitäten zwischen den Medien verdeutlicht („Genretheorie“ 89).
Neben diesen intermedialen Perspektiven (u. a. Bartosch; Bleicher, „Genre und Fernsehen“; Rauscher und Vogt) entwerfen Genreuntersuchungen vermehrt Genres als hybride Phänomene. Im Zuge globaler Austauschbewegungen und medialer Konvergenzphänomene, die sich nicht erst seit der Digitalisierung entwickeln, stellen für Ritzer und Schulze Genres als „sites of conflicting discourses and representations“ (18) besondere Aushandlungsfelder für eine hybride und transnationale Popkultur dar.
9 Durch die Zusammenführung genretheoretischer Konzepte mit Ansätzen der
Post Colonial Studies lassen hierbei die allgegenwärtige ‚Internationalität‘, ‚Transnationalität‘ oder ‚Hybridität‘ von Genrereferenzen in einem neuen Licht erscheinen, das der bisherigen hegemonialen Perspektive auf Hollywood entgegenarbeitet. Denn Mischungen aus lokalen und globalen Genreformen finden sich sowohl im sogenannten ‚Minor Cinema‘, wo sie aber keineswegs nur eine Reaktion auf Hollywoods Marktdominanz darstellen, als auch in der US-amerikanischen Filmindustrie, in der durch das europäische Filmexil und nicht zuletzt als Verkaufsstrategie zum Zwecke der Markterweiterung ebenso externe Genreeinflüsse zu beobachten sind (Kirsten, „Film noir“). Doch nicht nur die Intermedialität und Hybridität generischer Formen bilden aktuelle Herausforderungen der Genretheorie.
Vor dem Hintergrund aktueller medialer Phänomene wie dem Web 2.0, der Medienkonvergenz, dem transmedia storytelling und gesamtgesellschaftlicher Vorgänge wie der Globalisierung gewinnt auch das filmwissenschaftlich geprägte Genrekonzept eine intermediale und interdisziplinäre Dimension. Angesichts der vielen multimodalen und medienübergreifenden Entwicklungen, die auch in der digitalen und vernetzten Medienkultur der Gegenwart durch audiovisuelle Bestandteile gekennzeichnet und von einem filmkulturellen Genrebewusstsein beeinflusst sind, sollte das filmwissenschaftliche Genrekonzept auch in Zukunft angewendet, diskutiert und erweitert werden. (Kuhn et al. 32; Herv.i.O.)
Mit der zunehmenden Verbreitung von mobilen Endgeräten, Streaming-Diensten, Small Screens und der Omnipräsenz medialer Inhalte sind Genres nicht nur als transkulturelles und hybrides Aushandlungsfeld relevant. Sie gewinnen ebenso für die mediale Zirkulation und multimediale Verwebung von Inhalten und Formen an Brisanz und stellen bisherige Genrekonzepte vor neue Herausforderungen. Gerade im Zwischenbereich von Herstellung und Lektüre finden sich distributionsseitig zentrale Elemente, die metagenerische Funktionen erfüllen und auffällige Genremarkierungen enthalten. Diese Bedeutung von Werbematerialien und Vermarktungspraktiken findet in der Genretheorie meist nur randseitig Erwähnung. Die meisten Genretheorien richten sich vor allem an den Produktionen als zentralem Gegenstandsbereich aus, auch wenn sie das spezifische Produktionsumfeld als Kontext einbeziehen. Etwa werden produktionsseitige Bezeichnungspraktiken für historische Genreuntersuchungen analysiert (Staiger, „Hybrid or Inbred“; Altman „Film/Genre“ 49–68) oder rezeptionsseitige Diskurse abseits der Produktionen betrachtet wie bei Neale, der sich den Filmkritiken der 1930er Jahren zuwendet, um die semantische Verschiebung des Genrekonzepts des Melodrams zu beleuchten („Melo Talks“). Doch der Fokus der meisten genretheoretischen Studien bleibt weiterhin auf die Produktionen und deren textuelle Merkmale ausgerichtet, auch wenn Genremerkmale hierbei nicht mehr als textimmanent verstanden werden. Dass aber die Werbematerialien und Vermarktungsstrategien wesentlich zur Konstituierung von Genrezusammenhängen beitragen, zeigen Hediger und Vonderau in ihrer Betrachtung von Genrebegriffen und -signalen in Werbematerialien bereits in Ansätzen auf. An anderer Stelle betont auch Neale die Bedeutung von Werbematerialien und Filmkritik für die Herausbildung von „generic images“ bei Filmen („Questions of Genre“ 182). Innerhalb genretheoretischer Betrachtungen stellen diese Ansätze allerdings noch Ausnahmen dar. Für die vorliegende Studie, insbesondere für Psycho und Bates Motel, bilden diese Materialien und Praktiken allerdings ebenso wichtige Genrediskurse wie die Diskurse der Filmkritik und Wissenschaft aus. Aus diesem Grund werden sie gleichwertig zu den iterativen Genreebenen analysiert.
Die Theoriegeschichte zu Genrekonzeptualisierungen zeigt, wie sich Genres auf unterschiedlicheren Ebenen (Einzeltheorie, allgemeine Genretheorie, Einzelanalyse) mit verschiedenen Theoriebegriffen beschreiben lassen. Für die genrehistorische Untersuchung von Psycho, den Sequels und Bates Motel kann damit kein einheitliches Analysemodell entwickelt werden, das die Komplexität der historischen und kulturellen Kontexte, Diskurse und Ebenen adäquat erfasst und im Vorhinein abstrahiert. Da die historischen Analysen von Psycho, den Sequels und Bates Motel auf den Ebenen der Genreproduktion und des Genrekonzepts operieren, sind sie sowohl innerhalb des ersten Feldes der Einzeltheorie zu verorten als auch Einzelanalysen zuzuordnen. Während Psycho als historisches Fallbeispiel in seinen Genrediskursen untersucht wird, werden die Sequels in Bezug zum Genrekonzept des Horror- und Slasherfilms als Genregruppierung analysiert, wohingegen Bates Motel in seinem distributionsseitigen Genrediskurs sowie in Bezug zu Psycho und den Sequels als genrespezifische Serienproduktion beleuchtet wird. Ausgerichtet an dieser materialnahen Genreuntersuchung nimmt zwar auch die vorliegende Studie eine Metaperspektive auf allgemeine Fragen der Genretheorie ein, indem sie ausgehend von den generischen Markierungen, Iterationen und Semantiken die dynamischen Genremuster als Genresignaturen konzipiert. Sie entwirft daraus jedoch kein geschlossenes Theoriemodell. Vielmehr demonstrieren die folgenden Ausführungen die produktive Kombinationsfähigkeit theoretischer Ansätze und methodischer Zugänge, die trotz unterschiedlicher fachhistorischer Kontexte in einem analytisch ausgerichteten Theorie- und Methodendesign zusammengeführt werden können: Nicht nur werden ‚etablierte‘ historische Ansätze der Genretheorie (Altman, Neale, Schweinitz) mit ‚neueren‘ phänomenologischen Theorien zu Gender und Genre (Clover, Williams) zusammengebracht, sondern auch mit ‚älteren‘ poststrukturalistischen (mitunter abseits dezidierter Genretheorien) Zugängen (Derrida, Deleuze und Foucault) verknüpft und als überaus kompatibel zueinander aufgezeigt. Welche Ansätze, Theorien und Zugänge hierbei für welche Untersuchungsebenen und welches Fallbeispiel herangezogen werden, wird im Folgenden deutlich, wenn entlang der zentralen Prämissen der Diskursivität und Historizität die Diskurse, Dynamiken und Ebenen beleuchtet werden, die Genres allgemein und die spezifischen Genreausprägungen des Untersuchungskorpus besonders kennzeichnen.