Nachdem die Limitationen bei der empirischen Untersuchung von Achtsamkeit abgehandelt wurden, geht es nun um theoretische Ideen und empirische Evidenz, die unerwünschte Effekte von Achtsamkeit adressieren. Diese konzentrieren sich in der Literatur üblicherweise auf negative Erfahrungen während des Praktizierens, wie Unruhe, Angst, Unbehagen oder kognitive Erschöpfung (Creswell
2017). Insbesondere bei klinischen Patienten mit Angststörungen stellt sich damit die Frage, ob eine Achtsamkeits-basierte Therapie zur Behandlung der psychischen Krankheit eingesetzt werden sollte (Strauss et al.
2014).
Jenseits solcher negativen Erfahrungen beim Praktizieren selbst findet man lediglich eine Handvoll Artikel, die den makellosen Ruf von Achtsamkeit in Frage stellen. Eine erste Publikation dazu konnte in drei Experimenten zeigen, dass Versuchspersonen nach einer 15-minütigen Achtsamkeitsübung schlechter darin waren, gelernte Wörter korrekt zu identifizieren (Wilson et al.
2015). Die Autoren erklären den Befund mit der urteilsfreien und akzeptierenden Haltung bei Achtsamkeit. Hierdurch falle es schwerer, korrekt zwischen internalen und externalen Informationsquellen zu unterscheiden. Eine solche (Neben‑) Wirkung dürfte die Anwendung von Achtsamkeitsübungen beispielsweise im Schulalltag eher unattraktiv machen.
Dass wenige solcher Publikationen zu finden sind, könnte natürlich daran liegen, dass Achtsamkeit tatsächlich kaum unerwünschte Effekte hat. Eine andere Möglichkeit ist, dass unerwünschte Effekte von Achtsamkeitsforscher/innen theoretisch von vorneherein ausgeschlossen und damit erst gar nicht untersucht wurden (siehe motivationale Anreize). Eine solche Perspektive impliziert ausnahmslos Win-Win-Situationen. Das heißt, alles was z. B. für den Arbeitgeber gut ist, ist zwangsläufig für den Angestellten gut. Oder was für das Individuum gut ist, ist zwangsläufig für die Gesellschaft als Ganzes gut. Entgegen dieser vielleicht wünschenswerten Vorstellung lassen sich aus den angenommenen Wirkmechanismen von Achtsamkeit in verschiedenen Bereichen unerwünschte Auswirkungen ableiten.
3.1 Motivation im Arbeitskontext
Wie eingangs erwähnt, findet Achtsamkeit auch im Arbeits- und Organisationskontext starken Anklang: Immerhin zeigen Studien mit Angestellten, dass Achtsamkeitsinterventionen z. B. die Arbeitszufriedenheit erhöhen und Erschöpfungserscheinungen verringern (Hülsheger et al.
2013), die Schlafqualität verbessern (Hülsheger et al.
2015) und Vergeltungsimpulse gegenüber anderen Kolleg/innen abschwächen können (Long und Christian
2015). Das hat mutmaßlich mit der urteilsfreien und akzeptierenden Haltung zu tun, die durch Achtsamkeit kultiviert wird. Eine solche Haltung steht allerdings im Kontrast zur Leistungsmotivation, die eben dadurch entsteht, dass ein Zustand erreicht werden soll, der besser ist als der jetzige.
Eine Haltung völliger Akzeptanz dessen, was ist, impliziert aber auch, dass es keinen Grund gibt, etwas an der aktuellen Situation zu ändern. Diese Überlegungen führten Hafenbrack und Vohs (
2018) zu der Hypothese, dass Achtsamkeitsübungen die Leistungsmotivation reduziert. Über sechs Studien hinweg fanden sie Evidenz für diese Idee: Die Motivation, an einer vorgegebenen Aufgabe zu arbeiten, war niedriger, wenn zuvor eine etwa 15-minütige Achtsamkeitsübung absolviert wurde. Versuchspersonen in den Kontrollgruppen sollten entweder ihre Gedanken frei schweifen lassen, Nachrichten lesen oder über vergangene Aktivitäten schreiben. Darüber hinaus fanden die Autoren weder einen positiven noch einen negativen Effekt auf die tatsächlich erbrachte Leistung. Hier ist unter anderem zu kritisieren, dass der Großteil der Studien online erhoben worden ist und damit nicht kontrolliert werden kann, was die Versuchspersonen während der Übung tatsächlich taten. Nichtsdestoweniger legen diese Ergebnisse nahe, dass bei Achtsamkeitsangeboten am Arbeitsplatz eine Reduktion der Leistungsmotivation bedacht werden sollte. Laut Hafenbrack und Vohs (
2018) ist es ratsam, zu überlegen, zu welchem Zeitpunkt im Tageslauf die Achtsamkeitsübungen angeboten werden. In jedem Fall bekräftigt ihre Arbeit, dass Achtsamkeit und ihre Auswirkungen differenzierter betrachtet werden müssen (siehe auch Rupprecht et al.
2019).
3.2 Prosoziale und moralische Reaktionen
Neben dem Gesundheitsbereich wird Achtsamkeit insbesondere im zwischenmenschlichen Kontext weithin als nützlich verstanden. Erst kürzlich erschien eine Meta-Analyse, die über 13 Studien hinweg einen positiven Effekt von Achtsamkeitsinterventionen auf prosoziale Reaktionen zeigt (Donald et al.
2019). Die geringe Zahl an eingeflossenen Studien zeigt allerdings, dass dieser Forschungsbereich noch in den Kinderschuhen steckt (Creswell
2017). Die Autoren der Meta-Analyse räumen zudem ein, dass es Hinweise auf einen
publication bias gibt, dass wegen methodischer Argumente auf p‑hacking Analysen verzichtet wurde und dass die Achtsamkeitsinterventionen sehr unterschiedlich waren, was insgesamt die Aussagekraft einschränkt. Eine weitere Meta-Analyse über verschiedene Meditationspraktiken hinweg fand hingegen nur wenig Belege für einen prosozialen Effekt (Kreplin et al.
2018).
Anstatt darüber zu diskutieren,
ob es nun einen prosozialen Effekt von Achtsamkeit gibt oder nicht, sollte zunächst die theoretische Ebene im Fokus stehen:
Warum sollte erhöhtes prosoziales Verhalten nach einer Achtsamkeitsübung überhaupt auftreten? Donald et al. (2019) führen mehrere mögliche Erklärungen an: Davon bezieht sich eine auf generell erhöhte Aufmerksamkeit und eine andere auf erhöhtes Mitgefühl. Beide Erklärungen führen je nach Situation zu verschiedenen Vorhersagen. Wenn Achtsamkeitsübungen generell die Aufmerksamkeit erhöhen, sollte erhöhtes prosoziales Verhalten unter Achtsamkeit nur dann zu beobachten sein, wenn dafür Aufmerksamkeit benötigt wird (z. B. in einer vollen Fußgängerzone oder unklarem Hilfebedürfnis). In Situationen, in denen keine erhöhte Aufmerksamkeit vonnöten ist, wäre gemäß dieser Erklärung kein Effekt zu erwarten. Wenn Achtsamkeit das Mitgefühl steigert, sollte einem Opfer z. B. von Gewalt verstärkt geholfen, aber gemäß neueren Befunden der Täter auch stärker bestraft werden (Pfattheicher et al.
2019). Die theoretisch weiterführende Frage ist hier also nicht, ob Achtsamkeit prosoziales Verhalten fördert, sondern was die Randbedingungen dafür sind. Solange die Erklärungen und theoretischen Annahmen für eine Vorhersage unklar sind, bleiben die Studien wenig Erkenntnis-bringend.
Löst man sich von der Idee, dass Achtsamkeit die Lösung sämtlicher Probleme ist, so entstehen interessante und gesellschaftlich relevante Fragestellungen. So untersuchen Schindler et al. (
2019) die Auswirkungen von Achtsamkeit auf moralische Reaktionen. Wir stützen uns dabei auf die empirisch relativ solide gestützte Annahme, dass Achtsamkeitsübungen die Fähigkeit verbessern, Emotionen zu regulieren, wodurch der handlungsleitende Einfluss von Emotionen geschwächt wird (vgl. Friese und Hofmann
2016). Im Kern ist das auf die urteilsfreie und akzeptierende Haltung zurückzuführen, die bei Achtsamkeitsübungen kultiviert wird. Wenn Achtsamkeit nun den Einfluss von Emotionen auf das Handeln schwächt, dann hat das im Falle von Emotionen wie Wut oder Rachegelüsten u. U. positive prosoziale Auswirkungen. Auf der anderen Seite führt dieser Mechanismus dazu, dass moralische Reaktionen geschwächt werden können, nämlich dann, wenn es um moralische Emotionen wie Schuld geht. Wenn andere durch unser Tun einen Schaden erleiden, entstehen Schuldgefühle, die die Motivation erzeugen, den Schaden wieder zu reparieren (z. B. Graton und Ric
2017). Ohne Schuldgefühle fehlt die Motivation zur Reparatur. Die Schlussfolgerung ist demnach: Achtsamkeitsübungen schwächen Schuld-basierte moralische Reaktionen.
In zwei Studien fanden wir empirische Evidenz für diese Idee (Schindler et al.
2019). In einer Studie ging es z. B. um Fleischkonsum. Hier machten die Versuchspersonen zunächst eine 10-minütige Achtsamkeitsübung oder ließen, in der Kontrollgruppe, ihre Gedanken frei schweifen. Um Schuldgefühle zu erzeugen, wurde den Versuchspersonen anschließend ein Video gezeigt, das die negativen Konsequenzen von Fleischkonsum für Tier und Umwelt dokumentiert. Danach wurde die Absicht erfasst, den Fleischkonsum in Zukunft zu reduzieren. Gemäß unserer Erwartung waren die Versuchspersonen in der Achtsamkeitsbedingung im Durchschnitt weniger bereit, ihren Fleischkonsum zu reduzieren, als die Versuchspersonen in der Kontrollgruppe. Neben diesen beiden Studien zeigten drei weitere Studien keine signifikanten Effekte, – wohlgemerkt, auch keinen positiven Effekt, wie es die Ergebnisse von Donald et al. (2019) nahelegen würden. Eine Meta-Analyse über alle fünf Studien hinweg stützt wiederum die Idee, dass Achtsamkeit Schuld-basierte moralische Reaktionen schwächt. Natürlich unterliegt auch die Interpretation dieser Ergebnisse gewissen Limitationen: Beispielsweise wurde kein tatsächliches Verhalten erfasst, es wurden nur kurze Achtsamkeitsübungen verwendet, und die Versuchspersonen hatten wenig Erfahrung mit solchen Übungen. Es ist Aufgabe zukünftiger Forschung, diese Punkte zu adressieren und die Validität dieser Idee weiter zu überprüfen.
Unter der empirisch gestützten Annahme, dass Achtsamkeit die Emotionsregulation fördert, kann man Achtsamkeit generell als Instrument für eine effiziente Zielerreichung sehen; vor allem, weil die Praxis – anders als im Buddhismus – weitgehend säkularisiert und von ethischen Werten losgelöst ist. Man kann hier auch von
nackter Achtsamkeit sprechen (Schindler et al.
2019). Dass eine wertfreie Achtsamkeitspraxis automatisch die Ziele und Werte einer Person einheitlich beeinflusst, ist theoretisch wenig plausibel und empirisch eine offene Frage. Bei Achtsamkeitsübungen in der Arbeitswelt oder im Militär geht es in erster Linie um Entspannung, Stressabbau und erhöhte Konzentration und weniger um das Kultivieren von Nächstenliebe und einem harmonischen Miteinander.
Anzunehmen, dass Achtsamkeit ein Selbstläufer zu einer besseren und friedlicheren Welt sei, erscheint aus dieser Perspektive naiv. So zeigte eine gerade publizierte Studie, dass eine Achtsamkeitsintervention zwar zu mehr Zufriedenheit führt, aber nicht zu mehr umweltfreundlichem Konsum (Geiger et al.
2019). Das ist wenig überraschend, erscheint es theoretisch doch wesentlich plausibler, dass Achtsamkeit nur dann für die Umwelt nützlich ist, wenn Umweltschutz für die Person erstrebenswert ist und umweltschädliche Impulse besser reguliert werden können (z. B. Frustkonsum). Wenn Menschen aber gerne in den Urlaub fliegen, Rindfleisch essen oder einen neuen SUV kaufen möchten, dann würde die Idee von Schindler et al. (
2019) nahelegen, dass man ein damit einhergehendes schlechtes Gewissen mit Achtsamkeitsübungen gut in den Griff bekommen kann. Das gilt ebenso bei einem Topmanager, der eine Massenentlassung von Angestellten umsetzen muss.