Die theoretische Perspektive des Betriebsansatzes verweist auf den analytischen Mehrwert, technisch-organisatorische Veränderungen über den analytischen Rückgriff auf betriebliche Strategien zu entschlüsseln. Diesen Ansatz aufgreifend, soll im Folgenden der Zusammenhang zwischen der Anwendung digitaler Technologien und der Entwicklung von Autonomieräumen von Beschäftigten analysiert werden, und zwar in Bezug auf betriebliche Nutzungsinteressen des digitalen Technikeinsatzes und die damit verbundenen betrieblichen Strategien. Die folgend dargestellte Typologie betrieblicher Strategien des digitalen Technikeinsatzes bietet einen Interpretationsrahmen, auf dessen Grundlage die Wirkungen des Technikeinsatzes in spezifischen Digitalisierungsfeldern analysiert werden können. Leitend für die Interpretation ist dann nicht die Erscheinungsform digitaler Technik, sondern die Identifizierung der dahinterstehenden betrieblichen Nutzungsinteressen, sodass der Kurzschluss, bestimmte technische Systeme mit bestimmten Rationalisierungsprinzipien gleichzusetzen, vermieden wird. In einem zweiten Analyseschritt fokussiert der Beitrag daran anschließend zwei Fälle des Einsatzes von Echtzeit-Transparenz als einer Anwendungsform, die als besonders paradigmatisch für Kontrollszenarien gilt. In den beiden untersuchten Fällen wird deutlich, wie anders sich Funktion und Wirkung eines betrieblichen Technikeinsatzes darstellen können, wenn nicht Technologieeffekte als solche, sondern die dahinterstehenden Strategien in den Blick genommen werden.
4.1 Empirische Basis und Methoden
Die folgende Darstellung basiert auf Ergebnissen eines im Mai 2020 abgeschlossenen Forschungsprojekts, in dem Kolleg:innen und ich Digitalisierungsvorhaben von Industrieunternehmen und ihre Auswirkungen auf den Arbeitsprozess erforscht haben. Insgesamt umfasst die Empirie des Projekts 76 Interviews mit betrieblichen Expert:innen, Beschäftigten und Führungskräften aus fünf Unternehmen. Die folgende Typologie wurde entlang des Materials aus drei Fallunternehmen entwickelt und beruht vor allem auf der Auswertung der insgesamt 27 Interviews mit betrieblichen Expert:innen aus der Geschäftsführung respektive Werkleitung, dem Personalmanagement, den Stabsstellen Technologie und Innovation, der Produktionsleitung, Abteilungs- und Bereichsleitungen sowie dem Betriebsrat. Freilich haben wir zudem auch auf umfassenderes Kontextwissen aus allen Erhebungs- und Auswertungsschritten zurückgegriffen.
Die Interviews zielten auf „Prozess- und Deutungswissen“ der Expert:innen als betrieblich einflussreichen Akteuren und Funktionsträgern (vgl. Bogner und Menz
2005). Die Fragen waren fokussiert auf die Entwicklung des Betriebs, auf die mit Digitalisierung verbundenen Erwartungen, Interpretationen und Zielsetzungen sowie auf Praktiken der Leistungssteuerung. In zwei der Unternehmen (Betrieb A und B) lag ein Fokus der betrieblichen Digitalisierungsprozesse auf der Implementation bzw. Erweiterung von Systemen der Echtzeittransparenz. Sie bieten die Basis für die anschließende Analyse des Anwendungsfalls. Neben den Expert:inneninterviews basiert Letztere auch auf der Auswertung von insgesamt 22 Interviews mit Beschäftigten, die dort in der Produktion arbeiten: insgesamt sieben Facharbeiter:innen, 13 Angelernte und zwei Techniker:innen aus Leiterplattenbestückung, Gehäusefertigung, System- und Endmontage, Galvanik und Logistik.
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Bei den Betrieben handelt es sich um ein mittelgroßes Fertigungswerk eines nicht-börsennotierten Unternehmens aus dem Bereich der Elektrotechnik – Betrieb A mit ca. 1700 Beschäftigten –, ein kleineres Unternehmen aus dem Bereich der elektronischen Baugruppenfertigung – Betrieb B mit ca. 150 Beschäftigten – sowie ein ebenfalls kleineres metallverarbeitendes Unternehmen, das vorwiegend für den Fahrzeugbereich und Industrieanwendungen produziert – Betrieb C mit ca. 400 Beschäftigte. Die Ausgangslage der Fallunternehmen ist von hohem globalem Konkurrenz- und vor allem Flexibilisierungsdruck geprägt; Schnelligkeit und Anpassungsfähigkeit sind in den vergangenen Jahren zu zentralen Wettbewerbsfaktoren geworden. In Betrieb A sind die Flexibilitätsanforderungen durch Marktschwankungen allerdings dadurch abgemildert, dass er zu einem großen Anteil für den Stammsitz des eigenen Unternehmens produziert und somit mit einem verhältnismäßig stabilen Planungshorizont arbeiten kann. Im besonderen Maße einer volatilen Auftragslage unterworfen ist dagegen Betrieb B: Als Fertigungsdienstleister ohne eigenes Produktportfolio betrifft die Planungsunsicherheit nicht nur die Quantität der Aufträge, sondern auch Produkttypen und deren jeweilige Fertigungstiefe. Zudem haben sowohl Betrieb B als auch Betrieb C als kleine Produktionsunternehmen mit geringeren Absatzzahlen nur eine geringe Marktmacht und stehen auch in Zulieferprozessen hinten an. Daher müssen sie nicht nur schwankende Auftragslagen, sondern in kritischen Phasen auch Materialengpässe bewältigen.
Während die Betriebe B und C auch während der Forschungsphase ernsthafte ökonomische Krisen durchlebten, befindet sich Betrieb A seit Jahren in einer sehr guten wirtschaftlichen Lage. Die unterschiedliche Ausgangssituation der Fallbetriebe schlägt sich auch im Zugang zur Digitalisierung wieder, der in Betrieb A auf langfristige Perspektiven hin erprobt, in Betrieb B unter starkem Zeitdruck sowie mit Hoffnung auf schnelle Lösungen für die betrieblichen Probleme und in Betrieb C aufgrund hoher Investitionskosten für neue maschinelle Anlagen eher zögerlich angegangen wird. Die Qualifikationsstruktur in den untersuchten Bereichen Produktion und Logistik ist sehr gemischt: Nur in Betrieb C dominiert die Facharbeit, während in Unternehmen A und B neben Facharbeiter:innen und (wenigen) Techniker:innen ein relevanter Prozentsatz Angelernter (je nach Abteilung teilweise über 50 %) beschäftigt ist.
4.2 Betriebliche Strategien des digitalen Technikeinsatzes: Eine Typologie
Auf Basis des empirischen Materials konnten vier Typen betrieblicher Strategien des digitalen Technikeinsatzes identifiziert werden, die sich in den Zielsetzungen des unternehmerischen Technikeinsatzes unterscheiden: arbeitskraftbezogene Strategien, Strategien der systemischen oder prozessbezogenen Rationalisierung, Markt- und Geschäftsstrategien sowie der innovations- oder diskursgetriebene Technikeinsatz.
1) Mit arbeitskraftbezogenen Strategien sind jene Formen der Techniknutzung bezeichnet, die sich direkt auf die Arbeitskraft und das Transformationsproblem richten. Der Technikeinsatz zielt hier also darauf, die Leistungsverausgabung der Beschäftigten zu intensivieren oder menschliche Arbeitskraft durch Automatisierung zu ersetzen. Die Ausgestaltung von Kontrollsystemen und die Gewährung oder Einschränkung von Autonomiespielräumen ist direkter Bezugspunkt der jeweiligen Strategie.
In der konkreten Ausgestaltung lässt dieser Strategietypus zuallererst an Kontrollszenarien denken, wie sie im Narrativ des digitalen Taylorismus beschrieben werden: automatisierte Datenerfassung und damit verbunden permanente Überwachung und Kontrolle der Arbeitsleistung, detailliert vorgeschriebene Arbeitsschritte durch digitale Assistenzsysteme und fortschreitende Automatisierung. Wie in den obigen Ausführungen zur marktorientierten Steuerung gesehen, kann eine arbeitskraftbezogene Strategie der Techniknutzung aber auch das Gegenteil beinhalten: die gezielte Erweiterung von Autonomiespielräumen mit dem Ziel, unternehmerische Verantwortung an die Beschäftigten zu übertragen und hierüber die Leistungsverausgabung zu sichern. In den empirisch untersuchten Fällen war dies mehrfach intendiert: Unternehmen C nutzte die Möglichkeiten technisch gestützter vorausschauender Instandhaltung („predictive maintenance“), bei denen die Maschine selbst Warnungen und Anweisungen zur Wartung gibt, um die Selbstorganisation der Beschäftigten in den betroffenen Bereichen zu erweitern. Unternehmen B zielte mit der Anschaffung eines Leichtbauroboters darauf ab, über die Automatisierung eines zeitaufwendigen Teilarbeitsschrittes den Arbeits- und Verantwortungsbereich von Mitarbeiter:innen zu erweitern und ihre Flexibilität zu erhöhen.
12 Und auch die Implementation von Systemen der Echtzeittransparenz in Unternehmen A und B folgt, wie in Abschnitt 4 zu zeigen ist, weniger einer Logik der Überwachung und Beschränkung als einer Logik der Aktivierung.
Zu berücksichtigen ist damit immer zweierlei: erstens die Frage danach, welcher Stellenwert arbeitskraftbezogener Rationalisierung im Zuge des Digitalisierungsprozesses überhaupt zukommt, und zweitens dann die nähere Betrachtung, welche Form der Arbeitskraftrationalisierung und Leistungssteuerung mit digitaler Technik verfolgt werden soll. In den untersuchten Betriebsfällen spielten arbeitskraftbezogene Rationalisierungsstrategien durchweg auch eine Rolle in den betrieblichen Zielsetzungen der Digitalisierung, allerdings nicht die einzige und auch nicht die primäre.
2) In allen drei untersuchten Fällen waren Strategien der Prozessrationalisierung bzw. systemische Rationalisierungsstrategien von zentraler Bedeutung. Im Anschluss an das Konzept der „systemischen Rationalisierung“ sind damit Strategien der Techniknutzung angesprochen, die sich auf die Effektivierung innerbetrieblicher Funktionsprozesse und überbetrieblicher Zusammenhänge oder – in den Worten eines Interviewpartners (Unternehmen A, Werkleitung) – auf die Optimierung des Wertstroms richten. Hierbei können unterschiedlichste Formen digitaler Techniksysteme zum Einsatz kommen – auch solche, die, wie die Implementation von Echtzeit-Transparenz oder der Einsatz von Leichtbaurobotik, auf den ersten Blick eher auf Strategien der Arbeitskraftrationalisierung schließen lassen. Anders als arbeitskraftbezogene Strategien der Techniknutzung sind Strategien, die auf systemische Rationalisierung zielen, nicht direkt auf die Kontrolle der Arbeitskraft gerichtet. Sie beinhalten aber durch die Reorganisation des Arbeitsprozesses durchaus gezielte Eingriffe in die Gestaltung von Handlungsspielräumen von Beschäftigten. In welche Richtung dieser Einfluss geht, bleibt eine im jeweiligen Fall empirisch zu untersuchende Frage. Offenkundig ist jedoch, dass sich ein und dieselbe Digitalisierungsmaßnahme sehr unterschiedlich auswirken kann, je nachdem, ob sie mit der Intention der Arbeitskraftrationalisierung oder der systemischen Rationalisierung implementiert wird.
In den Digitalisierungsprozessen der untersuchten Fälle blieben die systemischen Rationalisierungsstrategien – wohl auch aufgrund der nachgelagerten Rolle der Betriebe in der Wertschöpfungskette – überwiegend auf innerbetriebliche Prozesse beschränkt. Fraglos gewinnen aber im Zuge der digitalen Transformation sowohl inner- als auch überbetriebliche Strategien dieser Art insgesamt an Gewicht (vgl. Buss et al.
2021). Die horizontale und vertikale Integration des Unternehmens, die Verschlankung, Verdichtung und Beschleunigung von Wertschöpfungsprozessen entsprechen der expliziten Zielsetzung des industriepolitischen Projektes Industrie 4.0 (Forschungsunion Wirtschaft-Wissenschaft und acatech
2013). Die durchdringende datentechnische Vernetzung, die nun auch physische Systeme integriert, verspricht nicht nur eine engere Koppelung zwischen Unternehmen und Marktteilnehmern als jemals zuvor, sondern erlaubt auch den steuernden Eingriff in Abläufe vor- und nachgelagerter Betriebe.
Über diese zwei Strategien hinaus, die sich auf unterschiedliche Formen der Rationalisierung richten, lassen sich zwei weitere Typen des strategischen Technikeinsatzes unterscheiden.
3) Hierzu gehören zunächst die
Markt- und Geschäftsstrategien. In Marx’schen Termini gesprochen geht es hier nicht um den Einsatz digitaler Technologien zugunsten der Mehrwert
produktion, sondern der Mehrwert
realisierung. Anders formuliert: Unternehmen setzen digitale Technologien nicht nur zur optimierten Organisation und Steuerung des Produktionsprozesses ein, sondern auch zur besseren Positionierung und Einflussnahme auf Märkten. Neue Strategien der Mehrwertrealisierung sind nicht nur bei Tech-Unternehmen (Ziegler
2020) oder im Kontext der Plattformökonomie (Srnicek
2016; Nachtwey und Staab
2020) ein entscheidendes Moment der Digitalisierung, sondern gelten einigen gar als
das zentrale Kennzeichen der digital transformierten Arbeitswelt (Pfeiffer
2021).
Ist hier die Rationalisierung des Arbeitsprozesses nicht Ausgangspunkt der Strategiebildung, so impliziert insbesondere die (Neu‑)Ausrichtung der Geschäftsprozesse doch auch Eingriffe in die Organisation der Arbeitsprozesse. Hier treffen wir also auf Digitalisierungsstrategien von Unternehmen, die primär auf den Markt, nicht auf die Arbeits- und Produktionsprozesse gerichtet sind, die gleichwohl aber das Potenzial in sich tragen, die Organisation von Arbeit grundsätzlich zu verändern. In den empirischen Fällen spielten Markt- und Geschäftsstrategien zunächst in den beiden elektrotechnischen Betrieben eine Rolle, die Digitalisierungsprozesse nicht nur als Anwender von Industrie-4.0-Technik vorantrieben, sondern sich ebenso als Produzenten elektronischer Produkte, die in digitaler Technik Anwendung finden, zu positionieren hatten. Der Einfluss auf Arbeits- und Produktionsprozesse blieb gleichwohl begrenzt, da hier – anders als etwa in Plattformunternehmen – keine gänzlich neuen Geschäftskonzepte aufgezogen wurden. Jenseits des eigenen Produktportfolios kamen markt- und geschäftsbezogene Strategien unter anderem auch in Unternehmen B als Angebot des „tracking und tracing“ zum Einsatz. Die digitale Nachvollziehbarkeit des Produktionsweges einzelner Bauteile dient hierbei nicht dem Qualitätsmanagement oder allgemein der Optimierung von Arbeits- und Produktionsprozessen, sondern erfüllt vielmehr die Funktion, formellen Kundenanforderungen zu genügen, die diesen Nachweis wiederum für ihren Endkunden benötigen.
4) Zu guter Letzt folgt nicht jede Technikeinführung einer benennbaren Strategie. In diesem Sinne zeichnet sich der letzte Strategietypus – die
Innovations- oder diskursgetriebene Digitalisierung – näher besehen eigentlich durch ein Strategiedefizit aus. Angesichts der öffentlichen Debatte um Industrie 4.0 versuchen Unternehmen nicht nur, neue Lösungen für bekannte betriebliche Probleme zu finden: Ebenso lässt sich empirisch beobachten, dass sie in vielen Fällen überhaupt erst nach einem betrieblichen Anwendungsfeld für neue digitale Technologien suchen. Hier geht es also gewissermaßen um die Suche nach Problemen für technisch verfügbare Lösungen. Konkret bedeutet das, dass Betriebe digitale Technologie auch schlicht deshalb einkaufen oder gar implementieren, um den Anschluss nicht zu verpassen oder um sich vor Kunden und Konkurrenten als innovativ und konkurrenzfähig präsentieren zu können. Die Unternehmen treiben Digitalisierungsprozesse im eigenen Unternehmen also auch aus Prestige- und Wettbewerbsgründen voran, selbst wenn noch gar keine genaue Vorstellung darüber besteht, ob und wenn ja welche produktionstechnischen, arbeitskraftbezogenen oder marktstrategischen Vorteile eine digitale Technologie konkret verspricht. In der eigenen Empirie diente beispielsweise die Pilot-Einführung eines kollaborierenden Leichtbauroboters – eines Roboters also, der in direktem physischem Kontakt mit Beschäftigten operiert – in Unternehmen A (vorerst) keinem unmittelbaren Rationalisierungsziel.
13 Die Mitarbeiter:innen aus dem Führungsgremium, die die Erprobung des Roboters verantworteten, definierten die Inbetriebnahme eher als Experimentierfeld und führten zur Begründung der Implementation vor allem Demonstrationszwecke gegenüber den Kund:innen an.
In ihren Wirkungen auf die Autonomie von Beschäftigten ist dieser „strategielose“ Einsatz digitaler Technologie offen. Gerade aus der fehlenden Zielsetzung und mangelnden Reflexion des digitalen Technologieeinsatzes können empfindliche und auch unternehmensseitig unbeabsichtigte Einschnitte in die Handlungsfreiheiten der Beschäftigten resultieren. Gleichzeitig sind die Effekte dort, wo neue Digitalisierungslösungen nur als ergänzende Alternative erprobt werden, eher begrenzt, können aber durchaus auch Pfadabhängigkeiten zur Folge haben.
Schon jetzt dürfte deutlich geworden sein, dass der Einsatz digitaler Technologien auch dann wesentliche Folgen für die Autonomie der Beschäftigten haben kann, wenn er gar nicht direkt auf Arbeitskraftrationalisierung gerichtet ist. Auch mit einem sozio-technisch geprägten Blick kommt man nicht umhin festzustellen, dass Technik, wenn sie einmal auf bestimmte Weise implementiert ist, Rahmenbedingungen setzt, die nicht ohne weiteres umgangen werden können (vgl. The Berlin Script Collective
2017). Im Umkehrschluss bedeutet das: Eingriffe in die Autonomie von Beschäftigten sind nicht zwangsläufig dem Kontrollimperativ der Unternehmen geschuldet, sondern können auch als Folge anderer Strategien auftreten – nehmen dabei aber eine andere Gestalt an. Exemplarisch wird dies am Digitalisierungsfeld der Echtzeit-Transparenz sichtbar, das im Folgenden anhand von Anwendungsfällen in zwei der untersuchten Unternehmen näher betrachtet werden soll.
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4.3 Eine Frage der Kontrolle? Zwei Anwendungsfälle von Systemen der Echtzeit-Transparenz
Das Feld der Echtzeit-Transparenz – also die unmittelbare Aufbereitung und Darstellung automatisiert erfasster Daten zur Steuerung oder Nachvollziehbarkeit ablaufender Prozesse in nahezu Echtzeit – stellt aus zwei Gründen ein für die Frage nach Autonomie und Kontrolle besonders interessantes Feld dar. Erstens gehören die Generierung, Verfügbarkeit, Auswertung und Analyse von Echtzeitdaten sowie die Echtzeit-Steuerung von Produktionsprozessen oder gar betriebsübergreifenden Abläufen zu den zentralen Innovationen, die mit digitalen Technologien und der digitalen Transformation der Arbeitswelt in Verbindung gebracht werden (u.a. Hirsch-Kreinsen
2014; Weyer
2019). Zweitens gilt die Transparenz von Echtzeitdaten als konstitutives Merkmal von Kontrollszenarien: Ihr Einsatz wirkt auf den ersten Blick wie ein untrügliches Indiz, dass Unternehmen digitale Technologien zur gesteigerten Überwachung der Beschäftigten nutzen. In zwei der untersuchten Unternehmen war die Einführung bzw. Nutzung eines Systems der Echtzeit-Transparenz der entscheidende Fokus der betrieblichen Digitalisierungsprojekte.
15 Bei analytischer Perspektive auf die damit verbundenen betrieblichen Strategien zeigte sich empirisch allerdings ein ganz anderes Bild, als die klassischen Kontrollszenarien nahelegen – was jedoch wiederum nicht bedeutet, dass der Einsatz weniger belastende Effekte für die Beschäftigten zur Folge hatte.
Die beiden Anwendungsfälle wurden in den Elektronikbetrieben A und B untersucht. Aufgrund der Ähnlichkeiten in Bezug auf das Digitalisierungsfeld und die dahinterstehenden Strategien werden sie in diesem Abschnitt – mit den nötigen Differenzierungen – gemeinsam behandelt. In beiden Fällen geht es um die Ausweitung bzw. Neueinführung einer digitalen Produktivitätsauswertung in Echtzeit, im Fall von Unternehmen A mit digital gestützter Fehleranalyse. Im Konkreten sollen die digitalen Systeme Stand und Abweichung von Produktivitätskennzahlen erfassen. In Unternehmen B befand sich das System zum Erhebungszeitpunkt noch im Aufbau, in Unternehmen A wurde es bereits bereichs- und teilweise sogar werkübergreifend genutzt. Zusätzlich werden in Unternehmen A nach vorgefertigten Codes Ursachen für Abweichungen erfasst und an das Steuerungsterminal derjenigen Abteilung rückgemeldet, der die Verursachung des Fehlers zugeschrieben wird. Auf den ersten Blick präsentieren sich die Anwendungsfälle tatsächlich wie ein klassisches Kontrollszenario, angereichert um Elemente einer peer-Kontrolle. So wird die Produktivität laufend automatisiert abgefragt und sichtbar kommuniziert; im Fall von Unternehmen A werden zudem Fehler laufend dokumentiert und ausgewertet. Gemäß Betriebsvereinbarungen erfolgt die Dokumentation zwar lediglich arbeitsplatz- und nicht personenbezogen, die Zurechnung ist bei der überschaubaren Größe der jeweiligen Einheiten jedoch leicht vorzunehmen.
Wie stellt sich dieses Szenario nun dar, wenn wir es im Lichte betrieblicher Digitalisierungsstrategien und vor dem Hintergrund bislang praktizierter Modi der Leistungssteuerung betrachten? Trotz unterschiedlicher wirtschaftlicher Ausgangslage ist in beiden Betrieben ein steigender Marktdruck zu spüren, den die Fallbetriebe unter anderem durch die angestoßenen Digitalisierungsprozesse zu bewältigen trachten. Insbesondere sehen sich die Betriebe vor die Herausforderung gestellt, einerseits interne Prozesse effektivieren und beschleunigen zu wollen, sich andererseits aber Flexibilität bewahren zu müssen. In Betrieb A stehen einer durchgängigen Standardisierung der Produktionsprozesse und Arbeitsabläufe schon die hohe Produktvarianz und die Produktion in geringen Stückzahlen („high mix, low volume“) entgegen. Bei Betrieb B, dem Auftragsfertiger, schlägt sich der kurze Planungshorizont in wechselnden Anforderungen an den Produktionsprozess und die Arbeitsorganisation nieder, sodass sich nur für sehr begrenzte Arbeitsschritte und Teilprodukte dauerhafte Automatisierungslösungen realisieren lassen.
Die Verfügbarkeit digitaler Technologien interpretiert das Management in beiden Fällen als einen neuen Rahmen, in dem die betrieblichen Herausforderungen bearbeitet werden können. Ein Teil der Flexibilisierungsanforderungen und Marktunwägbarkeiten wird bis dato vor allem auf der Ebene arbeitskraftbezogener Rationalisierung bewältigt. Dies erfolgt zum einem, indem die Beschäftigten und ihre zu verausgabende Leistung Kennzahlen und Terminvorgaben unterworfen werden, die an wechselnde Marktanforderungen angepasst sind. In die Vorgabezeiten, nach denen sich die Produktivität berechnet, fließen zwar durchaus kalkulierte Arbeitsaufwände ein, aber sie werden auch durch zu erreichende Marktpreise bestimmt.
16 Die Betriebe unterscheiden sich hier in der Grundarchitektur wenig. In der Realisierung erweist sich Betrieb A allerdings als deutlich toleranter gegenüber Abweichungen und Verfehlungen von Kennzahlen. Zum anderen nutzen beide Betriebe eine flexible Anpassung der Arbeitskraft an die jeweilige Auftragslage durch Arbeitszeitkonten, in Auftragshochs häufig kurzfristig angesetzte, formell freiwillige Samstagsarbeit, flexiblen Personaleinsatz teils auch über verschiedene Abteilungen hinweg sowie nicht zuletzt durch den variablen Einsatz und Abbau von Leiharbeit.
Mit Blick auf die digitalen Systeme der Echtzeit-Transparenz fällt als erstes auf, dass die involvierten Managementebenen auf strategischer Ebene vorwiegend prozessbezogene Rationalisierungsziele ansprechen, während die Rationalisierung und Kontrolle der Arbeitskraft nur am Rande thematisiert wird. In beiden Betrieben überwiegen strategische Bemühungen, Friktionen in den Prozesszusammenhängen abzubauen und die „Wertströme“ – in Betrieb A auch über die Werkgrenzen hinaus – zu beschleunigen. Gleichzeitig sollen Flexibilitätsressourcen ausgebaut werden, um sich der Auftragslage und wechselnden Produktionsanforderungen anpassen zu können. Produktivitätsgewinne erwartet sich die Managementseite weniger von einer Leistungsintensivierung der Arbeitskraft als von der Verschlankung und Neuorganisation von Prozessen.
Wenn auch die Stoßrichtung der Prozessoptimierung die dominierende ist, so gibt es ebenso Akteure, die sich mit der neu geschaffenen Transparenz eine direktere Kontrolle der Leistungsverausgabung erhoffen. Dies trifft insbesondere auf ein Mitglied der Geschäftsführung in Unternehmen B zu, das allerdings operativ mit Gestaltung und Nutzung des neu eingeführten Systems nicht befasst ist. Seine Vorstellungen nehmen daher eher die Form abstrakter Kontrollfantasien als real wirksamer Strategien an. Maßgeblich sind in dieser Hinsicht stattdessen vor allem das verantwortliche Management aus der Technologieabteilung sowie die Produktionsleitung, die Kontrollszenarien eine klare Absage erteilt:
Ich möchte nicht die Mitarbeiter permanent beobachten lassen. Das möchte ich nicht. Ich will das selber nicht, dass mir jemand im Rücken steht, und deswegen, die Leute kriegen die Vorgabe, das ist die Zielsetzung, die wir haben. Wie die die erreichen, überlasse ich denen teilweise selbst. (Unternehmen B, Produktionsleitung)
Die entscheidenden Akteure auf der mittleren und oberen Managementebene von Betrieb B zielen somit mit der Ausweitung digitaler Transparenz in Echtzeit nicht auf Kontrolle der Beschäftigten, sondern vorwiegend darauf, Fehlerursachen in ineinandergreifenden Abläufen zu identifizieren und zu priorisieren. Dennoch verweisen die abweichenden Vorstellungen des Mitglieds der Geschäftsführung darauf, dass Technologien bestimmte Möglichkeitsräume schaffen, die auch entgegen der ursprünglichen Einsatzintention genutzt werden können. Im konkreten Fall bleibt es aber bei einer eher abstrakten Möglichkeit.
Trotz Fokussierung auf Prozessrationalisierung verfolgen die maßgeblichen Akteure in beiden Betrieben jedoch durchaus auch Ziele der Leistungsintensivierung. Diese streben sie in beiden Fällen aber nicht nur und vor allem nicht vorwiegend durch verschärfte Kontrolle an, sondern durch eine aktivierende Wirkung von Transparenz: Die permanente Sichtbarkeit von Kennzahlenstand und Abweichungen soll das Verantwortungsgefühl der Beschäftigten schärfen und ihre Leistungsmotivation steigern. In dieser Logik geht es bei dem implementierten System also nicht um Transparenz im Sinne der Kontrollierbarkeit der Arbeitsabläufe durch die Führungskraft, sondern um Transparenz für die Beschäftigten selbst zum Zweck ihrer Selbstoptimierung. Die Beschäftigten sollen ihre Arbeitsleistung und ihren Arbeitsstand jederzeit kontrollieren, Fehlerquellen beseitigen und Arbeitsabläufe optimieren. Die Strategie arbeitskraftbezogener Rationalisierung durch die Einführung eines Systems der Echtzeit-Transparenz richtet sich hier also nicht auf Überwachung und Kontrolle, sondern auf Aktivierung im Kontext eines marktorientierten Steuerungsmodus.
Gegenüber den gewohnten Erscheinungsformen dieses Steuerungsmodus weitet sich mit den digitalen Vernetzungsmöglichkeiten der zugeschriebene Verantwortungsraum allerdings noch aus: Nicht nur die eigene Arbeitsverausgabung sollen die Beschäftigten variabel an die veränderlichen Anforderungen anpassen, sondern auch Verantwortung für die entsprechende Flexibilität der übergreifenden Arbeitsprozesse übernehmen. Über eine selbstständig flexible Arbeitsverausgabung hinaus geht es jetzt auch um einen selbstständig flexiblen Arbeitseinsatz. Allerdings gibt es dennoch Wirkungen in Richtung zunehmender Kontrolle und eingeschränkter Handlungsspielräume: Unabhängig von den intendierten Nutzungsinteressen schaffen die einmal implementierten Systeme faktische Transparenz nicht nur hinsichtlich der jeweiligen Prozesse, sondern auch der Leistungsverausgabung – wenn nicht des Individuums, so doch der Arbeitsgruppe. Zudem greift die digitale Dokumentationspraxis in die Arbeitsabläufe ein. So lässt sich in Betrieb A beobachten, wie die automatisierte und systemgestützte Fehlerdokumentation informelle „workarounds“, Grauzonen der informellen Kooperationen und Absprachen über die Abteilungen hinweg unterminiert. Hier zeigt sich augenfällig, wie die offizielle Zielsetzung, die Verantwortlichkeit der Beschäftigten zu erweitern, immer wieder in Widerspruch zu den praktischen Effekten der implementierten digitalen Technik gerät, deren Formalisierungsmomente die Möglichkeiten eigenständigen Handelns einschränken.
Aus Beschäftigtenperspektive wirken sich die Systeme der Echtzeit-Transparenz dennoch anders auf ihre Erfahrung von Kontrolle und Autonomie aus, als dies wohl bei direkt auf externe Kontrolle gerichteten Digitalisierungsstrategien zu erwarten wäre. Auffallend ist zunächst, dass die Beschäftigten beider Betriebe den gestiegenen Kontrollmöglichkeiten durch digitale Transparenz kaum Aufmerksamkeit schenken. Kaum eine Interviewpartner:in thematisiert Kontrollbefürchtungen von sich aus, darauf angesprochen reagieren sie eher gleichmütig:
Ja, man kommt sich ab und zu ein bissel beobachtet vor, das stimmt schon. Aber halt jetzt […] ich tät sagen, also ich finde es jetzt nicht schlimm. (Unternehmen A, Angelernter Logistik)
Der Gleichmut der Beschäftigten gegenüber der Transparenz ihrer Arbeitsverausgabung könnte leicht als Herrschaftsblindheit interpretiert werden. Er lässt sich jedoch dadurch erklären, dass die Autonomieeinschränkung nicht durch Verhaltenskontrolle und Überwachung von außen erfolgt, sondern als Sachzwang über Ergebnis- und Termindruck erzeugt wird. Bezeichnenderweise sind es in Betrieb B sogar die Beschäftigten selbst, die eine Ausweitung des neu eingeführten Systems zur digitalen Fehlererfassung einfordern:
Vielleicht wäre das auch nicht schlecht, dass man dann weiß, woran hängt es? […] Weil das wäre glaube ich für uns alle mal irgendwo gut, dass wir wissen, woran hängt es. Weil wie der Chef sagt sonst […] unser Chef sagt immer, wenn irgendetwas schiefgelaufen ist, irgendjemand hat seine Arbeit nicht richtig gemacht. (Unternehmen B, Angelernte Bestückung)
Vor dem Hintergrund des kennzahlgestützten Produktivitätsdrucks erscheint eine prozessbezogene Fehlertransparenz nun keineswegs als Kontrolldrohung, sondern als Möglichkeit, eigene Arbeitsaufwände in rechtfertigender Absicht nachzuweisen und fehlende Ressourcen einzufordern:
Da kann ich sofort sehen, wenn irgendwas schief läuft. […] und der Rechner weiß, wie viel Leute und wie viel Stunden im Laufe des Monats zur Verfügung stehen, da kann der ja sofort sagen, Moment mal, das passt überhaupt nicht. Du brauchst noch zwei Leute mehr. Oder du musst Bescheid sagen, das kann hier nicht hinhauen. (Unternehmen B, Facharbeiter Systemmontage)
Zugleich teilen die Beschäftigten an dieser Stelle das Interesse des Managements an Prozessoptimierung – sind sie es doch, die bislang Friktionen und Widersprüche kompensieren mussten. Die Autonomie der Beschäftigten wird eben nicht durch restriktive Handlungsvorgaben oder Verhaltenskontrolle beschnitten, sondern durch Widersprüche des marktorientierten Steuerungsmodus: Sie sind explizit zur Verantwortungsübernahme angehalten und sollen Markt- und Kundenanforderungen mit den Anforderungen des Produktionsprozesses in Einklang bringen. Zugleich haben sie auch weiterhin wenig Einfluss auf die entscheidenden Parameter ihrer Arbeitsausführung. Die Prozesstransparenz erscheint ihnen vor diesem Hintergrund gerade nicht als Bedrohung ihrer Autonomie, sondern als Chance, genau diese Einflussnahme einzufordern. Schließlich gibt das durch das System bereitgestellte Datenmaterial Argumente an die Hand, um aufwandsorientierte Erfordernisse des Arbeitsprozesses mit Verweis auf die Faktizität der Daten gegen ergebnisorientierte Anforderungen in Anschlag zu bringen.
Zusammengenommen wird in der Darstellung der beiden empirischen Anwendungsfälle zunächst deutlich, dass auch der Einsatz vermeintlich prototypischer Kontrolltechnologien nicht automatisch auf einen Prozess der Re-Taylorisierung verweist. Mit Blick auf die betrieblichen Strategien hinter der Implementation von Systemen der Echtzeit-Transparenz stehen in den beiden Fallbeispielen Strategien der Prozessrationalisierung im Zentrum. Herrschaftsmechanismen sind in dieser Konstellation mitnichten aufgehoben, sie finden nur einen anderen Ausdruck. Parallel anvisierte arbeitskraftbezogene Rationalisierungsstrategien folgen hier eher dem Muster einer erweiterten marktbezogenen Steuerung, weniger dem Muster tayloristischer Kontrolle. Dies wirkt sich auch auf die Interessen der Beschäftigten aus: Sie fordern keine Einschränkung der Transparenz, sondern teilweise sogar ihre Ausweitung um Arbeitsaufwände gegen marktbestimmte Vorgaben geltend machen zu können.
Bezogen auf die Autonomie der Beschäftigten zielen die maßgeblichen Akteure des Managements einerseits darauf, diese im Zuge der Einführung von Systemen der Echtzeit-Transparenz im Sinne einer „aktivierenden Transparenz“ systematisch zu erweitern. Andererseits gehen mit der damit verbundenen Formalisierung empfindliche Einschnitte in die Handlungsspielräume der Beschäftigten einher, die zu diesem Vorhaben in Widerspruch stehen. So zeigen die Fallbeispiele auch, wie einerseits unterschiedliche Strategien, die den Einsatz digitaler Technik motivieren, andererseits die Eigendynamik der Technik selbst die Autonomie von Beschäftigten in widersprüchlicher Weise beeinflussen können. Eine Engführung des Autonomieproblems auf unternehmerische Zielsetzungen der Kontrolle und Überwachung greift aber allemal zu kurz. Vielmehr wird sichtbar, wie sehr die Frage der Autonomie von den betrieblichen Strategien abhängt, die immer auch ein konfliktuelles Aushandlungsfeld verschiedener betrieblicher Akteure darstellen.