Skip to main content
Erschienen in:
Buchtitelbild

Open Access 2022 | OriginalPaper | Buchkapitel

1. Einleitung

Aktivieren Sie unsere intelligente Suche, um passende Fachinhalte oder Patente zu finden.

search-config
download
DOWNLOAD
print
DRUCKEN
insite
SUCHEN
loading …

Zusammenfassung

Als Beitrag zur Erhöhung der Flugreichweite kommerzieller Flugzeuge durch Reduzierung des Luftwiderstands der Triebwerke wurden variable Pitot-Einlässe innerhalb einer fünfjährigen akademischen Konzeptstudie untersucht. Frühere Studien zu variablen Einlässen fanden keine industrielle Anwendung, da sie die hohen Anforderungen an Effizienz, Sicherheit und Zuverlässigkeit nicht erfüllen konnten. Mögliche Gründe hierfür sind ein zu geringes Einsparpotenzial durch eine zu niedrige Reisefluggeschwindigkeit der Anwendung oder unzureichende Zuverlässigkeit und Sicherheit aufgrund eines ungeeigneten Konstruktionsansatzes. Das Ziel der vorliegenden Studie war es, ein Konzept für variable Pitot-Einlässe konstruktiv bis zu einem Technologie-Reifegrad TRL 3 zu gestalten, sodass dieses zur Erhöhung von Reisefluggeschwindigkeit und Flugreichweite beitragen kann, ohne dabei die Sicherheit und Zuverlässigkeit des Flugzeugs einzuschränken.

1.1 Motivation

Unsere Zeit ist geprägt von stetigem Wandel. Dazu zählt auch die Globalisierung, die unter anderem Möglichkeiten für den schnellen Transport von Menschen, Gegenständen und Informationen erfordert. Im Vergleich zu anderen Transportmitteln ermöglichen es Flugzeuge, jeden Ort des Planeten schnellstmöglich und mit höchster Sicherheit zu erreichen [1]. Angetrieben werden Flugzeuge vorrangig durch Fluggasturbinen, auch als Flugtriebwerke bekannt. Diese verbrennen zur Schuberzeugung überwiegend den fossilen Brennstoff Kerosin und tragen unter anderem mit 3 % der globalen \(CO_{2}\)-Emissionen [2] zum Klimawandel bei. Diesen und seine Folgen aufzuhalten oder zumindest einzuschränken [3], wird bereits von Organisationen wie den Vereinten Nationen verfolgt und sollte ein primäres Ziel der Menschheit darstellen. Hierfür ist langfristig die Erforschung regenerativer Technologien sowie kurzfristig die Verbesserung bestehender Anwendungen notwendig.
Der Klimaschutz spiegelt sich auch in den politisch gesteckten ACARE-Zielen (Advisory Council for Research and Innovation in Europe) der Europäischen Union für 2020 [4] und 2050 [5] wieder. Diese beinhalten unter anderem die Reduktion von \(CO_{2}\)-, Stickoxid- und Lärmemissionen sowie die Verringerung von Unfallraten [4], [5]. Die \(CO_{2}\)-Emissionen können durch eine Reduktion des Kraftstoffverbrauchs reduziert werden, wodurch gleichzeitig die Betriebskosten gesenkt werden. Aus diesen Gründen werden im Bereich der Luftfahrt bereits seit vielen Jahren große Anstrengungen unternommen, stets die effizientesten und sichersten Technologien einzusetzen.
Ansätze zur Nutzung regenerativer Energiequellen werden intensiv untersucht und befinden sich bereits in Testphasen [6]. Zu nennen sind hierbei insbesondere Power-to-Liquid-Verfahren und Biokraftstoffe als Kerosinersatz sowie elektrische Antriebssysteme, die nachhaltig erzeugten Strom nutzen [6]. Jedoch ist ein flächendeckender Einsatz dieser Ansätze in absehbarer Zeit noch nicht möglich [6]. Deshalb gilt es, den Anteil der Luftfahrt an den globalen \(CO_{2}\)-Emissionen zu reduzieren, indem beispielsweise die existierenden Triebwerke, vgl. Abbildung 1.1 links oben, und deren Integration in das Flugzeug verbessert werden. Eine verbesserte Integration des Triebwerks kann beispielsweise den Luftwiderstand des Flugzeugs verringern. Dies hat positive Auswirkungen auf den erforderlichen Schub und somit die Reichweite des Flugzeuges, seinen Kraftstoffverbrauch sowie seine \(CO_{2}\)-Emissionen.
Eine Möglichkeit der Widerstandsreduktion besteht in der Optimierung der Umströmung des Triebwerkseinlasses, vgl. Abbildung 1.1 links zentral und unten. Auch als Einlauf bezeichnet, stellt dieser die Schuberzeugung sicher, indem er die Zufuhr des erforderlichen Luftmassenstroms zum Triebwerk gewährleistet. Die Luftzufuhr muss in jedem Betriebszustand mit hoher Gleichförmigkeit und in einem Geschwindigkeitsbereich bis maximal Mach 0,6 erfolgen [7]. Die Erfüllung dieser Aufgabe wird vorrangig durch die Einlassgeometrie bestimmt, vgl. Kapitel 2. Heutige kommerziell eingesetzte Flugzeuge fliegen ausschließlich im Unterschallbereich. Anwendungen in diesem Geschwindigkeitsbereich verwenden annähernd kreisringförmige Pitot-Einlässe mit einer starren Geometrie [8, S. 252]. Solch eine starre Geometrie kann stets nur einen Kompromiss bezüglich der unterschiedlichen aerodynamischen Anforderungen während der Flugmission abbilden.
Während des Flugzeugstarts und des Steigflugs können Fehlanströmungen durch Anstellwinkel und Seitenwind auftreten. Daraus können Strömungsablösungen im Bereich des Einlasses entstehen. Die Einlassgeometrie muss diese Strömungsablösungen und potenziell daraus resultierende gefährliche Ereignisse vermeiden [9]. Dies erfolgt mit Hilfe einer abgerundeten, verhältnismäßig dicken Geometrie [10, S. 172], vgl. Abbildung 1.1 rechts oben. Im Reiseflug hingegen liegt der Fokus auf einem minimalen Luftwiderstand. Hierfür ist im Unterschallbereich eine verhältnismäßig schlanke Geometrie erforderlich [10, S. 172], vgl. Abbildung 1.1 rechts zentral. Darüber hinaus existieren nicht-kommerzielle Überschallanwendungen, die einen Pitot-Einlass verwenden [9]. In diesem Geschwindigkeitsbereich sollte die Geometrie eines Pitot-Einlasses möglichst scharf und dünn sein, um einen minimalen Luftwiderstand zu erzeugen [11, S. 127], vgl. Abbildung 1.1 rechts unten.
Die Identifikation der idealen Geometrie starrer Pitot-Einlässe ist Gegenstand zahlreicher Studien [12], [13], [14], [15], [16], [17], [18], [19], [20].
Variable Einlässe – Potenziale und Herausforderungen
Die Geometrie des Lufteinlasses variabel zu gestalten, bietet großes Potenzial. Durch einen formvariablen Einlass kann zum einen während des Flugzeugstarts und Steigflugs eine Einlasskontur eingestellt werden, die widerstandsfähig gegen gefährliche Strömungsablösungen ist. Zum anderen kann für den Reiseflug eine effizientere Geometrie mit geringerem Luftwiderstand umgesetzt werden. Im Rahmen des von der Europäischen Union geförderten Forschungsprojekts MorphElle wurde ein aus der Verwendung variabler Einlässe im Unterschallbereich resultierendes Kraftstoffeinsparpotenzial von 5 % bestimmt [21, S. 2]. Zudem konnte ein geringfügig positiver Einfluss auf den während des Flugzeugstarts vom Fan des Triebwerks abgestrahlten Lärm identifiziert werden [22].
Im Rahmen des MorphElle-Projekts wurden verschiedene Konzepte variabler Pitot-Einlässe [23], [24], [25], [26] erarbeitet. Ein weiteres Konzept [27], [28], [29] wurde von Kondor et al. in Zusammenarbeit mit der NASA (National Aeronautics and Space Administration) entwickelt. Zudem existieren auch zahlreiche Patente bezüglich variabler Pitot-Einlasslippen, unter anderem US5000399 [30] und US4075833A [31]. Allerdings finden die genannten Lösungsansätze keine Anwendung in modernen Flugzeugen.
Die fehlende Anwendung variabler Pitot-Einlässe lässt sich unter anderem damit begründen, dass mit der hinzukommenden Funktion der Variabilität auch zusätzliche oder neuartige Komponenten, wie Stellsysteme oder formvariable Werkstoffe, erforderlich werden. Dies kann die Herstellungskosten und die Masse des Systems negativ beeinflussen [32, S. 22]. Die zusätzliche Masse wirkt sich zudem negativ auf die Nutzlast oder die Reichweite des Flugzeugs aus. Aus diesem Grund wird in der Luftfahrt stets versucht, die Gesamtmasse zu minimieren. So werden auch Anstrengungen unternommen, Triebwerksgondeln möglichst kurz und dünn zu gestalten [33], [16]. Darüber hinaus stellen die zusätzlichen Komponenten eines variablen Systems eine erhöhte Ausfallgefahr dar [32, S. 7]. Daraus können unter anderem ein erhöhter Wartungsaufwand und eine geringere Nutzungsdauer hervorgehen, was in Zusatzkosten für den Flugzeugbetreiber resultiert. Zudem kann ein Ausfall des Einlasssystems Sicherheitsrisiken, wie beispielsweise Schubverlust, bergen und bei mehreren betroffenen Einlässen bis hin zu fatalen Folgen führen [34, 2-F-168–169]. Diese Nachteile überwiegen wahrscheinlich die potenziellen aerodynamischen Vorteile variabler Pitot-Einlässe, sodass die Unternehmen der Luftfahrt von einem Einsatz im Unterschallbereich derzeit absehen.
Größeres Potenzial im Überschallbereich
Das aerodynamische Potenzial variabler Einlässe für transsonische oder Überschallanwendungen ist größer als das reiner Unterschallanwendungen, vgl. Abschnitt 4.​4.​3. Dies liegt vor allem daran, dass die Anforderungen an die Einlassgeometrie zwischen Unterschall- und Überschallbetrieb stärker variieren als während des reinen Unterschallbetriebs.
Seit den 1960er Jahren werden regelmäßig Entwicklungsprojekte für Überschallflugzeuge durchgeführt [35]. Von diesen Projekten gelangten lediglich die Tupolev Tu-144 und die Concorde in den zivilen Flugbetrieb. Dabei erreichten sie Fluggeschwindigkeiten von knapp über Mach 2,0. Die Triebwerke besagter Flugzeuge nutzten Einlässe mit einer rechteckigen Grundfläche, vgl. Abbildung 1.1 links unten. Starke Verluste durch Verdichtungsstöße und Strömungsablösungen wurden mit variablen Rampen, Öffnungsklappen und sehr langen Einlässen reduziert. Zudem waren auch aufgrund der rechteckigen Grundfläche sehr lange Einlässe erforderlich, um die Gleichförmigkeit der kreisförmigen Anströmung des Verdichtersystems, insbesondere während des Flugzeugstarts und des Steigflugs, zu gewährleisten. Diese Länge von etwa fünf Metern und die erforderliche Aktorik der Klappen und Rampen führten zu einer großen Masse im Vergleich zu äquivalenten Pitot-Einlässen für den Überschall [36].
Gegenüber Unterschallflugzeugen hatten beide genannten Flugzeugmuster große Defizite in Bezug auf Reichweite, Effizienz, Lärm und Sicherheit, weshalb sie außer Betrieb genommen wurden [37]. Seit der Außerbetriebnahme dieser bisher einzigen kommerziellen Überschallflugzeuge im Jahr 2003 ist ziviler supersonischer Transport (SST) nicht mehr möglich [35], obwohl weiterhin ein Markt dafür existiert [38].
Deshalb arbeiten zahlreiche Forschungseinrichtungen und Flugzeughersteller kontinuierlich an ehrgeizigen Programmen für zukünftige Überschallflugzeuge [35], [37], [38]. Dazu zählen Aerion, Lockheed Martin, Sukhoi, Boom Technology, Spike Aerospace, Gulfstream, SAI (Supersonic Aerospace International), Dassault, DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency), Mitsubishi Heavy Industries, Tupolev, HiSAC (Environmentally Friendly High Speed Aircraft), JAXA (Japan Aerospace Exploration Agency), NASA (National Aeronautics and Space Administration) und SCIA (Supersonic Cruise Industry Alliance) [37], [38], [39].
Die Gründe für das große Interesse an der Entwicklung von Überschallflugzeugen sind vielfältig. Derartige technologische Erfolge, die ein Alleinstellungsmerkmal darstellen, gehen stets mit einem großen Prestigegewinn für den Hersteller einher. Das Marktvolumen von Geschäftsreiseflugzeugen betrug 2008 etwa 24 Milliarden US-Dollar [40] und wird momentan auf 30 Milliarden US-Dollar jährlich geschätzt [35]. Für Überschallflugzeuge werden Abnahmemengen von 400 Maschinen über 20 Jahre [35] bis hin zu 350 Flugzeugen über 10 Jahre [39] prognostiziert. Als potenzielle Kunden werden unter anderem Privatpersonen, Firmen und Regierungen in Betracht gezogen [38]. Neben dem praktischen Nutzen des schnellsten der Menschheit verfügbaren Transportmittels, stellt der Besitz eines Überschallflugzeugs für den potenziellen Kunden auch ein Prestigeobjekt dar.
Den Vorteilen der Entwicklung eines Überschallflugzeuges stehen Entwicklungskosten im einstelligen Milliarden-US-Dollar-Bereich gegenüber [40]. Diese resultieren in einer hohen Abbruchquote und Verzögerungen der Projekte. Gründe hierfür sind hohe Anforderungen an Sicherheit, Komfort, Leistung und Effizienz [37]. Für aktuelle Überschallkonzepte ist der prognostizierte Kraftstoffverbrauch pro Kilometer beispielsweise vier bis fünf Mal höher als der Verbrauch vergleichbarer Unterschallflugzeuge [38, S. 32]. Neben den technischen Anforderungen müssen auch behördliche Regularien erfüllt werden. Gegenwärtig verbietet beispielsweise die Luftfahrtbehörde der Vereinigten Staaten von Amerika FAA (Federal Aviation Administration) in 14 CFR Part 91.817 den Betrieb von Flugzeugen über dem Festland mit Geschwindigkeiten über Mach 1, sofern diese keine Ausnahmegenehmigung seitens der FAA haben [41]. Das Verbot des Überschallflugs begründet sich aus dem dabei erzeugten Überschallknall (Sonic Boom) [41]. Ein Überschallknall ist das akustisch wahrnehmbare Ergebnis eines Verdichtungsstoßes. Ein Verdichtungsstoß kann in kompressiblen Medien, wie Luft, auftreten, wenn sich ein Körper mit einer Geschwindigkeit größer Mach 1, also mit Überschallgeschwindigkeit, durch dieses kompressible Medium bewegt. Dabei erfolgt eine sprunghafte Zustandsänderung des Mediums hin zu einem höheren Druck und einer geringeren Geschwindigkeit. Der Überschallknall kann in einer Lärmstörung der Anwohner bis hin zu gesundheitlichen Folgen resultieren [37]. Zudem können durch den entstehenden Überdruck strukturelle Schäden an Dächern, Putz und Fenstern von Gebäuden auftreten [37].
Aus dem Verbot des Überschallknalls über dem Festland resultieren zwei verschiedene Herangehensweisen für Überschallflugzeuge. Bei der ersten Herangehensweise wird versucht zu verhindern, dass der Überschallknall den Boden erreicht [42]. Bei diesem als knallfrei (boomless) bezeichneten Ansatz werden unter anderem große Flughöhen, angepasste Machzahlen beim Flug über dem Festland bis etwa Mach 1,2 sowie spezielle schlanke umströmte Konturen eingesetzt [35]. Dieser Ansatz soll beispielsweise im Flugzeug Aerion AS2 Anwendung finden, das eine geplante Maximalgeschwindigkeit von Mach 1,4 aufweist [43]. Bei der zweiten Herangehensweise wird nicht versucht den Überschallknall zu vermeiden. Stattdessen sollen hierbei die behördlichen Regularien erfüllt werden, indem über dem Festland ausschließlich im hohen Unterschallbereich, z. B. bis maximal Mach 0,99, geflogen wird, während über den Ozeanen eine Fluggeschwindigkeit bis Mach 1,6 erreicht wird [44]. Der Einfluss des dortigen Überschallknalls auf die Tierwelt soll akzeptabel sein, da ab einer Wassertiefe von ca. fünf Metern keine Auswirkungen mehr vernehmbar sind [37, S. 764]. Dieser Ansatz wurde beispielsweise im inzwischen eingestellten Aerion SBJ-Projekt verfolgt [44].
Viele Konzeptstudien für Überschallflugzeuge, beispielsweise die Aerion AS2 [45], und vereinzelte wissenschaftliche Studien [36] verwenden ringförmige Pitot-Einlässe an Stelle rechteckiger Einlässe. Auch militärische Überschallflugzeuge, wie die Lockheed Martin F-16, die MiG-19 oder die Dassault Rafale, nutzen Pitot-Einlässe mit starrer Einlasshülle [46]. Teilweise werden diese Pitot-Einlässe mit einem variablen Zentralkörper (Konus) kombiniert, um Stoßkonfigurationen zu steuern und somit die Effizienz zu erhöhen [46]. Die Geometrie der Einlasslippe ist für Überschallanwendungen dünn bis scharf und somit anfällig für Strömungsablösungen beim Start und während des Steigflugs [47, S. 359–371]. Eine vergrößerte Einlasslänge und optionale komplexe Öffnungsklappen ermöglichen den sicheren Betrieb während dieser Flugphasen [8, S. 267–269]. Durch die Verwendung einer variablen Einlasslippengeometrie könnten Strömungsablösungen in diesen Flugphasen ebenfalls umgangen werden, wodurch die Einlasslänge reduzierbar wäre. Weiterhin könnte in allen Flugphasen eine jeweils höhere Effizienz erreicht werden.
Die häufige Verwendung von starren Pitot-Einlässen im Geschwindigkeitsbereich bis maximal Mach 1,6 und vereinzelt auch bis Mach 2,0 ist damit zu erklären, dass sie den bisher besten Kompromiss aus Masse, Komplexität und Effizienz ermöglichen [9]. Bei militärischen Anwendungen nehmen geringe Komplexität und maximal erreichbare Leistung einen größeren Stellenwert als die Effizienz ein. Deshalb sind bei diesen Anwendungen vermehrt starre Pitot-Einlässe im Gegensatz zu variablen rechteckigen Einlässen mit Stoßkonfigurationen zu finden. Ein Pitot-Einlass erreicht im Vergleich zu einem rechteckigen Einlass eine höhere Gleichförmigkeit der Fananströmung [9]. Dies ermöglicht eine signifikant kürzere Länge und damit eine geringere Masse sowie eine bessere Integration des Einlasses in das Flugzeug. Dadurch wird auch die Gefahr von Strömungsablösungen durch eine dicke Grenzschicht verringert. Die Grenzschicht beschreibt den Bereich reduzierter Strömungsgeschwindigkeit in der Nähe einer umströmten Oberfläche, resultierend aus der Viskosität des strömenden Mediums und der wirkenden Reibung [10, S. 132]. Durch die reduzierte Einlasslänge müssen keine Maßnahmen zum Abbau der Grenzschicht, wie z. B. Abluftklappen, in den Einlass integriert werden. Zudem ist bei Modellen ohne variablen Konus keine Aktorik mit zusätzlicher Masse und Ausfallgefahr erforderlich. Durch die starre Geometrie und den Verzicht auf einen variablen Konus wird während des Überschallfluges ein senkrechter Verdichtungsstoß vor dem Einlass erzeugt. Dieser hat direkten Einfluss auf den Wirkungsgrad des Einlasses und somit auch auf den vom Triebwerk erzeugten Schub [11, S. 105]. Der Wirkungsgrad des Einlasses wird durch das Einlassdruckverhältnis definiert. Während bei Fluggeschwindigkeiten bis Mach 1,6 ein akzeptables Einlassdruckverhältnis von 90 % erreicht werden kann, gilt dies bei Fluggeschwindigkeiten über Mach 2,0 nicht mehr [11, S. 105], [47, S. 359]. In diesen Geschwindigkeitsbereichen sind komplexere Einlässe, die Stoßkonfigurationen erzeugen, deutlich effizienter [46].
Zukünftige kommerzielle Überschallflugzeuge müssten bei verschiedenen Reisefluggeschwindigkeiten betrieben werden, um sowohl den behördlichen Anforderungen bezüglich Überschallknall als auch den Kundenanforderungen nach schnellstmöglichem Transport nachzukommen. Ein mögliches Flugzeug könnte Reisefluggeschwindigkeiten ohne Überschallknall über dem Festland von Mach 0,95 und mit Überschallknall über den Ozeanen von Mach 1,6 umsetzen. Darüber hinaus sollte das Flugzeug höchstmögliche Effizienz erreichen, um einerseits die Reichweite für den Kunden zu maximieren und andererseits Umweltbelastungen durch \(CO_{2}\)- und Schadstoff-Emissionen auf ein zulässiges Maß zu senken [48], [49]. Der Pitot-Einlass eines solchen Flugzeuges sollte gegensätzliche aerodynamische Anforderungen erfüllen. Zum einen müssen Strömungsablösungen im Bereich des Einlasses während des Flugzeugstarts und des Steigflugs vermieden werden. Zum anderen sollte der Einlass maximale Effizienz sowohl im Unterschallreiseflug über dem Festland bei Mach 0,95 als auch im Überschallreiseflug über den Ozeanen bei Mach 1,6 ermöglichen. Um diese Anforderungen zu erfüllen, sind unterschiedliche Einlassgeometrien erforderlich. Beispielsweise sollte der Rundungsradius der Einlasslippe mit steigender Geschwindigkeit tendenziell abnehmen, vgl. Abbildung 1.1 rechts. Diese Geometrien könnten durch einen variablen Einlass, der die Kontur der Einlasslippe, des Diffusors und des äußeren Gondelvorkörpers verändern kann, realisiert werden. Dadurch wird die Länge im Vergleich zu anderen Überschalleinlässen deutlich reduziert. Die Variabilität des Einlasses erhöht jedoch auch seine Komplexität und kann einen inakzeptablen Einfluss auf die Zuverlässigkeit und die Sicherheit des Einlasssystems haben. Deshalb sind diese beiden Aspekte von Beginn an in den Entwicklungsprozess einzubeziehen.
Sicherheit und Zuverlässigkeit durch geeigneten Entwicklungsansatz
Für die Entwicklung neuartiger Technologien existieren zahlreiche konstruktionsmethodische Ansätze, vgl. Kapitel 3. Im Maschinenbau werden sehr häufig lineare Entwicklungsmodelle verwendet. Diese führen Schritt für Schritt von den Anforderungen an ein Produkt über seine Funktionen und verschiedene Konzeptdetaillierungsgrade hin zum vollständig entwickelten Produkt. Ein Beispiel dafür ist die im deutschsprachigen Raum häufig eingesetzte Entwicklungsmethodik vom Verein Deutscher Ingenieure nach VDI-Richtlinie 2221 [50].
Die zunehmende Komplexität moderner (mechatronischer) Systeme bringt potenziell eine erhöhte Fehleranfälligkeit bzw. verringerte Zuverlässigkeit mit sich. Auch in der Luftfahrt gehen aus der zunehmenden Komplexität Sicherheitsrisiken hervor, wie unter anderem die aus Softwarefehlern resultierenden Unglücke der Boeing 737 Max-Serie zeigen [51]. Aus diesem Grund wurden Modelle entwickelt, die über die gesamte Entwicklungsphase den Fokus auf eine hohe Absicherung der Funktionsweise legen, wie das V-Modell nach VDI-Richtlinie 2206 [52]. In diesem Modell werden allen Entwicklungsphasen zugehörige Verifikations- bzw. Testphasen zugeordnet. Dem V-Modell entspricht beispielsweise der seitens SAE International (Society of Automotive Engineers) in der ARP 4754A (Aerospace Recommended Practice) empfohlene Entwicklungsansatz für die Luftfahrt [32, S. 24], [53, S. 7].
Im Vergleich zu industriellen Entwicklungsprojekten ist der mögliche Personal- und Sachmittelaufwand akademischer Untersuchungen meist deutlich geringer. Dadurch wird der mögliche Umfang der Studien und der erreichbare Detaillierungsgrad der entwickelten Konzepte eingeschränkt. Dies sind Gründe dafür, dass die bisher durchgeführten akademischen Konzeptstudien bezüglich variabler Einlässe noch nicht Einzug in die Serienproduktion hielten. Ein weiterer möglicher Grund besteht in der geringen Zuverlässigkeit und Sicherheit der Konzepte, resultierend aus einem fehlenden Schwerpunkt des verwendeten Entwicklungsansatzes auf diese Aspekte [54, S. 7]. Das Ziel einer akademischen Studie sollte zudem nicht sein, ein fertiges Produkt zu entwickeln, das reif für die Serienproduktion ist. Vielmehr sollten geeignete Konzeptideen bis zu einem Detaillierungsgrad untersucht werden, der eine Entscheidung über die Umsetzbarkeit einer Technologie ermöglicht.
Der Nachweis der Umsetzbarkeit einer Technologie kann beispielsweise mit Hilfe des Technologie-Reifegrads (Technology Readiness Level, TRL) beschrieben werden [55], [56]. So stellt für grundlegende akademische Untersuchungen ein Reifegrad TRL 3 ein sinnvolles Ziel dar. Der Reifegrad TRL 3 beschreibt den Nachweis der gewünschten Funktion durch Analysen, Simulationen und Laborexperimente [56, S. 10–11]. Weiterführende Studien können auch einen Reifegrad TRL 4 zum Ziel haben. Dieser Reifegrad beinhaltet die Integration und den anschließenden Test der entwickelten Technologie im Laborumfeld [56, S. 10–11]. Weiterhin sollten akademische Untersuchungen einen Ausblick über bestehende Herausforderungen geben, die in möglichen nachfolgenden akademischen Studien oder industriellen Entwicklungsprozessen zu untersuchen sind.
Zum Erreichen des Reifegrads TRL 3 im Rahmen akademischer Studien ist ein Entwicklungsansatz zu wählen, der den einzelnen Entwicklungsphasen geeignete Verifikations- bzw. Testmethoden, beispielsweise nach ARP 4761 [57], zuordnet. Somit werden sicherheitskritische Aspekte von Beginn an im Entwicklungsprozess beachtet und behandelt, wovon die Entwicklung im späteren Verlauf profitiert. Ein auf dem V-Modell basierender Entwicklungsansatz mit verschiedenen Methoden der Sicherheits- und Zuverlässigkeitsanalyse wurde beispielsweise von Grasselt [54], [58], [59] bei der Untersuchung von Aktorsystemen im Bereich der Triebwerksgondel erfolgreich angewendet. Zusätzlich sollte der Entwicklungsprozess durch den Bau von Demonstratoren zum Nachweis der gewünschten Funktion ergänzt werden.

1.2 Ziel und Aufbau der Arbeit

Die vorliegende Arbeit umfasst die Ergebnisse einer fünfjährigen akademischen Studie, die zum Ziel hatte, ein Konzept für variable Pitot-Einlässe bis zu einem Technologie-Reifegrad TRL 3 zu erforschen. Der Schwerpunkt lag dabei auf der Erarbeitung und konstruktiven Gestaltung eines umsetzbaren Konzepts, welches das Potenzial hat, die industriellen Standards für Sicherheit und Zuverlässigkeit zu erfüllen. Da die Gestalt möglicher Konzepte vorrangig von den idealen Einlassgeometrien für die jeweiligen Flugzustände abhängt, wurden zudem mögliche Geometrien aerodynamisch untersucht und näherungsweise bestimmt. Basierend auf diesen Untersuchungen konnte das grundlegende Einsparpotenzial variabler Pitot-Einlässe ermittelt werden. Dabei übersteigt das Einsparpotenzial im Überschallbereich das Potenzial von Unterschallanwendungen deutlich, weshalb im weiteren Verlauf ein Konzept für den kommerziellen Überschallbetrieb bis Mach 1,6 erarbeitet wurde. Für kommerzielle Überschallflugzeuge mit einer maximalen Reisefluggeschwindigkeit von Mach 1,6 wurde dabei ein Reichweitengewinn von etwa 20 % im Vergleich zu starren Einlässen identifiziert. Somit könnten variable Pitot-Einlässe eine Schlüsseltechnologie bei der Wiedereinführung des kommerziellen Überschallflugs darstellen.
Nachdem die Motivation für die Entwicklung variabler Einlässe bereits in Abschnitt 1.1 dargelegt wurde, wird nachfolgend detailliert auf den Triebwerkseinlass eingegangen, vgl. Kapitel 2. Anschließend wird ein Überblick über den Bereich der Konstruktionsmethodik und den in dieser Arbeit verwendeten Ansatz zur Erarbeitung eines sichereren und zuverlässigen Konzepts gegeben, vgl. Kapitel 3. Die Anwendung dieses fünfphasigen Prozesses wird in Kapitel 4 beschrieben. Die erste Phase beinhaltet die Anforderungsanalyse, vgl. Abschnitt 4.​1. Diese Phase umfasst neben der Identifikation und Wichtung allgemeiner, aerodynamischer und struktureller Anforderungen an variable Einlässe auch eine Analyse der behördlichen Anforderungen, die für eine spätere Musterzulassung erforderlich sind. In der anschließenden Phase der Funktionsanalyse werden die erforderlichen Funktionsstrukturen auf verschiedenen Detailebenen, mögliche Lösungsprinzipe zum Erfüllen dieser Funktionen und potenziell entstehende Gefährdungen beim Ausfall einer Funktion identifiziert, vgl. Abschnitt 4.​2. Während der nachfolgenden Konzeptphase werden mögliche Konzepte erstellt, vorausgewählt und für die weitere Untersuchung zu Konzeptgruppen zusammengefasst, vgl. Abschnitt 4.​3. Dabei wird basierend auf der grundlegenden Systemarchitektur eine vorläufige System-Sicherheits-Analyse durchgeführt. In der darauffolgenden Phase findet ein Vorentwurf der Konzeptgruppen statt, vgl. Abschnitt 4.​4. Diese Phase beinhaltet weitere Sicherheitsanalysen zur Identifikation von Fehlern gemeinsamer Ursachen, sowie Integrationsstudien und die Identifikation der idealen Geometrien, die von einem variablen Einlasssystem umzusetzen sind. Dadurch wird ermöglicht, die Konzeptgruppe auszuwählen, die am besten geeignet ist. Aus dieser Konzeptgruppe wird basierend auf den zuvor gewonnenen Erkenntnissen das umzusetzende Konzept hergeleitet, vgl. Abschnitt 4.​5. Dieses wird dimensioniert, modelliert und seine Funktionalität durch Demonstratoren nachgewiesen. Dadurch kann das Potenzial des Konzepts beurteilt werden, vgl. Abschnitt 4.​6. Im abschließenden Kapitel 5 werden die gesammelten Forschungserkenntnisse zusammengefasst und ein Ausblick auf mögliche weitere Forschungs- und Entwicklungsschwerpunkte gegeben.
Die durchgeführten Arbeiten geben einen Nachweis über die Umsetzbarkeit variabler Pitot-Einlässe und erlauben eine Abschätzung des Potenzials dieser Technologie. Somit sind die Grundlagen für weiterführende Studien und die mögliche Anwendung dieser Technologie geschaffen. Dadurch kann die Effizienz und Reichweite bei einer möglichen Indienststellung eines der Konzepte der genannten Überschallprojekte signifikant gesteigert werden. Somit könnten variable Pitot-Einlässe den ökologischen Einfluss zukünftiger Überschallflugzeuge deutlich verringern und deren gesellschaftliche Akzeptanz erhöhen.
Open Access Dieses Kapitel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Kapitel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
download
DOWNLOAD
print
DRUCKEN
Metadaten
Titel
Einleitung
verfasst von
Stefan Kazula
Copyright-Jahr
2022
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-35456-5_1

    Premium Partner