Eigentlich sollte die Einigung von Volkswagen mit den US-Behörden einen vorläufigen Schlussstrich unter die Abgasaffäre ziehen. Doch nur einen Tag nach Verkündung des für die Wolfsburger so wichtigen Deals fachte der Abschlussbericht der vom Bundesverkehrsministeriums eingesetzten "Untersuchungskommission Volkswagen" die Debatte erneut an. Bei insgesamt 56 Messungen an 53 Modellen stellte das Kraftfahrtbundesamt (KBA) demnach fest, was zwischenzeitlich als Allgemeingut bezeichnet werden darf: Es existiert eine große Bandbreite bezüglich der in den Labor- und Straßenmessungen festgestellten NOx-Emissionswerte.
Zwar bestätigt das KBA, dass kein weiteres Fahrzeug eine Prüfzykluserkennung verwendet, wie VW sie eingesetzt hat. Allerdings wurden technische Verfahren festgestellt, mit denen Hersteller die Wirksamkeit ihres Emissionskontrollsystems an Fahr-, beziehungsweise Umweltbedingungen anpassen. Das betrifft das so genannte Thermofenster, innerhalb dessen die Hersteller die Abgasreinigung zurückfahren oder ganz abschalten. Das ist rechtlich zulässig, wenn die technisch Einrichtung notwendig ist. Bei einigen der untersuchten Fahrzeugtypen bestanden in der Untersuchungskommission jedoch Zweifel, ob die gewählten Thermofenster in vollem Umfang gerechtfertigt sind. Die Untersuchungskommission hat die betreffenden Hersteller deshalb aufgefordert, Maßnahmen zu ergreifen, um das Thermofenster auf das tatsächlich notwendige Maß zu beschränken. Im Rahmen einer Rückrufaktion sollen nun deutschlandweit 630.000 Fahrzeuge daraufhin überprüft werden.
Selbst Publikumsmedien fühlen sich zwischenzeitlich berufen, als Aufklärer zu fungieren. So berichtete das ZDF-Magazin Frontal 21 Anfang April über ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages, wonach der Gesetzgeber im Interesse des Umwelt- und Gesundheitsschutzes ein "striktes, weitreichendes Verbot von Abschalteinrichtungen" festgeschrieben habe.
"Das Gutachten zeigt deutlich, dass die Rechtfertigung von BMW und Daimler nicht stichhaltig ist", zitiert das Fernsehmagazin Oliver Krischer, stellvertretender Fraktionschef von Bündnis90/Die Grünen im Bundestag. Auf seiner eigenen Homepage geht der Politiker sogar noch weiter. Er schreibt wörtlich : "Das Ausmaß der Betrügerei und die Ursachen der massiven Grenzwertüberschreitungen im realen Fahrbetrieb werden bis heute unter Mithilfe der Bundesregierung verdeckt. Das ist der Skandal im Skandal."
Was ist legal und was nicht?
Daimler und BMW hatten in der Vergangenheit mehrfach bestritten, illegale Abschalteinrichtungen zu verwenden. Hohe Abgaswerte begründeten sie unter anderem damit, dass der Motor bei niedrigen Außentemperaturen geschützt werden müsse. Motorschutz sei ein Ausnahmetatbestand bei Abschalteinrichtungen. Doch dazu stelle das Gutachten laut Frontal 21 klar: Die Ausnahmeregelung sei "eng auszulegen". Die Abschalteinrichtung dürfe nur ausnahmsweise eingesetzt werden. Selbst Minustemperaturen rechtfertigten kein Eingreifen einer Abschalteinrichtung.
Interessant in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass Abschalteinrichtungen im Kapitel Abgasemissionen aus dem Handbuch Verbrennungsmotoren nur in Form von temporären Schubabschaltungen zur Reduzierung der Katalysatoralterung Erwähnung finden. Das Wort Motorschutz kommt in dem Kapitel ebenso wenig vor wie im Kapitel Verbrennungsverfahren. Auch im Kapitel Abgas-Messtechnik aus dem Fachbuch Dieselmotor-Management im Überblick ist weder das Wort Abschaltung, noch das Wort Motorschutz enthalten. Beide Bücher unterscheiden jedoch zwischen Messtechniken für die Motorenentwicklung und Messtechniken für die Typzulassung.
Haarspalterische Auslegung von Verordnungstexten
Vor diesem Hintergrund ist es schwierig, einzelne Aussagen auf ihre Sinnhaftigkeit zu überprüfen und einzuordnen. Eine geraffte Übersicht über die einzelnen Diskussionspositionen und die teils haarspalterischen Auslegungen von Verordnungsformulierungen gibt der International Council on Clean Transportation (ICCT). Darin fordern die Autoren redaktionelle Klarstellungen in den Verordnungstexten, damit Fahrzeuge künftig Emissionsrichtlinien nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis einhalten.
Eine Chronologie der Ereignisse seit der Aufdeckung des Abgasskandals in den USA am 18. September 2015 hat auch die Redaktion von ATZ/MTZ erarbeitet. In der MTZ 3-2016 berichten Christiane Brünglinghaus und Angelina Hofacker unter dem Titel Der Ärger mit den Abgasen über die aktuelle Revision und Neufassung der Testprozedere. In diesem Kontext mahnen die Autorinnen: "Entscheidend sind dabei auch realistische Emissionsziele, die von Industrie, Politik und Kunden gemeinsam getragen werden. Damit könnten letztendlich auch die Hersteller ehrlich nachweisen, dass ihre Fahrzeuge nicht nur theoretisch, sondern auch in der Realität so sauber wie möglich sind."