Die Industrie muss ihren CO2-Austoß reduzieren. Ein Puzzlestein bei diesen Bestrebungen ist die Materialsubstitution – fossile Rohstoffe sollen durch biobasierte Materialien ersetzt werden. Was ist heute schon möglich?
BMW i Ventures investiert in Natural Fiber Welding, dem Hersteller rein natürlicher und vollständig recycelbarer Materialien.
Natural Fiber Welding (NFW)
Das Thema Materialsubstitution stellt für die Industrie keinen neuen Sachverhalt dar. Seit Jahren arbeiten beispielsweise die Automobilhersteller schon daran, durch den Austausch von Materialen Ressourcen und Gewicht in Fahrzeugen einzusparen. Auch der Maschinenbau profitiert von derartigen Entwicklungen, setzt auf Ressourceneffizienz bei gleichbleibender Qualität, Sicherheit und Leistungskraft.
Doch sind Gewichtsreduzierungen und Ressourceneinsparungen nicht mehr die einzigen Gründe für die Substitution von Materialen. Vielmehr ist der gesamte Lebenszyklus von Produkten mitsamt den in ihnen verbauten Materialen zu betrachten, wie ein aktuelles Beispiel zeigt. Die von der BMW Group aufgebaute und mit einem Fonds ausgestattete Ventures-Einheit BMW i Ventures gab Mitte Juli 2021 eine Beteiligung an dem Start-up Natural Fiber Welding, Inc. (NFW) bekannt, einem Unternehmen, das sich auf die die Entwicklung von rein natürlichen und plastikfreien Alternativen zu Materialien wie Leder, Schäumen und Stoffen spezialisiert hat. So fertigt NFW zum Beispiel eine langlebige und vollständig recycelbare Lederalternative an, die vergleichbare Eigenschaften wie gegerbtes Leder hat. Die Beteiligung passe zur Nachhaltigkeitsstrategie des Automobilherstellers, heißt es in einer dazugehörigen Meldung. Dessen Ziel sei es, die CO2-Emissionen entlang der gesamten Wertschöpfungskette deutlich zu reduzieren – insbesondere auch mit Materialien, die einen geringeren CO2-Fußabdruck im Vergleich zu bisher genutzten Materialien hätten, dabei aber dieselbe hohe Funktionalität, Ästhetik sowie Premiumqualität bieten würden. Und darüber hinaus recycelbar seien.
Kaffeebohnen und Scheinwerfer
Die Autoren des im Springer-Fachbuch "Klima" enthaltenen Kapitels "Wie Industrieproduktion nachhaltig gestaltet werden kann" zeigen anhand einer Grafik, dass eine nachhaltige Industrieproduktion auf drei Säulen fußt: den Erneuerbaren Energien, der Effizienz sowie der Kreislaufwirtschaft und Rohstoffsubstitution. Zu letzterer gehören das stoffliche Recycling, die Wiederverwendung, Carbon Capturing, also der Speicherung von CO2, sowie die Materialsubstitution. Sie schreiben zudem: "Ein weiterer Weg zu nachhaltigeren Produktionsverfahren und Produkten ist die Materialsubstitution fossiler Rohstoffe durch biobasierte. So können Chemikalien, Kunst- und Brennstoffe unter Nutzung nachwachsender Rohstoffe auch biotechnologisch in Bioraffnerien hergestellt werden."
Dass es bei der Suche nach nachhaltigen Materiallösungen durchaus zu Kooperationen von Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen kommen kann, zeigt die 2019 beschlossene Zusammenarbeit von Ford und McDonald’s in den USA. Laut der Zielsetzung sollen Bestandteile von Kaffeebohnen in Bauteilen wie etwa Scheinwerfergehäusen verwendet werden. Durch starke Erwärmung der Kaffeebohnenschalen bei niedrigem Sauerstoffgehalt lasse sich das Material mit Kunststoff und anderen Additiven vermischen und in Pellets umwandeln, heißt es. Diese könnten dann in verschiedene Formen gebracht werden. Das Verbundmaterial erfülle die Qualitätsanforderungen für Teile wie Scheinwerfergehäuse und zahlreiche weitere Komponenten – und ermögliche außerdem eine Gewichtseinsparung von bis zu 20 Prozent, für den Formprozess würden rund 25 Prozent weniger Energie benötigt. Auch die Wärmeeigenschaften des neuen Werkstoffs sind laut Ford deutlich besser als bei anderen bis dahin verwendeten Materialien.
Die Entwicklung natürlicher Polymere
Im Artikel im Artikel "Nachwachsender Rohstoff aus Reishülsen für die Herstellung von Interieurteilen" der ATZ-Ausgabe 4/2021 beschreiben die Autoren den Einsatz neuer Materialien bei Seat. Dort arbeitet man an einem Ersatz für die im Auto noch mehrheitlich aus Erdöl hergestellten Kunststoffbauteile durch das Biomaterial Oryzite. So heißt es in dem Text: "Oryzite ist ein solches Material, das helfen kann, nachhaltige, CO2-neutrale Produkte herzustellen. Darüber hinaus ist die Entwicklung dieses Werkstoffs ein Beleg dafür, dass Nachhaltigkeit bei gleichzeitiger wirtschaftlicher Effizienz durchaus möglich ist." Oryzite wird aus Reishülsen hergestellt. Eigentlich ist es ein Nebenprodukt, das meist verbrannt wird. Fügt man den Reishülsen jedoch Enzyme hinzu, die ebenfalls aus der Reispflanze stammen, entsteht ein natürliches Polymer, für dessen Herstellungsprozess 0,0625 kWh Energie pro Kilogramm erzeugtem Oryzite benötigt wird. Zum Vergleich: Für die Produktion von Polypropylen werden zwischen 0,25 und 0,36 kWh pro Kilogramm gebraucht.
Die Industrie tut sich bei der Substitution schwer
Die Möglichkeiten des Einsatzes von Hanfpflanzen beschreiben die Autoren des Kapitels "Gewinnung von Energie- und Industrierohstoffen aus Pflanzen" im Springer-Fachbuch "Energie- und Produktionswende im ländlichen Raum": "Das aus den Samenkörnern gewonnene Öl ist wegen seiner hohen Anteile an ungesättigten Fettsäuren nicht nur ein wertvolles Speiseöl, sondern eignet sich auch zur Synthese nativer Epoxide. Die bei der Ölpressung als Beiprodukt mit anfallenden eiweißhaltigen Presskuchen können an die Tiere verfüttert werden. Die Blüten enthalten Cannabinoide, die als Schmerzlinderungsmittel in der Pharmazie Verwendung finden. Die Blätter werden zur Teezubereitung verwendet. Aus den Stängeln lassen sich ein Mal die Fasern für schwer entzündbare Dämmmaterialien sowie textile Gewebe oder Seile gewinnen, zum Anderen die kohlenhydrathaltigen Schäben. Letztere eignen sich als native Füllstoffe für polymere Gießharze." So wird auch der Themenkomplex Biopolymere in dem Kapitel ausführlich besprochen, Verwendung finden diese unter anderem in Isolierschaum, Verpackungsmaterialien oder in Leichtbauteilen von Automobilen. Auch Alexander Böker befasst sich im Kapitel "Biopolymere – Funktionsträger in der Materialforschung" des Springer-Fachbuchs "Biologische Transformation" mit der Thematik.
So lobenswert die Beispiele auch sind, die Umstellung auf nachhaltige Rohstoffe und Zwischenprodukte stellt für die Automobilindustrie eine große Herausforderung dar. Zu diesem Ergebnis kommt der im Juli 2021 veröffentlichte "Sustainability Survey – Automotive" des Beratungsunternehmens Deloitte. In Rahmen der Datenerhebung für die Studie gaben rund 30 Prozent der befragten Automobilmanager an, dass eine nicht nachhaltige Produktion und nicht nachhaltige Materialien schwer anzupassen beziehungsweise zu ersetzen seien. Gleichwohl gaben 93 Prozent an, dass das Thema Nachhaltigkeit in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen habe – die ökologische Komponente eingeschlossen.