1 Bewegungsorganisationen – eine Neue Arbeitswelt mit Lernchancen
2 Hintergründe der wachsenden Bedeutung sozialer Bewegungsorganisationen
2.1 Arbeit außerhalb der Arbeitswelt wird zunehmend zur Lebensrealität
2.2 Die zunehmende Bedeutung sozialer Bewegungen und ihrer Organisationen
2.3 Die Hierarchie- und Legitimationskrise herkömmlicher Organisationen
3 Die Organisation(en) des Protests in Spanien2
3.1 Die Bewegung der „Empörten“
3.2 Heterogene Organisationen mit ähnlichen Kernelementen
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Selbststeuerung und EgalitätDamit einher geht eine Ablehnung von Funktionsautorität, Hierarchie und jeglicher Form der Dominanz zugunsten von horizontalen Strukturen. In fast allen Interviews wird der Begriff der „Selbststeuerung“ als zentrales Moment der Identität genannt, oft noch vor den inhaltlichen Zielen. Egalität wird als Voraussetzung von Selbststeuerung bezeichnet – ohne diese wäre Selbststeuerung ein legitimatorischer, hohler Begriff. Selbststeuerung und egalitäre Strukturen werden als Ziel an sich gesehen, sowie als notwendige organisationale Voraussetzung für das Erreichen gesellschaftlicher Veränderung.In Bezug auf den Anspruch der Vermeidung von Hierarchie gibt es viel an Diskussion sowie die Entwicklung von Praktiken und Prozessen zur Vermeidung informeller Hierarchien. Mit diesen soll Leadership auf unterschiedliche, wechselnde Personen verteilt und notwendige Führung gesichert werden: „just because an organization is leaderless, it does not necessarily mean that it is also leadershipless“ (Sutherland et al. 2013, 759).
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Offenheit und damit Partizipation möglichst vieler PersonenDie Mitgliedschaft ist oft lose und realisiert sich v. a. über gemeinsame Aktivitäten. Während klassische Organisationen über Mitgliedschaftsbedingungen definiert werden können, ist hier ein Kontinuum an Verbindlichkeit feststellbar. Mitgliedschaft und damit gewisse Entscheidungsbefugnisse gründen in den aus der Bewegung hervor gegangenen Parteien auf einer reinen Registrierung auf entsprechenden Internetplattformen, bei Mareas und auch manchen Asambleas sind sie durch bloße Anwesenheit gegeben und bei fokussierteren Initiativen gibt es klare, wenn auch sehr offen gehaltene Bedingungen.Mit weiterer Differenzierung im Lebenszyklus einzelner Organisationen wird die Frage der Offenheit voraussetzungsvoll und es stellt sich die Gefahr von Unterwanderung wie auch die Notwendigkeit der inhaltlichen wie auch technischen Weiterentwicklung von partizipativen Entscheidungsstrukturen. Dies hat v. a. die neuen Parteien befasst, deren Mitgliederzahl zu groß ist, um persönliche Beziehungen und Vertrauen als Basis von Strukturen gelten zu lassen.
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Dezentralisierung und segmentäre, netzwerkförmige OrganisationenDiese netzwerkförmigen Organisationen bestehen oft aus unterschiedlichen Gruppen, die polyzentrisch verbunden sind, also oft kein klares Steuerungszentrum haben. Sie entsprechen am ehesten dem System überlappender Gruppen (Likert 1967), welche über Doppelmitgliedschaften einzelner Personen verbunden sind. Zusammen gehalten werden sie zudem über Verfassungen, die zentrale Inhalte wie auch prozedurale Vorgangsweisen außer Streit stellen.
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Fluide und experimentelle OrganisationDie Organisation ist verhandelbar, kann jederzeit verändert werden, sie wird explizit nicht nur als Mittel zum Zweck gesehen, sondern als präfigurative Verkörperung der angestrebten Welt. Aus diesem Grund wird der hohe prozedurale Aufwand in der Regel akzeptiert. Es geht eben nicht nur um ein möglichst effizientes Erreichen eines außerhalb liegenden Ziels, sondern um dessen Realisierung – der organisationale „Weg“ selbst ist in den Augen der Akteure legitimes und sinnvolles Ziel.
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Geteilte Werte als zentrales Element der IdentitätGrundlage der vorangegangenen Aspekte sind Selbstbeschreibungen anhand geteilter Werte. Die Bewegung will sich zwar keiner politischen Richtung zuordnen, sie präsentiert sich als heterogen und inklusiv, vertritt aber Werte, die eher als „links“ gelten, wie Umverteilung, einen starken Sozialstaat oder Regulierungen des Finanzsystems. Die Wut auf eine korrupte politische und wirtschaftliche Elite, die sogenannte „Kaste“, sowie fundamentale Kritik kapitalistischen Systems sind inhaltliche Basis der geteilten Werte. Der Slogan „Es ist keine Krise, es ist Kapitalismus“ bringt dies auf den Punkt und führt zur Entwicklung von inhaltlichen „counter narratives“ (Pianta 2013, 156).Mindestens so wichtig, wie die konkreten Inhalte dieser Werte ist ihre hohe und von keinem Akteur in Frage gestellte Bedeutung dieser Werte als wesentliches Moment der Identität in Selbstbeschreibungen. Wertorientierung wird nicht als wünschenswerte Rahmenbedingung organisationaler Zielerreichung gesehen, sondern als fundamentaler Teil derselben. Zudem ist die Form der Organisation selbst inhaltlich wertorientierter Aspekt der Ideologie: „Those new forms of organization are its ideology.“ (Graeber 2002, 70).
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Eine neue Balance des Widerspruchs von Person und OrganisationDen Werten entsprechend wird auch eine hohe Bedeutung der einzelnen Person, sozusagen des Menschen als Menschen statt als Funktionsträger, angestrebt. Einzelnen Personen und ihren Befindlichkeiten und Bedürfnissen wird ebenso Raum gegeben, wie auch der Austragung von persönlichen Konflikten.In diesem Sinn ist die Bedeutung von Personen höher als in konventionellen Organisationen.Sie ist gleichzeitig auch geringer, da sie nicht an Funktionsautorität, sondern unmittelbarer an die Passung der Fähigkeiten an die jewiligen Erfordernisse der Situation gebunden ist.
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Klare Regeln von Entscheidungsstrukturen und der Kommunikation:In Selbstbeschreibungen heißt es gerne, die einzige Regel sei jene, dass es in diesen, sich oft als anarchistisch verstehenden Organisationen, keine Regel gäbe (Graeber 2011, 135). Sowohl theoretisch wie auch praktisch wird aber viel in die Entwicklung und Einhaltung von Entscheidungs- und Kommunikationsregeln investiert. Diese sind verhandelbar und bedürfen der Akzeptanz, werden aber zumeist strikt eingehalten. Beispiele sind etwa ein Reißverschlusssystem zwischen Männern und Frauen für Redebeiträge in Gruppen oder die Regel „Kein Vorschlag ohne triftigen Grund“. Diese ist notwendig, da der Konsensprozess nur kombiniert mit dem Prinzip radikaler Dezentralisierung funktioniert: Entscheidungen sollten daher in möglichst kleinen Gruppen getroffen und nur in größere Gremien gebracht werden, wenn dies unabdingbar ist.
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KonfliktbereitschaftWährend im Gegensatz zu Bewegungskulturen der 60er-Jahre in den letzten Jahrzehnten oft auf Harmonie und Konfliktvermeidung gesetzt wurde, was nicht nur als dysfunktional sondern auch z. T. als repressiv empfunden wurde, wird nun die Sinnhaftigkeit von Konflikten betont und auch die Grenzen von Inklusion diskutiert.
4 Lernchancen für konventionelle Organisationen?
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Aufmerksamkeit und Kreativität in Bezug auf KommunikationsstrukturenEs wird in den SMO viel in die Entwicklung adäquater Kommunikationsstrukturen investiert und dies lohnt bekanntlich: „Ob die Intelligenz eines sozialen Systems größer oder kleiner ist als die seiner Mitglieder, hängt davon ab, wie Kommunikation organisiert ist.“ (Simon 2004, S. 12) Die enge Kopplung der Akteure mit relativer Offenheit von Aktionen wird ebenfalls oft als Erfolgsfaktor beschrieben (ebd., S. 111).
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Zelte statt Paläste – Mut zu flexiblen Strukturen und einem gewissen Maß an UnklarheitAngesichts unsicherer, komplexer und sich verändernder Umwelten braucht es u. U. mehr an struktureller Ambiguitätsoffenheit. In diese Richtung gehen Vorschläge, die Hedberg u. a. bereits 1976 auch für Wirtschaftsunternehmen gemacht haben (Hedberg et al. 1976). Statt „Palästen“, welche auf Spezialisierung, eindeutigen Zielen und klaren Autoritätsstrukturen, stabilen Verantwortlichkeiten, klaren Entscheidungskriterien und Routineprogrammen beruhen, welche v. a. in stabilen Umwelten erfolgreich sein können, sehen sie in eher veränderlichen Umwelten „Zelte“ als geeignete Organisationsform. „Residents of changing environments need a tent“ (ebd., S. 45). Diese betonen Flexibilität, Kreativität und Initiative mehr als Autorität und Klarheit. Sie verlangen weder Harmonie zwischen Aktivitäten einzelner Organisationsteile noch konsistentes Verhalten im Zeitablauf. Das Motto lautet: „Why behave more consistently than one’s world does?“ (Ebd., S. 45).
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Konsequente Orientierung an organisationalen Werten„Das Verhältnis von Organisation und Moral ist kein Liebesverhältnis.“ (Ortmann 2010, 72) Es kann aus strukturellen Gründen wohl auch keines sein. Werte und soziale Verantwortung spielen aber auch im Diskurs über die Wirtschaft eine zunehmende Rolle. Das „historisch einzigartige Moralisierungsniveau“ (Weber 2011), wird von Unternehmen zunehmend mit Aktivitäten unter dem Label Corporate Social Responsibility (CSR) beantwortet. Wenn CSR-Aktivitäten zu Marketingzwecken eher den Charakter einer Inszenierung haben, kann dies zwar dennoch einen Wandel der gesellschaftlichen Rollendefinition von Unternehmen anregen (Curbach 2009), greift aber in Bezug auf Committment und Motivation von MitarbeiterInnen sicher zu kurz. Die hohe Bedeutung gelebter organisationaler Werte wird in den beschriebenen SMO deutlich. In Wirtschaftsunternehmen gibt es hier noch viel Luft nach oben.