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2022 | Book

Architektur, Atmosphäre, Wahrnehmung

Die römische Villa als Chance für das Bauen heute

Editors: Dr. Martin Düchs, Prof. Dr. Andreas Grüner, Prof. Dr. Christian Illies, Prof. Dr. Sabine Vogt

Publisher: Springer Fachmedien Wiesbaden

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About this book

„Nach Rom Architekturstudenten zu schicken heißt, sie für ihr ganzes Leben zu ruinieren.“ (Le Corbusier 1922). Im Sinne dieses Verdikts hat sich die Architekturmoderne radikal von der klassizistischen Tradition abgewandt, in der die antike Baukunst als Schulung, Folie und Muster galt, indem man ihre Formen, Strukturen und Proportionen formalästhetisch analysierte und nachahmte. Doch gab es bereits in der Antike ein anderes Konzept von Architekturverständnis: das sinnliche Erleben von Raumsequenzen und die Gestaltung von Atmosphären. Vorgeführt wird uns ein solches Verständnis in Bauten wie der Villa Hadriana aber auch in den „Villenbriefen“ des römischen Senators Plinius d. J. (um 100 n. Chr.). Von Architekten wurden Letztere lebhaft diskutiert, bis die Moderne jede Beschäftigung mit der Antike „untersagte“.Der Band „Architektur, Atmosphäre, Wahrnehmung“ versammelt nun zehn Beiträge, die wieder alle –mehr oder weniger intensiv – als Ausgangsbasis die Villenbriefe nutzen, allerdings nicht, um mit ihnen einen formalästhetischen Zugriff auf die Antike wiederzubeleben, sondern, weil der von Plinius vorgeführte und in der Forschung bis dato vernachlässigte Blick auf die römische Villa unter dem Aspekt einer sequentiellen Sinnlichkeit eine „Chance für das Bauen heute“ ist.Im Ergebnis kann man festhalten: Egal ob man Architekturstudenten nach Rom schickt oder nicht – in jedem Fall sollte man sie Plinius lesen lassen.

Table of Contents

Frontmatter

Die Villenbriefe des Plinius: Text und Kontext

Frontmatter
Lateinischer Text mit kommentierter deutscher Neuübersetzung
Zusammenfassung
In den zehn Büchern seiner „Briefe“ (Epistulae) erwähnt Plinius der Jüngere mehrfach das Landleben der römischen Oberschicht in ihren Villen. Vier dieser Briefe sind ausschließlich diesem Thema gewidmet: die beiden umfangreichen sogenannten Villenbriefe (Epist. 2,17 und 5,6) beschreiben in Form einer imaginierten Begehung zwei Landgüter mit ihren Villen und legen dabei besonderen Wert auf das Erleben und Empfinden von Architektur und die in ihr erfahrbaren sinnlichen Wahrnehmungen. In zwei weiteren sehr kurzen Briefe zieht Plinius unterschiedliche Villen zur Veranschaulichung des Landlebens und der dort gelebten Muße heran (Epist. 1,3 und 9,7). Diese vier Briefe werden hier im lateinischen Wortlaut und in einer deutschen Neuübersetzung vorgelegt, welche die syntaktischen und stilistischen Besonderheiten der lateinischen Sprache und insbesondere der Kunstprosa von Plinius erkennen lässt. Umfangreiche Fußnoten erläutern den weiteren Kontext, einzelne stilistische Besonderheiten sowie bauliche Gegebenheiten.
Sabine Vogt
Der Kontext: Plinius der Jüngere, senatorischer Villenbesitzer und gelehrter Literat und Ästhet in der frühen römischen Kaiserzeit
Zusammenfassung
In diesem einführenden Kapitel wird der historische, soziokulturelle und literarische Hintergrund der 'Villenbriefe' erläutert. Deren Bedeutung in Leben und Werk ihres Autors Plinius wird ebenso umrissen wie ihre Stellung innerhalb der Gattung der antiken Briefliteratur. Vor allem wird ein Überblick über die Villenkultur der römischen Kaiserzeit gegeben, der sowohl die architektonischen Befunde als auch die Zeugnisse über das Leben der römischen Oberschicht auf ihren Landgütern berücksichtigt. In diesem weiten Kontext wird Plinius' Konzept einer ästhetisch-intellektuellen Lebensweise und Selbstdarstellung in seinen Villen verständlich, wie er es in den 'Villenbriefen' zeichnet.
Sabine Vogt

Architektur im Text und Architektur des Textes

Frontmatter
Rhythmik der Perspektiven. Zur sprachlichen Raumarchitektur in den Villenbriefen des Plinius
Zusammenfassung
Inwieweit stellen die Villenbriefe des Plinius vornehmlich eine sensualistische Raumwahrnehmung in den Vordergrund? Dieser Frage geht der Beitrag aus sprachwissenschaftlicher Sicht nach. Auf der Basis einer Untersuchung der grammatischen und textuellen Perspektivenkonstellationen – und damit des Verhältnisses zwischen Betrachtendem und Betrachtetem – wird argumentiert, dass die Villenbriefe nicht dem zentralperspektivischen Blick eines Individuums folgen, sondern einem multiperspektivischen Prinzip: Die Betrachtungen werden nicht einem einheitlichen Sehepunkt untergeordnet, sondern sind durch ein Nebeneinander von unterschiedlichen Perspektiven geprägt, die sich nicht notwendigerweise einem kohärenten Ganzen unterordnen müssen. Im Fokus der Villenbriefe steht damit nicht eine individualistische Raumwahrnehmung, sondern die Villa selbst.
Sonja Zeman
Raumatmosphäre durch Sprachschöpfung. Zur Konstruktion architektonischer Atmosphären in den Villenbriefen des Plinius
Zusammenfassung
In den Villenbriefen ‚baut‘ Plinius sprachliche Konstrukte, die eine bestimmte atmosphärische Wirkung hervorrufen. Der Beitrag analysiert, welche Instrumente und Techniken der sprachlichen und stilistischen Textgestaltung Plinius dabei anwendet. Er stützt sich dabei auf zwei generelle Eigenarten von Sprachen und Sätzen: Die Auswahl der Worte bedingt eine semantische Selektion und damit eine Fokussierung auf bestimmte Aspekte und Konnotationen, und die lautliche Abfolge der Worte im Satz strukturiert zeitlich das Entstehen eines Vorstellungsbildes und seiner Eigenschaften und Konnotations-Potenziale vor dem inneren Auge der Leserschaft. Der Beitrag untersucht einige von Plinius verwendete sprachliche Mittel einer solchen Sprachschöpfung: Sequenzierung Rhythmisierung und Tempowechsel; die paradox anmutende Kontrastierung von Syntax und Semantik der Verben, die unbelebte Räume als Akteure menschlicher Handlungen inszeniert; die Selektion der sensualistischen Wahrnehmungen auf ein kleines und damit umso eingängigeres Repertoire an Sinneseindrücken. An einzelnen Passagen und in der Gesamtstruktur der beiden langen Villenbriefe Epist. 2,17 und 5,6 wird außerdem exemplarisch die Anwendung dieser Methoden konkret nachvollzogen, um deutlich zu machen, auf welche Weise Plinius durch Sprachschöpfung Raumatmosphären konstruiert.
Sabine Vogt

Ästhetische Konzepte

Frontmatter
Plinius’ Villenbriefe. Rekonstruktion und Wirkung
Zusammenfassung
Der Beitrag stellt vier konkrete Entwürfe bzw. Gebäude aus dem Zeitraum von 1838 bis 2007 vor und geht deren Verbindung zum Plinianischen Ideal der Villa nach. Karl Friedrich Schinkels Schloss Orianda kann dabei noch als freie Rekonstruktion gelten und wurde vom gebildeten Publikum seiner Zeit auch so verstanden. Über das Vorbild Schinkel und einige typische Architekturelemente scheint Plinius auch im 1911/12 von Peter Behrens errichteten Haus des Archäologen Theodor Wiegand durch. Für die dritte und vierte Villa, das 1956/57 von Walter Brune geplante Haus Horten sowie das 2007 von Alexander Brenner gebaute Haus am Oberen Berg, kann die Verbindung zu Plinius wohl nicht mehr direkt gezeigt werden. Aufgrund einiger Motive, die auch in den Villenbriefe auftauchen, vermeint man aber zumindest so etwas wie das Echo der Plinianischen Schilderungen auch in diesen Gebäuden zu vernehmen. Man kann die Villenbriefe so lesen als Plädoyer für eine autonome Architektur, die den Benutzer nicht braucht, um sich selbst zu erfüllen. Da die Villen den Menschen dennoch ein Habitat bieten und die Briefe auch heute noch nachzuvollziehen sind, kann man in ihnen gewissermaßen zeitlose Schilderungen idealer Villen erkennen.
Klaus Jan Philipp
Welche antike Gartentheorie? Das merkwürdige Verhältnis von Natur, Raum und Bedeutung in den Kunstlandschaften des jüngeren Plinius und der Villa Hadriana
Zusammenfassung
Der Beitrag legt den Fokus auf die Gartenarchitektur und verfolgt Entwicklungslinien bis ins 19. Jahrhundert. In antiken Gartenanlagen begegnen wir überraschenderweise einer Vielzahl an Gestaltungsformen, die in der Neuzeit teilweise wieder auftauchen. Anders als in den neuzeitlichen Anlagen lassen sich diese Einzelphänomene in der Antike aber nicht zu konsequenten narrativen oder naturphilosophischen Konzepten bündeln. Antike Gärten muss man sich als bunte Galerien von visuellen Eindrücken vorstellen, aus Modulen zusammengefügt, die einen Formen-, Stimmungs- und Motivkanon immer wieder spielerisch und assoziativ neuarrangierten. Diese Kunstlandschaften dienten daher durch kontrastive und intellektuelle Anordnung in erster Linie der abwechslungs- und geistreichen Unterhaltung (delectatio) der Nutzer. Vor allem aber entziehen sich diese Gartengalerien daher letztlich sprachtheoretischen oder narrativen Erklärungsmodellen. Das zeigt auch der Garten des Plinius, der echte und der literarische, der sich weder auf Atmosphärensequenzen noch auf Geschichten reduzieren lässt. Römische Gärten, wie sie sich uns in archäologischen Resten und literarischen Beschreibungen begegnen, waren (im Kant´schen Sinne) niemals schön, aber sie waren angenehm: schillernde Reservate der Anschauung und des Wohlgefallens.
Andreas Grüner
Plinius und Benjamin: Architektur und Lebensform. Ein Essay über ästhetische Reflexion
Zusammenfassung
Der Essay untersucht die architektonische Frage nach dem Zusammenhang zwischen Baukunst und Lebensform. Dabei liegt der Fokus auf den ästhetischen Reflexionen von Plinius der Jüngere und Walter Benjamin über private und öffentliche Räume. Dementsprechend werden als Beispiele die antike Villa und das Paris des 19. Jahrhunderts in einem dialektischen Bild betrachtet. In diesem Kontext zeigt sich die ästhetische Reflexion über Bauwerke als eine Analyse von architektonischen Atmosphären, die sich durch die Erkenntnisformen der sinnlichen Wahrnehmung, der geistigen Interpretation und der mimetischen Einfühlung vermitteln.Als Fazit ist eine Präferenz für die sinnliche Wahrnehmung und die kontemplative Erkenntnis bei Plinius festzuhalten, wohingegen Benjamin im Stereotypen des Flaneurs eine phantasmagorische Wahrnehmung feststellt und eine rauschhafte bzw. ekstatische Erkenntnisform postuliert.
Philipp Tschochohei

Architektur und Atmosphäre erleben

Frontmatter
Korrespondenzphilosophie und Architektur
Zusammenfassung
Um Atmosphären adäquat zu beschreiben schlägt das paper den Begriff der Korrespondenz vor. Ein Korrespondenzgeschehen wird verstanden als das Zusammenwirken verschiedener Beziehungspole psychischer und physischer Art, das Situationen, Milieus und Atmosphären aufbaut und durch diese ein sich fortzeugendes, stimulierendes Spiel zwischen Menschen, aber wohl auch zwischen Menschen und Tieren und Menschen und Dingen (Umgebungen) herstellen und in Gang halten kann, wobei das Spiel der Korrespondenzen stets erweitert oder verengt werden kann, sich aufschaukelt oder auch herabstimmen kann. Der so verstandene Begriff der Korrespondenz biete die Chance nicht nur den Zusammenhang zwischen Raumsituation und Gefühl, sondern auch alle anderen Geschehensbezüge, in die wir eingewoben sind neu darzustellen und zu interpretieren. Damit können die bis dato unzureichenden Begriffe, mit denen wir uns Atmosphären erschließen, durch bessere ersetzt und eine tiefere Wahrheit entdeckt werden, die im Sinne des Miteinander und Ineinander von Wissen, Fühlen, Denken, bzw. Ordnen und Vergleichen gesucht werden muss, also im Zusammensein und nicht im Sein. In diesem Sinne werden auch die Briefe des Plinius als Darstellung eines Korrespondenzgeschehens verstanden.
Reinhardt Knodt
Widerfahrniserfahrungen im Umgang mit Architektur und Landschaft. Eine erlebnishermeneutische Untersuchung
Zusammenfassung
Ich werde im Folgenden versuchen, der Frage nachzugehen, wie sinnliche (aisthetische und ästhetische) Begegnungen mit Architektur verstanden werden können und wie eine empirische Architekturtheorie von Erlebnissen mit Architektur und Gebautem überhaupt wissen kann. Dabei wird allerdings auch zu beachten sein, wie Vergegenwärtigungen (also z. B. von Erlebnissen, Atmosphären) zu bestimmten Darstellungen (z. B. als Erzählung, Brief) kommen bzw. sich überhaupt als bedeutsam (sprachlich) ausdrücken lassen. Anschließend soll danach gefragt werden, welche Anhaltspunkte in den Villenbriefen des Plinius uns Anlass geben könnten, bei ihm von räumlichen Erlebnissen zu sprechen.
Achim Hahn
„Ich wollt’, die Mutter käm’ nach Haus“ – Die narrative Struktur architektonischer Atmosphären und der sie begleitende Handlungsimpuls
Zusammenfassung
Wie heiter öffnet sich uns diese luftige Loggia mit ihrem Ausblick ins Weite! Wie anheimelnd vertraut ist die alte Küche mit den knarrenden Dielen. Wie beengt uns dieser düstere Hinterhof mit seinen dunklen Wänden.
Martin Düchs, Christian Illies
„Atmosphäre“ als Konzept einer metadisziplinären Ästhetik: Ihre Funktion und ihre Steuerung in der Gestaltung von Architektur und Raum
Zusammenfassung
Die Atmosphäre eines Ortes wahrnehmen – das ist ein Vorgang, der uns allen vertraut ist, auch wenn diese vage Gesamtheit  einer subjektiven Ortsempfindung schwer in Worte zu fassen ist. Häufig meinen wir damit eine ganzheitlich-intuitive, hauptsächlich vorbewusste sinnliche Wahrnehmung von Umfeldern, die sich zu deutlichen Empfindungen verdichten kann; Empfindungen, die bewusst reflektiert, kommuniziert und geteilt werden können. Ähnlich wie bei der ästhetischen Wahrnehmung und Bewertung, beim Verständnis der Welt im Allgemeinen und bei der Frage nach der Natur des Bewusstseins können wir auch bei „Atmosphären“ zunächst nicht wissen, welche unserer Deutungen tatsächlich objektiv zutreffen, welche wir aus unserer biografischen und soziokulturellen Verfasstheit heraus auf unser Umfeld projizieren und welche uns als biologisch verankerte Erkenntnismatrix auferlegt sind. Anhand einer berühmten antiken Architekturbeschreibung von Plinius d. J. und mithilfe eines psychologisch reflektierten, metadisziplinären ästhetischen Konzeptrahmens wird ein vertieftes Verständnis verschiedener Konnotationen von „Atmosphäre“ erarbeitet. Dabei werden übergreifende Erklärungsstrukturen und atmosphärische Steuerungsmöglichkeiten für eine gezielt wirksame Gestaltung von Environments vorgeschlagen.
Michael Heinrich
Der Prozess beansprucht Raum und Zeit. Transformation als Prinzip des architektonischen Entwerfens
Zusammenfassung
Der Beitrag schildert aus Sicht der praktisch tätigen Architektin einige Aspekte des architektonischen Entwerfens und der Vermittlung von entsprechenden Fähigkeiten in der Lehre. Die Villenbriefe des Plinius sind dabei für Architektinnen und Architekten interessant, gerade weil sie viele „Auslassungen“ enthalten, also Leerstellen, die Raum für eigene Interpretationen bieten. In den Briefen wird genau so viel benannt, ja versprochen, dass eine wahre Sehnsucht ausgelöst wird, diese idealen Orte des unbeschwerten Seins real werden zu lassen. Genau darin – in den verlockenden Lobpreisungen und den räumlichen Andeutungen und Auslassungen – liegen das Potenzial und der Anreiz für das Interesse, welches die Briefe, nicht nur, aber vor allem auch bei Architektinnen und Architekten bis heute auslösen. Jede Leerstelle ist aber auch ein Zwischenraum und dieser ist für die Architektur interessant und bietet die Gelegenheit für räumliche Interventionen. Die Villenbriefe des Plinius können so auch heute noch als Inspirationsquelle für die Praxis dienen.
Uta Graff
Backmatter
Metadata
Title
Architektur, Atmosphäre, Wahrnehmung
Editors
Dr. Martin Düchs
Prof. Dr. Andreas Grüner
Prof. Dr. Christian Illies
Prof. Dr. Sabine Vogt
Copyright Year
2022
Electronic ISBN
978-3-658-22321-2
Print ISBN
978-3-658-22320-5
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-22321-2