Published in:
29-06-2017 | Wissenschaftliche Beiträge
Audiometrische Vertäubungs-Studien zu angeblich drastischen Dämmwertverlusten von Gehörschutzmitteln bei verkürzter Tragedauer im Lärmbereich
Authors:
Univ.-Prof. (i. R.) Dr.-Ing. habil. Helmut Strasser, Dipl.-Wirt.-Ing. Oliver Müller, Dr.-Ing. Hartmut Irle
Published in:
Zeitschrift für Arbeitswissenschaft
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Issue 2/2017
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Zusammenfassung
In kontrollierten Studien im Labor galt es zu untersuchen, ob die in Normen (z. B. NIOSH 1998, AS/NZS 1269, DIN EN 458) prognostizierten drastischen Schutzverluste von Gehörschutzmitteln, die nur kurze Zeit nicht getragen werden, sich auch durch entsprechende Vertäubungen in realitätsnahen Lärmbelastungen belegen lassen. Zehn otologisch unauffällige Probanden wurden deshalb neben zwei Referenzbelastungen von 94 dB(A) über 1 h (VR 1) und 97 dB(A) über ½ h (VR 2) an zwei weiteren Tagen einer Lärmbelastung von 106 dB(A) über ½ h ausgesetzt. In diesen Versuchen trugen die Probanden bis auf 3¾ min Gehörschutz mit einem Dämmwert von 20 dB (VR 3) und 30 dB (VR 4). Damit war die daraus resultierende Schallbelastung (106 dB/3¾ min + 86 dB/26¼ min bzw. 106 dB/3¾ min + 76 dB/26¼ min) energetisch absolut gleich hoch wie in den Referenzbelastungen. Sie war auch identisch mit einem Tageslärm-Expositionspegel von 85 dB(A)/8 h, bei dem Gehörschutz 1 h lang nicht getragen wird. Bei Gültigkeit des Energie-Äquivalenz-Prinzips, das für die Prognosen der Schutzverluste in den Normen benutzt wird, müssten sich in allen 4 Versuchen zumindest annähernd gleich hohe Vertäubungen ergeben.
Die nach dem kurzzeitigen Nichttragen des höherwertigen Gehörschutzes (in VR 4) gemessene maximale Vertäubung TTS2 war jedoch mit nur 9,2 dB signifikant niedriger als nach den beiden Referenzbelastungen (18,6 dB und 11,6 dB in VR 1 und VR 2). Bei einer auch deutlich kürzeren Restitutionszeit (nur 28 min gegenüber 263 min und 58 min) belegen schließlich die aufsummierten Vertäubungen, dass das Gehör für die kurze Tragepause (mit nur 68 dBmin) erheblich weniger an physiologischen Kosten zu bezahlen hatte als für die energie-äquivalenten Referenzbelastungen (nämlich 913 dBmin und 169 dBmin). Die Ergebnisse stehen also nicht im Einklang mit, sondern im Widerspruch zu den prognostizierten drastischen Schutzverlusten. Der Gehörschutz mit einer Dämmwirkung von 30 dB, der nur kurze Zeit im Lärmbereich nicht getragen wurde, wird also zu Unrecht schlechter taxiert als er sich in der Praxis erweist.
Die Ergebnisse aus dem Versuch VR 3, in dem ein schwächerer Gehörschutz kurze Zeit nicht getragen wurde, sind – auch wenn sie sich in allen Parametern konsistent in die Ergebnisse der 3 übrigen Versuche einordnen lassen – statistisch nicht immer signifikant verschieden. Das liegt u. a. daran, dass der Dämmwert von 20 dB für eine akustische Belastung von 106 dB nicht ausreichend hoch war, und bei einem Restschallpegel von 86 dB (106 dB − 20 dB) Vertäubungen, die durch die 106 dB(A) über 3¾ min ausgelöst wurden, nicht abklingen können bzw. das Gehör durch die 86 dB über die Zeit von 26¼ min sogar noch vertäubt wird. Weitere Experimente, in denen bei 106 dB(A) über 1 h das mehrmalige kurzzeitige Nichttragen eines mit 30 dB passenden Gehörschutzes vermessen wurde, belegen ebenfalls eindrucksvoll, dass die einleitend erwähnten Prognosen falsch sind.
Praktische Relevanz: Persönliche Gehörschutzmittel, die z. B. eine Dämmwirkung von 30 dB besitzen, können einen gefährlichen Tages-Lärmexpositionspegel von z. B. 110 dB auf einen für das Gehör erträglichen Restschallpegel von 80 dB reduzieren. In den Versuchen, über die hier berichtet wird, wurde dadurch ein Pegel von 106 dB auf unbedenkliche 76 dB abgesenkt. Sie weisen jedoch nach den Prognosen von nationalen und internationalen Normen angeblich gravierende Schutzverluste auf, auch wenn sie nur kurze Zeit in einer 8‑h-Schicht nicht getragen werden. Eine Tragepause von nur 5 min schwäche die Wirkung bereits um mehr als 10 dB ab, und 1 h des Nichttragens führe angeblich zu einer Restschutzwirkung von gerade noch 9 dB. Bei Gehörschutzmitteln mit einer geringeren Dämmwirkung hielten sich die Schutzverluste dagegen eher in Grenzen. Die angeblichen Verluste sind übrigens unabhängig von der Höhe des Tages-Lärmexpositionspegels. Die prognostizierten drastischen Schutzverluste stützen sich einzig und allein auf mathematische Berechnungen und die Energie-Äquivalenz – ein Paradigma, das aus ergonomischer Sicht der Problematik keineswegs angemessen ist. Diese unreflektierte, geradezu „blinde“ Anwendung eines physikalischen Prinzips, das auf der Dosismaxime und dem Halbierungsparameter q = 3 basiert, kann absolut nicht im Sinne von Herstellern und Nutzern von wirklich guten Gehörschutzmitteln sein. Wenngleich persönlicher Gehörschutz z. B. nach VDI 2560 mehr verspricht als er halten kann, sollte die real vorhandene Schutzwirkung nicht „schlecht geredet“ werden. Nach mehreren experimentellen Vertäubungs-Studien, in denen verkürzte Tragezeiten in ihrer tatsächlichen Wirkung auf das Gehör untersucht wurden, müssen die Prognosen als falsch bezeichnet werden. „Normen-Gläubige“ erliegen gleichsam den „Tücken“ des Energie-Äquivalenz-Prinzips, das häufig zu Fehlurteilen führt.