Seit dem Call for Papers für diesen Sammelband im Dezember 2018 sind fast drei Jahre vergangen. Für die Erstellung eines Sammelbandes ist dies kein unüblicher Bearbeitungszeitraum, da dieser – um in der EC zu bleiben – in seiner Entwicklung eine Pluralität von Situationen mit wechselnden Konventionen benötigt: Momente der Inspiration, des sich Zurückziehens und auf den Geniestreich Hoffens wechseln sich ab mit standardisierten Prozessen des Korrekturlesens und der Überprüfung von wissenschaftlichen Standards. Aber nicht nur die industrielle Konvention, sondern auch die häusliche Konvention ist von Nöten, wenn die Herausgeberinnen im Vertrauen darauf hoffen, dass die AutorInnen ihre Beiträge in dem mündlich vereinbarten Zeitfenster liefern und theoretisch sowie handwerklich solide Arbeiten abliefern.
In den letzten Monaten der Überarbeitung und Endredaktion der Beiträge hat sich nun jedoch die Situation, die dieser Sammelband beleuchten möchte – Gesundheit, Konventionen und Digitalisierung – überraschend geändert. Seit Dezember 2019 grassiert in China das Coronavirus SARS-CoV-2 (Covid-19), das sich in wenigen Monaten über den gesamten Globus als Pandemie ausgeweitet hat. Dies hat nun zu einer sogenannten „neuen Realität“ geführt, in der Unsicherheit, Gefahr, Schutz und Risiko neu verhandelt werden und soziale Praktiken wie „social (physical) distancing“ bzw. korrekter „distant socialising“ (Dangschat
2020), Quarantäne, Lockdown, Maskenpflicht, etc. den Alltag bestimmen. Wir haben dies zum Anlass genommen sowohl die Beiträge der AutorInnen als auch die zentralen Linien des Sammelbands (Gesundheit, Konventionen und Digitalisierung) vor dieser neuen Situation zu reflektieren. Dazu haben wir in diesem ursprünglich nicht geplanten Abschlusskapitel (1) die AutorInnen gefragt, welche Interpretationen und Reflektionen sich aus ihrem jeweiligen Beitrag zu Covid-19 ableiten lassen und (2) aufgezeigt, welche spezifische Perspektive die EC auf die Covid-19-Pandemie ermöglicht.
1 Wie ganz zu Beginn in der Einleitung des Bandes, wollen wir auch hier in diesem Abschlusskapitel mit einer gedanklichen Einordnung der Reflektionen in die Bereiche „Gesundheit“, „Digitalisierung“ und „Konventionen“ schließen. In diesen Feldern greifen wir schließlich genau solche Aspekte heraus, die vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie wie vor einem Brennglas erscheinen. Mit den direkten Statements der AutorInnen zu der Corona-Pandemie vor dem Hintergrund ihrer Beiträge wollen und können wir aber auch aufzeigen, dass diese Aspekte bereits länger beforscht und mit der EC auch hinsichtlich neuerer Entwicklungen gut reflektiert werden können.
14.1 Gesundheit unter Covid-19
Gesundheit wird aus Sicht einer Risikosoziologie (Beck
1986,
2007; Luhmann
2003; Foucault
2004; Reckwitz,
2017;
2020) nicht mehr als ein durch Krankheit von außen gefährdeter Zustand gesehen, dem Akteure mehr oder weniger schutzlos ausgeliefert sind, sondern sie riskieren bzw. schützen diese auch, indem sie gestaltend auf Situationen einwirken. Somit geht auch die Risikosoziologie von kompetenten Akteuren aus, da die Gefahr ab dem Moment ein kalkulierbares Risiko wird, ab dem sie gestaltbar und somit (zumindest teilweise) beherrschbar wird. Dies erfordert dann sowohl im Alltag der Akteure als auch auf gesundheitsökonomischer Ebene Mechanismen der risikopolitischen bzw. gesundheitspolitischen Steuerung.
Die Differenz von Steuerung und tatsächlichem praktischen Geschehen kann durch gesundheitssoziologische Forschung aufgezeigt und korrigiert werden. So deutet aus Sicht der EC vieles darauf hin, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass Menschen neuen politischen Gesundheitsinterventionen einfach Folge leisten. Sie müssen diese an ihre Lebenssituationen anpassen, uminterpretieren und Spannungen, die sich daraus ergeben können, selbst aushalten oder ausgleichen. In Zeiten von Corona wird dies sehr deutlich, wenn Menschen gesundheitspolitische Maßnahmen wie beispielsweise eine Maskenpflicht nicht einhalten können oder wollen. Ein Widerstand gegen diese Maßnahme kann aufgrund von Vorerkrankungen, einem Verlust von persönlichem Wohlbefinden oder auch aus dem Gefühl einer politischen Bevormundung heraus erwachsen. Entsteht dadurch ein zu großer Widerstand in der Bevölkerung, können Maßnahmen scheitern oder nicht intendierte Nebenfolgen haben. Die in diesem Sammelband aufgezeigten Unterschiede zwischen den Regimen des Engagements und der Qualitätskonventionen können hierbei hilfreiche Punkte aufzeigen, um mögliche Brüche und Widerstände der gegen Covid-19 empfohlenen und umgesetzten Sicherheitsdispositive zu erklären.
14.1.1 Gesundheitspraktiken zwischen Regimen des Engagements und Rechtfertigungsordnungen
Die Covid-19-Pandemie stellt zu allererst einmal die Frage nach der Reichweite von Gesundheit. Denn schon allein die Verwendung des Begriffes Pandemie weist auf eine Krankheit hin, die im ganzen Volk verbreitet existiert. Dieses aktuelle Ereignis der Pandemie lässt sich sehr gut heranziehen, um eine der zentralen Argumentationslinien des Sammelbands zu illustrieren. Es geht um die Wechselwirkungen zwischen den Regimen des Engagements und den Qualitätskonventionen, die in Beiträgen thematisiert wurden. Die Auswirkungen der Pandemie führen einerseits dazu, dass auf einer kollektiven Ebene die Gesundheit des Volkes verhandelt wird und zum Schutz aller, aber besonders für gesundheitlich gefährdete Menschen, die staatsbürgerliche Konvention mobilisiert wird. Dies erfolgt teilweise auch unter Androhung staatlicher Sanktionen wie beispielsweise Geldstrafen bei Nichtbefolgung erlassener Corona-Schutzmaßnahmen. Auf der anderen Seite werden während der Covid-19-Pandemie auch individuelle Gesundheiten thematisiert, indem individuelle Praktiken, die normalerweise privaten Regimen des Engagements unterliegen öffentlich diskutiert werden. Solche Diskussionen erstrecken sich beispielsweise über Themen der Ernährung, der körperlichen Fitness oder über Aktivitäten an der frischen Luft. Ergänzt werden diese Diskussionen dann um Handlungsempfehlungen, wie während der Bewegungseinschränkungen die körperliche und mentale Gesundheit gefördert werden kann. Dieses Spannungsfeld zwischen Gesundheit als individuellem vs. kollektivem Anliegen thematisieren Bartelmeß und Godemann in ihrem Statement:
Dadurch können vielfältige Spannungen und Konflikte entstehen: Alltags- und Gesundheitspraktiken ändern sich mit dem Auftreten der Covid-19-Pandemie; das Gefüge der Rechtfertigungsordnungen verschiebt sich – zumindest zeitweise – hin zu einer stärkeren Rolle der staatsbürgerlichen Konvention. Dadurch verändert sich das Verhältnis von Regimen des Engagements und Qualitätskonventionen, da Situationen durch das Auftauchen von Covid-19 plötzlich rechtfertigungsnötig werden und sich wiederum andere Situationen einer Rechtfertigung entziehen. Essen und Sich-Fit-Halten werden dann zu öffentlichen Praktiken, da sie im Covid-19-Zusammenhang dazu dienen, „für die Gesellschaft“ gesund zu bleiben und die Krankenhauskapazitäten nicht zu belasten. Gleichzeitig können diese Praktiken jedoch nicht mehr „in Gesellschaft“ ausgeführt werden, also beispielsweise im Restaurant, im Verein oder Sportstudio, sondern sind zumindest physisch auf das häusliche Umfeld begrenzt, wenn auch mit potenzieller virtueller Übermittlung. Durch die neu konfigurierte Situation wird zudem teilweise das Regime des Handelns im Vertrauten regelrecht ausgehebelt. Dies geschieht durch öffentliche Empfehlungen zur privaten Lebensführung, die bewirken sollen das Regime des Vertrauten durch das Regime des planenden Handelns zu ersetzen, um einen planbaren und geregelten Lebensalltag zu garantieren. Diese Verschiebungen erfolgen nicht ohne Spannungen und Konflikte, die sich gerade an öffentlichen Debatten um die Legitimität von staatlichen Corona-Sanktionen oder des Denunzantentums zeigen. Diese Regime- und Konventionenverschiebungen betreffen dann vor allem gewohnte Gesundheitspraktiken, die sich beispielsweise neu in einen virtuellen Raum verschieben, wie von Scaria-Braunstein und Hiden wie folgt reflektiert:
14.1.2 Kritik an Messkonventionen
Es werden jedoch nicht nur Gesundheitspraktiken, sondern vor allem auch Daten- und Messpraktiken verhandelt und somit die Frage der Forminvestition gestellt: Allgemein ist die „richtige“ Messung und Berechnung von (normaler) Gesundheit stark hinterfragt, da für den Einzelnen Durchschnittswerte beispielsweise wenig Aussagekraft haben können und deshalb gerade viele SelbstvermesserInnen auf die Formel N = 1 schwören.
2 Bei der Messung kollektiver Gesundheit ist dies nicht anders. Welche Kategorien, welche Berechnungsweise, welche Zahlen, welche Darstellungsweise sind beispielsweise angemessenen, um die Covid-19-Pandemie zu analysieren und zu verstehen?
Und da Covid-19 auf allen Kommunikationskanälen als Risiko – und somit berechenbar – dargestellt wird, werden die dazugehörigen Messkonventionen öffentlich diskutiert. Anfang 2020 hätte fast niemand etwas mit der Reproduktionszahl R oder einer logarithmischen Skala anfangen können. Kurze Zeit darauf und nach einer Reihe von abendlichen Brennpunkten im Fernsehen, unzähligen Pressekonferenzen und Zeitungsartikeln um den Slogan „Flatten the Curve“ waren Diskussionen um die Berechnung der statistischen Werte der Kurve auf vielen gesellschaftlichen Ebenen weit verbreitet. So gab es auf der einen Seite, der industriellen Logik folgend, Aushandlungsprozesse über die „richtigen“ Zahlen, sei es in der von Diaz-Bone angesprochenen Diskussion oder in der Frage der „richtigen“ Zählung von Corona-Toten. Auf der anderen Seite wurden diese Zahlen jedoch hauptsächlich in politisch-öffentlichen Diskursen verwendet, um über dieses Expertenwissen das Risiko berechenbar zu machen und damit regulative Maßnahmen zu rechtfertigen. Damit sollten – gemäß der Konvention der Meinung – Zustimmung und Akzeptanz für die Corona-Maßnahmen erreicht werden. Ein Teil dieser Debatte wurde dann auch die Diskussion um die Einführung einer Tracing-App zur Nachverfolgung der Infektionsfälle. Den damit verbundenen Umgang mit digitalen Gesundheitsdaten in einer politischen Ökonomie der Gesundheit sowie im privaten Alltag verhandelt Cappel in ihrer Reflektion:
14.1.3 Die Rolle der „neuen“ Experten
Gerade das (naturwissenschaftliche und medizinische) Expertenwissen ist in der Covid-19-Pandemie sehr gefragt, wobei sich nach einigen Wochen ein klares Spannungsfeld zwischen „Expertokratie“ und der „Autonomie des Politischen“ zeigt (Reckwitz
2020). Peter Streckeisen reflektiert dazu in seinem Statement, wie gerade die Ökonomie in diesem Spannungsfeld als Stütze zur Generierung von medizinischem und politischem Expertenwissen herangezogen wird:
Die Bedeutung von ExpertInnen in Krisensituationen ist nicht per se überraschend, da die Risikogesellschaft sich ja gerade durch einen permanenten Austausch mit (der) Wissen(schaft) auszeichnet. Die sich abzeichnende Dominanz, wenn nicht sogar Hegemonie der Naturwissenschaften zeigt sich nicht nur in der Covid-19-Pandemie, sondern auch in anderen Krisen, wie beispielsweise der Klimakrise. Hirschis Ausführungen zur Expertenindustrie (Hirschi
2018), die sich eben auch gerade durch den Zwiespalt zwischen „Expertenkult der jüngeren Vergangenheit“ und „Expertenschelte der Gegenwart“ (Hirschi
2018, S. 13) charakterisiert, zeigt sich nach wenigen Wochen des Expertenkultes anschaulich an der Anzweiflung und Diskreditierung wissenschaftlicher Expertise und ExpertInnen (vgl. Dorsten vs. Bild
3 oder #OriolContraGoliat alias Mitjà vs. La Vanguardia/El País
4). In Streitgesprächen, Talkshows, etc. wird zudem regelmäßig der Streit über Zielkonflikte oder eben der Expertokratie vs. der politischen Entscheidung durch den Einsatz unterschiedlicher „ExpertInnen“ inszeniert. So müssen die VirologInnen immer wieder betonen, dass sie eben nur VirologInnen seien und keine PolitikerInnen. Geladene Wirtschaftsakteure argumentieren hingegen nach der Marktlogik. Die bürgerliche Konvention in der Diskussion kommt dann zum Tragen, wenn gefragt wird, wer denn nun schützenswert sei oder ob sich alle einschränken müssten, damit die Risikogruppen geschützt werden. Oder ist die Erlangung einer Herdenimmunität die vermeintlich richtige Strategie? Also gerade der Krisenmodus während der Covid-19-Pandemie zeigt anschaulich und kondensiert das (teilweise inszenierte) Aufeinanderprallen der pluralen Rechtfertigungsordnungen.
14.2 Digitalisierung unter Covid-19
Viele Widerstände, die noch bis Februar 2020 gegenüber der Digitalisierung vorgebracht wurden bzw. existierten, gehören mit der Schließung vieler gesellschaftlicher Bereiche und deren ungeplanter digitaler Transformation der Vergangenheit an. So musste ein großer Teil von Schule, universitärer Bildung, Arbeit oder Kultur in den digitalen Raum umziehen, ohne dabei jedoch wirklich Inhalte, wie Formulare oder Infrastrukturen aber auch Netzwerkkontakte, und Praktiken ins digitale Format mit übertragen zu können. Dies zeigt sich beispielsweise in der Unterscheidung zwischen „remote teaching“ (d. h. Fernunterricht) und „digital teaching“ (d. h. digitaler Unterricht).
5
Diese digitale Transformation stärkt dabei in weiten Teilen auch die Plattformisierung.
6 Digitale Plattformen haben zuvor schon schleichend, aber mit Covid-19 plötzlich eine zentrale Rolle in fast allen Lebensbereichen bekommen, da unterschiedlichste (Alltags-)Praktiken aufgrund von Quarantänemaßnahmen und der Norm „Wir bleiben zu Hause“ auf wenigen digitalen Plattformen und sozialen Netzwerken gebündelt werden. Homeoffice, Geschäftsbesprechungen, Homeschooling, Sportaktivitäten, Musizieren, digitale Treffen mit Familienmitgliedern oder Freunden, Arztgespräche und vieles mehr finden online über Videokonferenzplattformen statt. Dies geht einher mit einer Stärkung der Projektkonvention, da zumindest in digitaler Form Aktivitäten sprunghaft ansteigen, eine permanente (digitale) Verfügbarkeit neu verhandelt wird und wenige Plattformen auf einen Schlag Intermediäre für unterschiedlichste Projekte und Praktiken werden. Wenn sich mehrere Menschen wie beispielsweise Familienmitglieder dann Endgeräte wie Laptops oder Tablets teilen müssen, wird das Netzwerk an Aktivitäten, Kontakten und Plattformen schnell sehr komplex.
Aus einer konventionentheoretischen Perspektive lassen sich gerade solche neu etablierten Kommunikationstechnologien und -kanäle als Dispositive der Erreichbarkeitsmachung verstehen. Solche Dispositive können dadurch entstehen, dass eine Vielzahl von unterschiedlichen Aktivitäten und Kommunikationsvorgängen nun nur noch über wenige dominierende Kommunikationstechnologien abläuft. Dadurch unterliegen die unterschiedlichen Aktivitäten und Kommunikationsformen den sozio-technischen und konventionellen Strukturierungsmechanismen der dominierenden Technologien. So läuft beispielsweise ein Team-Chat parallel zu Zoom-Meetings, der Bearbeitung von Mails und der Vorbereitung von AdobeConnect-Lehrformaten. Gleichzeitig können aufgrund paralleler Kinderbetreuung im gleichen Raum FaceTime-Unterricht stattfinden, Lern-Apps verwendet oder AmazonPrime-Hörspiele gehört werden. Solche multiplen Aktivitäten, die vorher zeitlich und räumlich getrennt stattgefunden haben, werden durch die angeführten Digitalisierungsprozesse stärker miteinander koordiniert und in unterschiedlichen Arrangements miteinander gekoppelt. Dabei sind es dann in erster Linie die dominierenden Technologien, die als Dispositive die Verbindung zwischen realen und virtuellen Räumen neu strukturieren. Routinehandlungen und die persönliche Alltagsplanung sind dann weniger das Ergebnis von individueller Autonomie, sondern werden zusätzlich durch institutionalisierte Technologien strukturiert. Mit den Worten der EC bedeutet dies, dass im eigenen Wohnraum und Lebensvollzug die Regime des Vertrauten und des Handelns im Plan zurückgedrängt werden und sich stattdessen kollektive Koordinationsformen im Privaten etablieren. Anleitend ist dabei die stark ausgeprägte Projektkonvention des Berufsalltags, die durch die Technologien und die neue Vermischung der virtuellen und lokalen Räume auch auf viele nicht-berufliche Aktivitäten zu Hause übertragen wird. Dieser soziale Nebeneffekt der Covid-19-Pandemie kann sich schnell durch Unzufriedenheit und dem Gefühl des Verlusts an Autonomie bemerkbar machen.
14.2.1 Rolle von digitalen Plattformen
Digitale Plattformen können in der Covid-19-Pandemie eine neue Rolle von Dispositiven einnehmen und den Alltag der Menschen dadurch neu strukturieren. Darüber hinaus können sie aber auch selbst von der Pandemie in der Weise betroffen sein, dass sich ihre Inhalte oder Funktionsweisen verändern. Dies ist insbesondere, aber nicht nur, bei sozialen Plattformen der Fall, da sie in Form eines Zerrspiegels der Gesellschaft immer auch selbst von gesellschaftlichen Wandlungsprozessen betroffen sind. Ramon Reichert reflektiert diese medialen und gesellschaftlichen Verschiebungen bedingt durch die Covid-19 Pandemie aus einer medientheoretischen Sicht wie folgt:
Covid-19-Reflektion von Reichert (vgl. Kap.
8 Picturing Food. Zum Verhältnis von situativer Health Literacy und subjektiver Selbstinszenierung auf Instagram)
Während der Lock-down-Beschränkungen der Corona-Krise gab es kein öffentliches Essen mehr, das man auf Instagram teilen konnte. Auf Instagram hat man das Kochen und Essen innerhalb der Familie affirmativ inszeniert. Die Medialisierung des Essens hat sich erhalten und wurde tradiert. Was bedeutet aber Covid-19 für die Medienlandschaft der Sozialen Medien und Online-Plattformen in der nahen Zukunft?
In der Gesundheitsinformation und Quarantänepolitik von Covid-19 spielen Push-Medien eine große Rolle. Damit werden Medienformate in Form von Apps, Werbung, Abonnements oder Newsletter bezeichnet, die NutzerInnen zugestellt werden, ohne dass diese die Inhalte eigens anfordern.
Push-Inhalte und ihre Parameter können von den Empfängern nicht verändert werden, d. h. Empfänger können die Inhalte selbst nicht ändern, sondern diese gegebenenfalls in einem Menü auswählen. Die Informationen vom Sender zum Empfänger der Nachricht verlaufen unidirektional und der Empfänger verfügt oft über kein Mittel, dem Sender direkt ein Feedback über den gesendeten Inhalt zu geben. Die Schwierigkeit, wissenschaftliche Fakten von unverlässlichen Informationen zu trennen, wird durch die Geschwindigkeit der Ereignisse verschärft. In einer Welt polarisierenden Misstrauens spielen auch im Internet verbreitete Fake-News, Pranks oder Troll-Content, die den Planeten in Mikrosekunden umrunden, eine große Rolle bei der Neubewertung der Sozialen Medien. Während sich das Coronavirus weiterverbreitet, können die Auswirkungen dieser Fehlinformationen verheerend sein. Vor diesem Hintergrund versuchen staatliche Akteure die Kommunikationskultur der Sozialen Medien pauschal zu diskreditieren, um aus dem Seriositätsgebot der Stunde Profit zu schlagen. Soziale Medien gelten in autoritären Staaten, die massive Medienzensur ausüben, als Freiheitstechnologien. Auf Facebook, Instagram und Twitter kann z. B. die Verschleierung und bewusste Fehlinformation der Ausmaße von Covid-19 durch die Regierungen thematisiert werden. Dieses Beispiel zeigt, dass Soziale Medien der Zivilgesellschaft als alternative Informationskanäle genutzt werden. Wer sie abschaffen möchte, zerstört auch Meinungsvielfalt und Rezeptionsfreiheit.
Denn Push-Medien und Push-Inhalte verlaufen wie klassische Medieninhalte unidirektional und weisen keine Möglichkeit auf, die einzelnen NutzerInnen wiederum zu Sendern werden zu lassen. Medien im Ausnahmezustand sind gouvernementale Push-Medien, die adressieren, überwachen und regulieren, ohne dass ihren NutzerInnen die Möglichkeit zur Beteiligung und Mitgestaltung eingeräumt wird. Die digitale Zukunft nach Covid-19 beginnt jetzt und ist nicht nur eine „notwendige Maßnahme“, sondern auch diskursoffen und veränderbar.
Digitale Plattformen spielen folglich auch eine zentrale Rolle in der Ermächtigung von Akteuren, für die Generierung von Wissen und Nicht-Wissen. Aus konventionentheoretischer Sicht wäre dabei interessant zu untersuchen, wie (legitimes) Wissen produziert wird und in welchen Rechtfertigungsordnungen dieses dann an Bedeutung gewinnen kann. Denn Wissen, das in einer wissenschaftlich industriellen und standardisierten Form entsteht, ist nicht vergleichbar mit Mehrheitsmeinungen in der Konvention der Meinung oder mit inspirierten Geniestreichen in der Konvention der Inspiration. So wäre es interessant, die aktuellen Debatten zu Medienmanipulation, Fake News und Verschwörungstheorien unter dem Blickwinkel der EC zu betrachten. Die Legitimation von Massenmedien und deren Verankerung in der industriellen und marktwirtschaftlichen Logik steht in Spannung mit dem neueren Phänomen der „mass self communication“ (Castells
2009) und deren Legitimation aus der Meinungs- bzw. staatsbürgerlichen Konvention heraus sowie der Rolle der Konvention des Hauses in Form der „Mund-zu-Mund-Propaganda“. Die Diskussionen um die Gewinnung und Gültigkeit von Wissen, rund um die Covid-19-Pandemie, verdeutlichen, dass dieses erst anhand einer bestimmten Logik generiert und legitimiert werden kann und muss. Dass dafür unterschiedliche Rechtfertigungslogiken relevant und legitim sein können, zeigen die unterschiedlichen Diskussionsstandpunkte der Debatten eindrücklich auf.
Im Umgang mit der Covid-19-Pandemie wurden besonders neue Technologien und wissenschaftliche Formate herangezogen, um mit den neuen Herausforderungen umzugehen. Dass mit diesen Technologien und Formaten allerdings auch ganz spezifische Weltsichten, implementierte Anweisungen zu Koordinationsvorgängen und unmittelbar daran anschließende Konsequenzen für Menschen und Organisationsprozessen verbunden sind, rückt in Anbetracht einer solchen Krise zunächst in den Hintergrund. Trotzdem müssen sich Akteure mit diesen neuen technischen Dispositiven, die plötzlich Teil ihrer Lebenswirklichkeit werden können, arrangieren. Mit der konventionentheoretischen Analyse von Forminvestitionen, Intermediären und Dispositiven haben sich einige AutorInnen in ihren Beiträgen und Reflektionen gerade mit diesen Aspekten auseinandergesetzt. Dies beispielsweise, wenn sie Apps zur Nachverfolgung von Corona-Infektionen oder ganz allgemein nationale Digitalisierungsstrategien zum Thema gemacht haben:
Mit der EC-Perspektive rücken dann nicht nur die Auswirkungen wie die Vor- und Nachteile von neuen Technologien in den Fokus, sondern stärker noch die Frage nach der Rolle von Dispositiven, Intermediären und Forminvestition bei der Herstellung von Wertigkeiten. Gerade Digitalisierungstechnologien können nicht einfach nur als neutrale Hilfsinstrumente verstanden werden, sondern müssen auch in ihrer strukturgebenden Form betrachtet werden. Als materielle Dispositive oder Intermediäre formen sie Wirklichkeit immer auch in einer wertenden Weise, indem sie strukturierend und selektierend auf Handlungskoordinationen einwirken. Mit Blick auf Corona lässt sich dann beispielsweise fragen, ob die Digitalisierung im Sinne einer Effizienzsteigerung, d. h. einer industriellen Logik, erfolgt oder ob diese beispielsweise auch der Stärkung von Bürgerrechten dienen kann.
Die Reflektion von Reichert zeigt beispielsweise, dass eine Technologie wie eine Tracking- oder Tracing-App zur Nachverfolgung von Corona-Infektionen auch als ein Sicherheitsdispositiv im Sinne Foucaults fungieren und damit in die Kritik geraten kann. Eine solche App kann dann über den Legitimierungsversuch der Gewährleistung von Sicherheit in immer weitere Lebensbereiche eingreifen, indem sie neue Kontroll-, Überwachungs-, Regulierungs- und Normalisierungstechniken einführt (Foucault
2004, S. 73). Mit der Perspektive der EC wird deutlich, dass diesem Sicherheitsdispositiv eine industrielle Konvention zugrunde liegt, die sich insbesondere aus einer staatsbürgerlichen Konvention, aber auch aus dem Regime des Vertrauten kritisieren lässt. Dies ist dann der Fall, wenn Personen die Nutzung einer solchen App aufgrund des zu starken Eingriffs in die Privatsphäre und individuelle Freiheitsrechte ablehnen. Daran wird deutlich, wie wichtig es ist, sich auch mit den zugrunde liegenden Rechtfertigungsordnungen einer Technologie auseinanderzusetzen und damit auch ihren Einsatz vor dem Hintergrund pluraler Moralordnungen reflektieren zu können.
An den Beiträgen zu Selbstvermessung in diesem Sammelband kann zudem gesehen werden, dass die Akzeptanz von Selbstvermessungspraktiken durchaus schwierig sein kann und Widerstände – sowohl materieller als auch akteursbezogener Art – omnipräsent sind. Auch wenn die Technologien als Dispositive, Intermediäre oder Forminvestitionen eingeführt werden, stellt sich letztlich immer auch auf einer praktischen Ebene die Frage, wie Akteure mit diesen umgehen. Gerade die EC spricht in ihrem theoretischen und methodischen Ansatz Akteuren eine gewisse Form von Handlungskompetenz zu, die sich darin äußert, dass Akteure in der Lage sind, Konventionslogiken zu erkennen und auch zu kritisieren. Darüber hinaus sind sie dadurch auch in der Lage, sich technologischen Klassifizierungen widersetzen zu können. Desrosières (
2015) führt in diesem Zusammenhang das Konzept der Retroaktion ein. So können sich Akteure situationsspezifisch auf unterschiedliche Konventionen stützen oder zur Ausformulierung von Kritik heranziehen. Dies erklärt dann auch, warum und wie sie sich neuen Selbstvermessungstechnologien, wie einer Tracing-App, widersetzen oder diese auch anders interpretieren können. Neben neuen Technologien wie Plattformen bieten gerade Selbstvermessungs- und Tracing-Apps ein besonders spannendes Untersuchungsfeld für die EC, weil sie an der Schnittstelle zwischen Regimen des Engagements und Rechtfertigungsordnungen liegen. Mit der genauen Analyse der zugrunde liegenden Konventionen einer Technologie, eines Dispositivs oder eines Intermediärs und der Analyse der relevanten Konventionen der Lebenswirklichkeit von Akteuren kann dann systematisch aufgezeigt werden, welche Wirkung diese entfalten können. Somit wird deutlich, warum eine Technologie erfolgreich zum Einsatz kommt oder ein Dispositiv seine Wirkung entfalten kann und wann dies warum nicht der Fall ist.
14.3 Konventionen unter Covid-19
Wie schon in den vorangegangenen Abschnitten mehrfach angedeutet, hat die Covid-19-Pandemie die Aushandlungsprozesse und Konflikte in der politischen Gesundheitsökonomie teilweise verändert und vor allem präsent in die Öffentlichkeit gebracht. Es wird offen über Fallzahlen, Krankenhauspauschalen, Belegungskapazitäten, Auslastungsquotienten, Prekarisierung von Gesundheitsberufen, Risikogruppen, Systemrelevanz, Schutzmaßnahmen und die dahinterliegenden Zielkonflikte diskutiert. Mit solchen Aushandlungsprozessen und Zielkonflikten sind immer auch Fragen der sozialen Ungleichheit verbunden, die teilweise durch die Covid-19-Pandemie verschärft werden und damit besonders deutlich hervortreten. Die EC bietet mit ihrer konventionentheoretischen Perspektive die Möglichkeit, neben der Analyse von sozialer Ungleichheit auch das Konzept der sozialen Ungleichheit selbst zu reflektieren. Durch die Annahme einer Pluralität von moralischen Ordnungen lässt sich nämlich auch die Frage neu stellen, was warum als soziale Ungleichheit verstanden und problematisiert werden kann. Da gerade im Feld der Gesundheit Praktiken, Leitlinien und institutionelle Settings eng an moralische Vorstellungen geknüpft sind, bietet sich die EC hier zur Analyse und Reflektion besonders gut an.
14.3.1 Zielkonflikte im Feld der Gesundheit
Aus der Perspektive der EC ist davon auszugehen, dass sich aktuelle Diskurse, Regelungen, Standards und Koordinationsweisen rund um Gesundheit und die daran geknüpften Bewertungen immer auf ein bestimmtes Gefüge gültiger und etablierter Konventionen stützt. Dass sich ein solches Gefüge aber auch wieder verändern kann und damit zum einen bisherige Ansichtsweisen, Bewertungsmechanismen und Handlungspraktiken infrage gestellt und zum anderen neue eingeführt werden können, zeigt die Covid-19-Pandemie eindrücklich auf. Dadurch dass sie sich als externes Ereignis weltweit unmittelbar auf gesellschaftliche, insbesondere gesundheitliche Organisationsprozesse auswirkt, bietet sie eine gute Möglichkeit das Konventionengefüge im Gesundheitsfeld und seine Veränderung zu reflektieren. Auf diese (mittelfristige) Verschiebung von Zielkonflikten weist Gonon in ihrer Reflektion hin:
Hiermit spricht Gonon eine Form der sozialen Ungleichheit und Benachteiligung durch die Covid-19-Pandemie an, die sich insbesondere auf die Marktkonvention und die bürgerliche Konvention stützt und damit einen Zielkonflikt zwischen dem Angebot und der Nachfrage von vollumfänglicher Arbeitskraft und dem Schutz von Menschenwürde und gesundheitlicher Unversehrtheit erzeugt. Solche aktuellen Fragen der Prekarisierung und (Un-)Gerechtigkeit adressiert auch Kappler mit einer konventionentheoretischen Perspektive in ihrem Statement:
Sowohl die Ausführungen von Gonon als auch von Kappler verdeutlichen die Rolle unterschiedlicher Wertsetzungen im Feld der Gesundheit, wenn es um die Entstehung und Veränderung sozialer Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten geht. Gerade die Covid-19-Pandemie zeigt eindrücklich, dass Gesundheit nicht getrennt von gesellschaftlichen Strukturierungsprozessen gesehen werden kann. Folglich ist dann auch davon auszugehen, dass soziale Ungleichheiten, die schon vor Covid-19 bestanden haben, durch diese Pandemie noch weiter verstärkt werden. Was die beiden Autorinnen in ihren Statements aber ergänzend durch die konventionentheoretische Perspektive aufzeigen können, ist, dass Gesundheit und die damit verbundenen Ungerechtigkeiten immer auch das Ergebnis von plural und sozial konstruierten Zuschreibungen von pluralen Wertigkeiten sind. Die EC bietet sich in diesem Sinne als „neue“ Theorieperspektive bei Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen an, um bestehende Ansätze zur Analyse sozialer Ungleichheit und Differenzierung zu kontrastieren und zu ergänzen und somit alternative Blickwinkel zu öffnen.
14.3.2 Infragestellung der politischen Ökonomie des Gesundheitswesens
„Eine politische Ökonomie der (digitalen) Transformationsprozesse von und um Gesundheit“ lautet die Unterüberschrift dieses Sammelbandes. Gemeint sind damit bestehende Koordinationslogiken im Feld der Gesundheit ebenso wie die Verhandlungen rund um die Zuschreibung, Legitimation und Kritik von Wertigkeiten von Gesundheit vor dem Hintergrund neuer Digitalisierungsprozesse. Mit der Covid-19-Pandemie hat die politische Ökonomie des Gesundheitswesens ganz überraschend einen rasanten Umbruch in ihrer etablierten Form erfahren. Den AutorInnen des Sammelbands, hat dieses überraschende Ereignis ermöglicht, ihre in den Beiträgen dargestellten Ergebnisse auf anschauliche Art zu und Weise zu reflektieren und zu bestätigen:
Diese Spannungen, die die AutorInnen in ihrer Studie zu den „Digitalen Heilsversprechen in Gesundheitsberufen“ dargestellt haben, zeigen sich bei Aushandlungsprozessen zwischen der Industriekonvention (bezogen auf die Grundorientierung an Effizienz) und den Fragen nach Gleichheit im Gesundheitssystem (in Anlehnung an die bürgerliche Konvention) und der Orientierung an den Bedürfnissen von PatientInnen (stärker ausgerichtet an einer Konvention des Hauses). Wohin diese Spannungen bzw. die starke Konzentration auf wenige dominante Rechtfertigungsordnungen im Gesundheitsfeld führen können, zeigen insbesondere die folgenden Reflektionen auf:
Diese Reflektion zur Gesundheitsökonomie in Krankenhäusern in der Schweiz zeigt die Folge auf, die im Sammelband mehrfach von Diaz-Bone, Cappel, Noji/Kappler/Vormbusch aber auch Streckeisen (in Anlehnung an (Batifoulier et al.
2011; Da Silva
2018)) untersucht wird: Es handelt sich dabei um die Ausweitung der Industriekonvention, die durch die Einführung von Standardisierungsprozessen und ihrer Ausrichtung auf Effizienz erst eine „Merkantilisierung“ (Da Silva
2018) bzw. eine Orientierung hin zur Marktkonvention ermöglicht hat.
Solche „Sparmaßnahmen“ weisen direkt auf diese Konzentration von Industrie- und Marktkonvention in den letzten Jahrzehnten hin. Mit einer Belastungsprobe wie der aktuellen pandemischen Krise werden die Legitimationsgrundlagen dieser Entwicklung allerdings stark auf die Probe gestellt und anfällig für Kritik. Somit stellt die EC sich als aussagekräftiges Theorie- und Analyseinstrument dar, um (nicht nur aber auch) aktuelle Fragen der Gesundheitsökonomie zu beleuchten und Antworten vorzuschlagen.
In diesem Sinne lassen sich beispielsweise Forderungen nach einer „Bürgerversicherung“, die Infragestellung von an Fallzahlen und Gewinnen ausgerichtete Krankenhäuser, die Privatisierung von Gesundheitsleistungen, der Betreuungsschlüssel oder die Bedarfserhebung der einzelnen PatientInnen mithilfe der konventionentheoretischen Rechtfertigungsordnungen analysieren. Dadurch werden die dahinterliegenden Gerechtigkeitsvorstellungen, Rechtfertigungsmuster sowie Handlungslogiken deutlich und erleichtern somit – auf Basis dieses Wissens – eine informierte Entscheidung treffen zu können. Diaz-Bone geht in diesem Zusammenhang in seiner Reflektion auch nochmals auf die Wechselwirkungen mit den Regimen des Engagements ein, die im Kern der Maßnahmen zur Covid-19 Eindämmung stehen:
14.4 Ausblick
Mit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie wurden viele gesellschaftliche Bereiche weltweit stillgelegt. Somit wurde innerhalb von wenigen Tagen eine komplett neue Konstellation und Realität an Rechtfertigungsordnungen geschaffen. Koordinationssituationen, die vorher größtenteils an einer Industrie- und Marktkonvention ausgerichtet waren (Geschäfte, Märkte, Produktionszweige, aber auch Bildungseinrichtungen), wurden kurzerhand zum Wohl der Bevölkerung einer bürgerlichen Konvention unterstellt. Dass eine solche Veränderung eines Koordinationsgefüges nicht einfach staatlich verordnet werden kann, zeigen die Diskussionen, Nachjustierungen und Umgangsweisen mit den Maßnahmen rund um Corona. Diese beziehen sich auf Praktiken, die im persönlichen Umfeld und im individuellen Lebensalltag stattfinden. Das heißt, um auf dieser Ebene kollektive Veränderungen bewirken zu können, muss es gelingen, Akteure im Regime des Vertrauten zu erreichen und ihre Handlungen dort in gewollter Form zu mobilisieren. So ist eine Übersetzungsleistung von staatlichen Maßnahmen in vertrauenswürdige Alltagspraktiken zu leisten. Ein Staat muss sich demnach dem Kommunikationsformat des Regimes im Vertrauten unterordnen und solche neuen Maßnahmen nicht im Sinne einer industriellen Konvention erzwingen, sondern darauf vertrauen, dass sich Bürger daran halten. Gerade die Kontrolle und Regulierung von Praktiken, die als Teil der persönlichen Lebenswirklichkeit verstanden werden, lassen sich in einer demokratischen Gesellschaft nur sehr schwer umsetzen und stoßen auf großen Widerstand. Die Regierung stand und steht damit vor der Herausforderung mit ihren Maßnahmen einerseits ein gesellschaftliches und öffentliches Leben aufrecht zu erhalten (Marktkonvention, bürgerliche Konvention, industrielle Konvention, Konvention der Inspiration), andererseits diese Maßnahmen aber so auszugestalten, dass sie in einem Regime des Vertrauten funktionieren können.
Über die Wandlungsprozesse der Konventionengefüge hinaus, hat Covid-19 aber vor allem die Tendenz weiter verschärft, soziale Kommunikations-, Arbeits- und Lebensräume stärker auf digitale Plattformen zu verschieben und somit die Digitalisierung der Gesellschaft zu beschleunigen. Durch soziale und physische Distanzierung, die Schließung von Bildungseinrichtungen, Geschäften, kulturellen Institutionen und vielem mehr sowie durch die Abschottung von Ländern auf der ganzen Welt wird ein Großteil der sozialen und wirtschaftlichen Aktivitäten, die bis Januar/Februar 2020 noch „offline“ stattfanden, für einige Wochen in die virtuelle Sphäre verschoben. Die Menschen sind für Arbeit, Gemeinschaft und soziale Interaktion zunehmend auf Internetdienste angewiesen. Die Folgen für (Ver)Gemeinschaft(ung), Solidarität und Zusammenleben lassen sich hier noch nicht abschätzen. Die Soziologie der Konventionen erscheint jedoch als angemessener Analyseansatz, um die sich ergebenden Verschiebungen, Spannungen und Konflikte zu untersuchen. Wie einige AutorInnen in ihren Beiträgen und Reflektionen aufgezeigt haben, führen sowohl die Digitalisierung des Gesundheitsfeldes als auch die neuesten Veränderungsprozesse durch die Covid-19-Pandemie zu einer Reorganisation der Konstellation der Rechtfertigungsordnungen und der Regime des Engagements. Diese Veränderungen der Regime des Engagements und der Rechtfertigungsordnungen schaffen somit eine neue Perspektive für Kontingenzen, da Selbstverständliches, eingefahrene Praktiken im Alltag und Unhinterfragtes sich plötzlich ändern und somit auch anders denkbar werden. Dies beschleunigt unter anderem auch die Aushandlungsprozesse im Gesundheitsfeld und zeigt deutlich existierende und sich abzeichnende Konflikte auf, deren Analyse in diesem Sammelband eine zentrale Rolle gespielt haben. Die Privatisierung öffentlicher Räume und Belange, eine monopolisierte Digitalisierung auf wenige zentrale Anbieter und Plattformen, das Verhältnis von Staat, Markt und Menschen sowie Fragen der Individualisierung vs. Solidarisierung stehen plötzlich zur Diskussion angesichts von Hilfspaketen (im Kleinen und Großen), des sogenannten metaphorischen „Wiederhochfahrens“. So stellt sich im Gesundheitsfeld die Frage, ob dieses weiterhin im Sinne der Industrie- und Marktkonvention an Effizienz- und Kostenkriterien gemessen werden soll oder ob Aspekte der Resilienz, die beispielsweise in der Konvention des Hauses zu finden sind, wieder stärker in den Mittelpunkt rücken.
Die Verschiebung, Neupriorisierung und Diskussion von Rechtfertigungsordnungen rund um Gesundheit öffnet einen nicht geplanten kontingenten Aushandlungsraum. Die Pandemie könnte sowohl zu einer Erneuerung von Gemeinschaft und Solidarität als auch zu einer Steigerung des Individualismus führen. Sie birgt die Gefahr, dass sich nun ein Großteil des sozialen Lebens auf privaten Internetplattformen abspielt. Gleichzeitig werden große Teile des Marktes (oder sogar des Kapitalismus) angesichts einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Gesundheit auf Eis gelegt. Ob und wie sich Regime des Engagements und Rechtfertigungsordnungen nach der Covid-19-Pandemie verschieben werden, sollte dabei nicht nur Untersuchungsgegenstand der Soziologie der Konventionen sein, sondern auch deren Einfluss in der öffentlichen und politischen Diskussion stärken.
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